In Sachsen-Anhalt graben Archäologen eine 4500 Jahre alte Kultstätte aus. Einzelne Pfosten sind ringförmig angelegt und ähneln so dem berühmten Stonehenge-Monument in Südengland. Die ausgegrabenen Knochenreste und Scherben verraten viel über die vergangene Zeit – und machen Anwohner zu Ein-Euro-Archäologen.
Disteln, Staub, jede Menge Himmel, die Luft flimmert, und in der Ferne hocken Menschen. Wie zur Strafe, dass er sonst nichts findet, zerrt der Wind an der Tür, die ins Schloss knallt, um gleich wieder alles preiszugeben, was sie doch verbergen sollte. Wenn jetzt eine Mundharmonika säuselte, wäre der Wilde Westen perfekt. Doch das hier ist nicht Sacramento, das ist Sachsen-Anhalt, und die Tür gehört nicht zu einem Saloon, sondern zu einer Miettoilette. Egal, Goldgräberstimmung liegt in der Luft. Goldgräber? Nein, dieses Wort möchte Grabungsleiter André Spatzier nicht hören, genauso wenig wie das Wort vom "deutschen Stonehenge", das hier gerade ausgegraben werde.
Die Sache mit dem "Stonehenge" klärt sich nach erstem Augenschein von selbst, trotzdem geht Spatzier darauf ein, haben hier doch schon Reisende aus Holland nach den typischen Steinen gefragt. "Wir haben hier halt keine Steine", spricht Spatzier das Offenbare aus. Allerdings kann er nicht auf den Vergleich mit dem rätselhaften Bauwerk in Südengland verzichten. Ist doch das, was hier auf dem Acker bei Pömmelte südöstlich von Magdeburg ausgegraben wird, tatsächlich jener Kultstätte verblüffend ähnlich und damit das erste solcher Monumente auf europäischem Festland. Also Stonehenge ohne Stones? Man kann es wohl nicht anders sagen. Anstatt zu Steinen griffen hier die Baumeister vor etwa 4500 Jahren zu Holzstämmen.
Der Fundort wird ordentlich vermessen, fotografiert und gekennzeichnet
Meistens jedenfalls. "Diesen Stein hat jemand hierher geschleppt", vermutet André Spatzier und zeigt auf einen kiloschweren Brocken zu seinen Fußspitzen. "Vielleicht war das mal eine Mühle? Wenn wir den umdrehen, sehen wir mehr." Wer aber glaubt, Spatzier würde den Stein nun anfassen, kennt Archäologen schlecht. Was über vier Jahrtausende lang in der Erde ruhte, bei dem kommt es auf ein paar Stunden mehr oder weniger nicht mehr an. Der Fundort wird vermessen, fotografiert, beschriftet, gezeichnet.
Nicht zu glauben, was der Acker hier knapp zwei Kilometer von der Elbe entfernt für Geheimnisse birgt. Eigentümer und Pächter haben schnell ihr Einverständnis gegeben, erzählt Spatzier. Immerhin hat der Bauer, anders als die Archäologen, seine Ernte schon in der Scheune. Da, wo Spatzier jetzt steht und wo sein kleiner Trupp, der wirkt wie eine LPG-Brigade, in Erdgruben kniet, darüber ist Ende Juli noch der Mähdrescher gerollt und hat Weizen gedroschen. Gegenwart und Vorgeschichte sind hier so unerwartet verschlungen wie die Gruppe aus Archäologiestudenten, denen die Welt offensteht, und den Ein-Euro-Arbeitern, deren letzte Aussicht eine mehr als leidliche Rente ist.
Weil die prähistorische Sensation nicht so augenfällig ist wie das Fehlen der Steine, bittet Spatzier nun in seine etwas schwankende Geschäftsstelle. Ein Bauwagen ist sein Institutsersatz, die Bananenkisten sind sein Magazin, sein Schäferhundmischling, der seit Stunden regungslos im Schatten vor sich hin döst, sein Pförtner. Was heute schon geborgen wurde, Knochenreste, Scherben, manchmal eine Pfeilspitze, liegt eingetütet und verstaut in Pappkisten. Das Gefährt erinnert eher an die Wagenburgen von Berlin-Kreuzberg als an die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die diese Grabung hier fördert und finanziert.
Als Archäologe ist man braun gebrannt
Und wer André Spatzier anderswo begegnen würde, käme eher auf die Idee, der 32-Jährige sei ein Freund alternativen Lebens. Vom Dasein unter freiem Himmel braun gebrannt, muskulös, mit langem zusammengebundenem Haar, geradezu asketisch, wären da nicht die Ringe in Ohr und Nase, ist Spatzier vom Habitus kein Erbe Heinrich Schliemanns mehr, der sich im Jahr 1868 anschickte, Troja auszugraben. Doch wenigstens im Geiste dürften sie Brüder sein.
