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Helden und Mörder

Verschwörer um Claus Schenk Graf von Stauffenberg versuchten am 20. Juli 1944, Hitler zu töten. Wäre das Attentat gelungen, hätte es Millionen Menschen vor dem Tod bewahrt. Doch erst jetzt erweisen die Deutschen den Widerständlern mit großer Mehrheit Respekt.
aus DER SPIEGEL 29/2004

Der Klumpen, der über Deutschlands Schicksal entschied, wog 975 Gramm. Es war rissiger Sprengstoff der Marke »Plastit W«, hergestellt von der Wasag-Chemie AG, darin hineingedrückt zwei englische Zeitzünder, alles eingewickelt in Packpapier - genug, um Adolf Hitler zu töten.

Doch Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg kam nicht mehr dazu, die hochexplosive Masse in seiner Tasche zu verstauen, in der bereits ein ähnlicher Sprengsatz lag. Denn auf einmal stand ein Oberfeldwebel in der Tür und meldete einen Anruf für Stauffenberg.

Draußen auf dem Gelände der Wolfschanze, wie das Führerhauptquartier in Ostpreußen hieß, wartete bereits eine kleine Gruppe Offiziere, um mit ihm gemeinsam vom Bunker des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW) zur Lagebaracke zu gehen. »Stauffenberg, so kommen Sie doch«, rief Major Ernst John von Freyend. Hastig schloss der Oberst seine Aktentasche, und damit nahm das Verhängnis seinen Lauf. Denn während der Adlige mit den anderen zum Lagevortrag beim Diktator eilte, blieb sein Adjutant mit dem zweiten Sprengsatz zurück.

Man benötigt, wenn man zügig schreitet, etwa fünf Minuten für die wenigen hundert Meter zwischen den heute noch erhaltenen Resten des OKW-Bunkers und den Trümmern

der Lagebaracke. Um kurz nach 12.30 Uhr betrat Stauffenberg an jenem 20. Juli 1944 das Lagezimmer, in dem General Adolf Heusinger gerade über die Situation an der Ostfront berichtete.

Der kriegsversehrte Stauffenberg - er hatte im Jahr zuvor das linke Auge, die rechte Hand und zwei Finger an der linken Hand verloren - zog sofort die Aufmerksamkeit auf sich, wie ein Anwesender später berichtete: »Ich kannte ihn kaum, aber wie er dort stand, das eine Auge durch eine schwarze Binde verdeckt, einen verstümmelten Arm in einem leeren Uniformärmel, hoch aufgerichtet, den Blick geradeaus auf Hitler gerichtet, der sich nun auch umgedreht hatte, bot er ein stolzes Bild.«

Ein Adjutant bat darum, dem schwer Kriegsversehrten einen Stehplatz dicht bei Hitler freizumachen. Stauffenberg hatte darum ersucht: »Damit ich für meinen Vortrag nachher alles mitbekomme.«

Die Tasche mit dem Sprengsatz stellte er unter dem Kartentisch ab. Heusingers Mitarbeiter Oberst Heinz Brandt schob sie wohl mit dem Fuß noch ein Stück weiter unter den Tisch (siehe Seite 34).

Anschließend wartete Stauffenberg einen Augenblick, ehe er unter dem Vorwand, telefonieren zu müssen, den Raum verließ.

Kurz darauf, zwischen 12.40 Uhr und 12.50 Uhr, detonierte der Sprengsatz mit einer gewaltigen Stichflamme und einem berstenden Knall, der fast allen 24 Lageteilnehmern, auch Hitler, die Trommelfelle zerfetzte.

Die Explosion riss einem Stenografen beide Beine ab, ein General wurde von einem Holzsplitter durchbohrt, das Gesicht von Hitlers Chefadjutant verbrannt. Im Fußboden, wo Stauffenberg die Aktentasche abgestellt hatte, klaffte ein Loch, 55 Zentimeter im Durchmesser. Mit teilweise brennenden Haaren stürzten jene, die noch laufen konnten, ins Freie.

Vier der Verwundeten erlagen ihren Verletzungen, nur zwei Männer erhoben sich leidlich unversehrt aus der Trümmerwüste. Einer von ihnen war Adolf Hitler.