Und Pömmelte - ist das das neue Troja? Zumindest Thomas Warnecke hätte nichts dagegen. Warnecke hat sich mit in den Bauwagen gesetzt, ist er doch von den Einheimischen der fleißigste Beobachter. Schließlich ist der breitschultrige 49-Jährige der Bürgermeister, und ein bisschen Werbung hat noch nie geschadet. Das Dorf hat es bisher selten in die Schlagzeilen geschafft. Das letzte Mal war es eher nicht im Sinne der Gemeinde, als im Januar 2006 ein farbiger Junge von fünf Jugendlichen krankenhausreif geprügelt wurde. Eine Woche lang war das 700-Einwohner-Dorf daraufhin von der Presse und von Fernsehteams belagert.
Ein Jahr nach dieser Tat hat Thomas Warnecke in einer Betrachtung für die Homepage des Dorfes das Geschehen noch einmal reflektiert, hat sich über die Gewalt betroffen gezeigt, hat, was den Umgang mit Fremden betrifft, einen Bogen gespannt von den alten Ägyptern bis zur Gegenwart und hat, bei allen Problemen, um Verständnis für sein Dorf geworben. Dann hat er die prophetischen Sätze geschrieben: "Ich hoffe, dass unser Dorf einmal unter anderen Vorzeichen eine solche Aufmerksamkeit erhält, wie das im Laufe des letzten Jahres der Fall war. Obwohl zugegebenermaßen hier nicht so viel Außergewöhnliches passiert." Es scheint, als hätten ihn die Götter erhört.
Raubgräber könnten vieles zerstören
Oder doch zumindest André Spatzier. Die Prophetie des Bürgermeisters büßt zwar ein wenig an Kraft ein, als Spatzier erzählt, dass hier schon das dritte Jahr in Folge gegraben wird - bis vor Kurzem allerdings im Stillen. Man wollte Ergebnisse abwarten und Schatzräuber fernhalten. Auch wenn hier, wie er versichert, weder Gold noch Silber und schon gar keine zweite Himmelsscheibe zu holen sei, die Sensation beschränke sich hier allein auf das Bauwerk. Doch Raubgräber könnten manches zerstören - wie bei der Himmelsscheibe von Nebra geschehen, deren Fundgeschichte einem Krimi gleicht. Und so werde der Ort hier regelmäßig von der Polizei angefahren.
Dann rollt Spatzier doch wie ein Schatzsucher einen Bogen aus, auf dem er den Plan der Anlage gezeichnet hat, so, wie sie bis jetzt zutage getreten ist. Was sich auf den 3500 Quadratmetern draußen nur schwer zeigen will, wird auf dem Papier schnell deutlich: der äußere Pfostenring mit 115 Meter Durchmesser, der Ringgraben, in seiner Sohle Deponierungsgruben, teilweise mit menschlichen Knochenresten darin, Durchbrüche zwischen den Ringen, Stellen, wo die Holzpflöcke gestanden haben, Palisaden, im Südosten Bestattungen.
"Es scheint sich hier um Heiligtümer im engeren Sinne zu handeln", beginnt Spatzier. "Aber was noch? Ein Markt? Ein Gerichtsort?" Ähnlich multifunktional wie eine mittelalterliche Kirche? Gibt es um die Anlage einen rituellen Bezirk? Spatzier zuckt mit den Schultern. Und noch eines: Einen Kilometer von hier haben sie schon den nächsten, jüngeren Rundbau geortet, wohl der Nachfolger. Die Anlage hier wurde vom 23. bis zum 20. Jahrhundert vor Christus genutzt - die Zeitenwende von der Jungsteinzeit zur Bronzezeit, so viel haben die Scherben schon preisgegeben.
Vermutlich schlummern in der Gegend noch weitere Anlagen
Um Bronze zu gießen, bedarf es Kupfer und Zinn. Der Handel damit führte zum kulturellen Austausch, und seine Lage machte Mitteldeutschland schon damals zum Transitgebiet. Vermutlich schlummern ähnliche Anlagen noch in Tschechien, in der Slowakei und in Ungarn im Boden, sagt Spatzier. Seine Zeichnung, den eigentlichen "Schatz", behandelt er auch wie ein Kleinod. Zwar dürfe man die Übersicht betrachten, ablichten jedoch noch nicht. Spatzier will sie so lange vor Kameras hüten, bis alles gesichtet und dokumentiert ist und er seine Doktorarbeit schreibt. Zumindest so viel kann man als Laie kundtun - dem Lageplan von Stonehenge sieht er recht ähnlich. Alles andere wird sich zeigen.