Der »Führer« schlug die Flammen an seiner Kleidung aus. Seine schwarze Hose und die lange weiße Unterhose hingen in Streifen herab. Helfer brachten den 55-Jährigen in seinen Bunker. »Linge«, sagte er zu seinem Kammerdiener, »jemand hat versucht, mich umzubringen.«

Es war die massive Stütze des schweren Lagetisches, über den sich der Diktator gerade gebeugt hatte, die ihn rettete. Hätte Stauffenberg in seiner Aktentasche auch den zweiten Sprengsatz deponiert gehabt, wäre das Leben Hitlers an diesem Tag zu Ende gegangen - und damit wohl auch das »Dritte Reich«.

Denn die Tat Stauffenbergs bildete den Auftakt eines umfassenden Staatsstreichversuchs, der - wäre Hitler gestorben - mit großer Wahrscheinlichkeit Erfolg gehabt hätte. Einige hundert Militärs (wie der ehemalige Generalstabschef des Heeres, Ludwig Beck), Diplomaten (wie der langjährige Botschafter in Rom, Ulrich von Hassell), Verwaltungsexperten (wie der ehemalige Leipziger Oberbürgermeister Carl Friedrich Goerdeler), Sozialdemokraten (wie Julius Leber) und Gewerkschaftsführer (wie Jakob Kaiser, später Mitbegründer

der CDU) standen zum Machtwechsel bereit.

Kabinettslisten für eine Übergangsregierung waren ausgearbeitet, Attentäter Stauffenberg sollte Staatssekretär in einem Kriegsministerium werden. Texte für Ansprachen an Volk und Soldaten, auch eine Regierungserklärung lagen vor.

Obwohl die Verschwörer zunächst nur mit den Westmächten über ein Ende des Krieges verhandeln wollten, wäre mit dem Tod Hitlers der Kampf wohl an allen Fronten rasch zu Ende gegangen. Nur Wochen vor dem Attentat waren Amerikaner und Briten in der Normandie gelandet. Stalins Divisionen standen hundert Kilometer vor der Grenze Ostpreußens. Der Sicherheitsdienst der SS vermeldete »eine Art schleichender Panikstimmung zahlreicher Volksgenossen«. Kaum zu glauben, dass ohne den »Führer« und den ihn umgebenden Mythos die Deutschen bis zum bitteren Ende gekämpft hätten.

Das Scheitern des 20. Juli zählt schon deshalb zu den großen Tragödien des 20. Jahrhunderts. Etwa 4 Millionen Deutsche, rund 1,5 Millionen Rotarmisten und über hunderttausend GIs und Briten starben in der Zeit zwischen dem Attentat und der deutschen Kapitulation am 8. Mai 1945. Hunderttausende KZ-Häftlinge wurden in Auschwitz und anderswo ermordet. Alliierte Bomber zerstörten in den letzten neun Monaten Städte wie Dresden oder Kiel. Vielleicht wäre sogar die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten unterblieben, hätte Stauffenberg Erfolg gehabt.

Gründe genug gab es also, den Männern des 20. Juli nach Ende des »Dritten Reiches« Respekt zu zollen. Doch im zerstörten Nachkriegsdeutschland war dazu nur eine Minderheit bereit.

In Deutschland-Ost beschimpfte die SED die Männer des 20. Juli als reaktionäre »Agenten des US-Imperialismus«. In

Deutschland-West waren Stauffenberg und Kameraden zwar Thema von Sonntagsreden, ihr Konterfei fand sich auf Briefmarken wieder, die Namen zieren noch heute Hunderte Straßenschilder. Doch 1956 fand knapp die Hälfte der Bundesbürger, dass eine Schule besser nicht nach den Männern des 20. Juli benannt werden solle.

Kanzler Konrad Adenauer hintertrieb die Wiedereinstellung des zum Widerstand zählenden Diplomaten Erich Kordt im Auswärtigen Amt mit der Begründung, dieser habe schon einmal seinen Chef »betrogen«. Noch Anfang der sechziger Jahre hielt jeder Vierte Stauffenberg und seine Kameraden für Verräter. Der Staatsstreich der Minderheit warf ein zu grelles Licht auf das Mitmachen der Mehrheit.

Später störte sich im Westen Deutschlands die Generation der 68er an der politischen Ausrichtung der Widerständler. Unter den Verschwörern gegen Hitler fanden sich nur wenige Demokraten, wohl aber einige Antisemiten und manche Kriegsverbrecher. Viele hatten zeitweise vom Griff nach der Weltmacht geträumt.

Doch sechs Jahrzehnte nachdem Goerdeler, Hassell und Leber in der Strafanstalt Berlin-Plötzensee einen qualvollen Tod durch den Strang starben, wenden sich die Deutschen mit neuem Blick den Umstürzlern zu. Wie eine Umfrage von TNS Infratest im Auftrag des SPIEGEL zeigt, achten oder bewundern heute fast drei Viertel der Deutschen die Attentäter (siehe Grafik Seite 44). Ob Ost oder West, Jung oder Alt - Stauffenberg und die anderen stoßen auf Zustimmung wie nie zuvor. Nur jeder Zwanzigste verachtet die Verschwörer.

»Der 20. Juli ist angekommen« - eine Beobachtung, die der Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin, Johannes Tuchel, schon seit der Jahrtausendwende macht. Tuchel betreut die Dauerausstellung in den Räumen des Bendlerblocks. In dem Regierungsgebäude hatten Stauffenberg und Beck am Nachmittag des 20. Juli versucht, den Staatsstreich trotz Hitlers Überleben noch voranzutreiben. Die Zahl der Besucher hat sich in den vergangenen zehn Jahren verdoppelt.

Und es sind vor allem die Enkel und Urenkel der Erlebnisgeneration, die frei von deren Schuldgefühlen wissen wollen, wie es kam, dass überzeugte Nationalsozialisten (etwa das NSDAP-Mitglied Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg) und begeisterte Mitläufer (wie Claus Schenk Graf von Stauffenberg) zu erbitterten Gegnern Hitlers wurden. Was geschah da, als Offiziere, die sich als preußisch verstanden, mit der jahrhundertealten Tradition des Kadavergehorsams brachen?

Dabei fasziniert die Nachwachsenden nicht nur das politische Ereignis, sondern auch das menschliche Drama. Viele Verschwörer hatten lange mit sich gerungen, ob der Tyrannenmord zu rechtfertigen sei. In dunklen Stunden überkamen sie immer wieder Zweifel am Erfolg ihres Vorhabens. »Das Furchtbarste ist zu wissen, dass es nicht gelingen kann«, prophezeite Stauffenbergs Bruder Berthold.

Und dennoch nahmen er und die anderen das Risiko auf sich und brachten ihre Familien in Gefahr. Im Sommer 1944 ließ General Henning von Tresckow, 43, Vater von zwei Söhnen und zwei Töchtern, dem sechs Jahre jüngeren Stauffenberg, dessen Frau mit dem fünften Kind schwanger ging, die berühmten Worte ausrichten: »Das Attentat muss erfolgen, coûte que coûte.« Denn es komme nicht mehr auf den praktischen Zweck an, »sondern darauf, dass die Widerstandsbewegung vor der Welt und vor der Geschichte unter Einsatz des Lebens den entscheidenden Wurf gewagt hat«.

Es ist dieser Opfermut, welcher dem Anschlag auf Hitler seine Größe verleiht - und das Interesse enorm beflügelt.

Der Stauffenberg-Film von Jo Baier in der ARD oder eine mehrteilige Serie zum Widerstand von ZDF-Historiker Guido

Knopp vor wenigen Monaten erzielten

teilweise sensationell hohe Einschaltquoten. Zehntausende deutsche Touristen besuchen jährlich die Wolfschanze in Ostpreußen (siehe Seite 42).

Ausstellungen in Berlin, Frankfurt, Rastatt und Minden nehmen den Jahrestag zum Anlass, sich mit den Attentätern zu beschäftigen. Die Verlage kommen mit einem Dutzend Neuerscheinungen oder Neuauflagen renommierter Werke zum Thema auf den Markt. Stauffenberg, beobachtete kürzlich die »New York Times«, sei »als Widerstands-Heros fest etabliert«.

Der für Umschwünge mit empfindlichen Sensoren ausgestattete Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) trägt dem Wandel bereits seit einiger Zeit Rechnung. Die rotgrüne Regierung lässt seit 1999 Bundeswehrrekruten auf dem Paradeplatz am Bendlerblock ihr Gelöbnis ablegen.