Wie man eigentlich auf Pömmelte aufmerksam geworden sei? Spatzier schaltet seinen Laptop ein. 1991, erzählt er, wurde Ostdeutschland erstmals intensiv aus der Luft erkundet. Zu DDR-Zeiten war diese Methode der Archäologie verboten, weil der DDR der Schutz militärischer Sperrgebiete wichtiger war als die Altertumswissenschaft. Mithilfe der Luftbildarchäologie habe man auch das 7000 Jahre alte "Sonnenobservatorium" von Goseck entdeckt. Auf dem Bildschirm ist jetzt ein Luftbild zu sehen, frisches Grün, darin ein wie mit einem Zirkel gezogener Kreis - der Ringgraben. Nachdem er einst zugeschüttet worden war, führte die andere Bodenzusammensetzung dazu, dass sich der Pflanzenwuchs, insbesondere in der Wachstumsphase, stets von der Umgebung unterschied.
Ein jahrtausendealter Kosmos, verborgen unter heimischen Stoppeln - Bürgermeister Warnecke hat begierig zugehört. Es wäre gut, beginnt er, wenn André Spatzier - wie er es schon einmal getan hat - zum Vortrag in den Gemeindesaal komme. Das Interesse habe nach dem Bericht in der "Volksstimme" gewaltig zugenommen. Vielleicht könne er auch die Kameraden der Feuerwehr über das Gelände führen? Spatzier nickt. Die Popularisierung archäologischer Erkenntnisse liegt im Trend, insbesondere in Sachsen-Anhalt.
Ein regelrechter Boom ist bei der Altertumswissenschaft ausgebrochen
Das vergangene Jahrzehnt hat im Bundesland einen Boom bei der Altertumswissenschaft ausgelöst: 1999 - der Fund der Himmelsscheibe, der weltweit ältesten Himmelsdarstellung. 2005 - die Rekonstruktion die Ringgrabenanlage von Goseck, dem weltweit ältesten "Sonnenobservatorium". 2007 - die Eröffnung des Besucherzentrums "Arche Nebra". 2008 - die Wiedereröffnung des Landesmuseums für Vorgeschichte in Halle mit der Himmelsscheibe als Hauptattraktion und die neue Touristenroute "Himmelswege". 2009 - der Wiederaufbau des Henge-Monuments von Pömmelte?
Die Gesichter von Bürgermeister und Archäologe verraten, dass sich ihre Gedanken gleichen. Es werde nach Abschluss der Arbeiten sehr bald ein dreidimensionales Modell geben, versichert Spatzier. Eine richtige Rekonstruktion wäre durchaus im Sinne der Archäologen. Und wer habe vorher Goseck gekannt? Liegt Pömmelte demnächst nicht nur an der Kreisstraße nach Schönebeck, sondern auch am Himmelsweg? "Haben wir einen Verbandskasten?" Eine Studentin steht in der Tür. Mit diesem Ruf werden die Überlegungen für heute gestoppt.
Was die Einheimischen betrifft, so kann sich Lothar Ladebeck inzwischen Vorträge über die Bronzezeit sparen. Ladebeck, 54 Jahre alt und ein Kreuz wie der Bürgermeister, ist einer der Ein-Euro-Archäologen. Wieder und wieder schabt er, auf Knien sitzend, mit einer kurzen Hacke über den Boden. "Endlich mal was anderes als Grünanlagen pflegen", sagt Ladebeck zufrieden. Und er hat schnell ein Auge für Scherben und Aschereste bekommen. Schon hält er ein Steinchen in der Hand. Ein Steinchen? Es sei wohl der Rest eines Gefäßes, wahrscheinlich ein Stierkopf, wiederholt Konstantin, sein junger Nachbar, was André Spatzier vermutet. Konstantin fährt fort: "So was sieht unspektakulär aus, aber die Aussagekraft ist groß. Mit Tieren hatten wir hier bisher nicht viel zu tun." Lothar Ladebeck schon, hat er doch 20 Jahre lang in den Ställen der LPG gearbeitet. Nach der Wende habe er manches unternommen, war Kraftfahrer, Hühnerfänger. Wenigstens bis zum Ende der Grabung im Oktober hat er hier sein ungewöhnliches Zubrot.
"Ich muss nehmen, was kommt", sagt er ohne Illusionen, wird dann aber doch fast philosophisch: "Bewegung muss sein", sinniert er und beginnt wieder so sorgfältig zu schaben, als hänge seine Karriere davon ab. "Wenn du nicht in Bewegung bist, wenn du zu Hause sitzt, fällt dir doch die Bude auf den Kopf!" Den Stierkopf hat er wieder vorsichtig zurückgelegt, er wird noch dokumentiert. Es ist, als hätte ein Mensch aus der Bronzezeit gerade ihm einen Gruß gesandt - von Kollege zu Kollege. Archäologen gab es damals noch nicht, Viehpfleger schon. Und das könnte Lothar Ladebeck mit Stolz erfüllen.