Die Feier des 60. Jahrestags hat Schröder zur Chefsache erklärt. Am Dienstag nächster Woche will der Kanzler im Ehrenhof des Bendlerblocks sprechen, wo Stauffenberg, sein Adjutant Werner von Haeften und die Mitverschwörer Oberst Albrecht Ritter Mertz von Quirnheim und General Friedrich Olbricht erschossen wurden.

Kürzlich nahm Schröder einen der Überlebenden des 20. Juli, Philipp Freiherr von Boeselager, in die Delegation auf, mit der er zu den Feierlichkeiten aus Anlass der alliierten Landung in der Normandie 1944

reiste - und erhielt dafür auch von den Verbündeten Zustimmung.

Vor allem Frankreichs Staatspräsident Jacques Chirac bemüht sich, das Wirken der Männer um Stauffenberg seinen Landsleuten bekannt zu machen. Im vorigen Jahr nahm die französische Verteidigungsministerin Michèle Alliot-Marie an dem Gelöbnis am 20. Juli in Berlin teil. Im Januar dieses Jahres wurde Boeselager zum Offizier der Ehrenlegion ernannt.

Dabei standen die meisten Verschwörer dem Nationalsozialismus zunächst neutral oder sogar wohlwollend gegenüber. Der braune Reichskanzler versprach den Wiederaufstieg Deutschlands und manchem Offizier Aussicht auf Karriere. Auch Stauffenberg erlag dem nationalen Rausch.

Der groß gewachsene, gut aussehende Berufsoffizier, Spross schwäbischen Uradels, hatte die erste deutsche Republik verachtet. Stauffenberg, bei Hitlers Machtantritt 25 Jahre alt, träumte von einem tausendjährigen Reich, das sein Idol, der rheinische Dichter Stefan George, verkündete, und verstand sich als Teil einer neuen Elite. Nationale Erneuerung statt »Schmach von Versailles« - es waren die außenpolitischen und militärischen Erfolge Hitlers, von denen sich Stauffenberg blenden ließ. »Welche Veränderung in welcher Zeit«, schwärmte er von Hitlers Siegen über Polen und Frankreich 1939/1940.

In einem Brief an seine Frau aus dem besetzten Polen mokierte sich der charismatische Offizier, dem viele eine glänzende Karriere voraussagten, über den »unglaublichen Pöbel, sehr viele Juden und sehr viel Mischvolk": »Ein Volk, welches sich nur unter der Knute wohl fühlt. Die Tausenden von Gefangenen werden unserer Landwirtschaft recht gut tun.«

Nach dem Scheitern der deutschen Hoffnungen auf einen Blitzsieg gegen die Sowjetunion Ende 1941 änderte sich seine Haltung. Einer seiner Brüder berichtete Freunden: »Claus sagt, zuerst müssen wir den Krieg gewinnen. Aber dann, wenn wir nach Hause kommen, werden wir mit der braunen Pest aufräumen.«

Anfang 1942 erkannte Stauffenberg, dass der Krieg ohne Unterstützung der sowjetischen Bevölkerung nicht zu gewinnen war. Als ihm ein Offizier von einem Massaker an Juden durch die SS in der Ukraine berichtet, schimpft er bald darauf bei einem Ausritt: »Findet sich da drüben im Führerhauptquartier kein Offizier, der das Schwein mit der Pistole umlegt?« Noch hoffte er, dass andere handeln würden. Und

da es dem ehrgeizigen Militär an Fronterfahrung mangelte, ihn andererseits sein offenes Reden in Gefahr brachte, ließ er sich 1943 nach Nordafrika versetzen.

Ein Tieffliegerangriff beendete nach wenigen Wochen den Einsatz, Stauffenberg wurde schwer verwundet. Noch auf dem Krankenbett sagte er zu seiner Frau: »Weißt du, ich habe das Gefühl, dass ich jetzt etwas tun muss, um das Reich zu retten.«

Als ihn General Friedrich Olbricht, Chef des Allgemeinen Heeresamts in Berlin, fragte, ob er sich am Staatsstreich beteiligen wolle, stimmte Stauffenberg zu. Am 1. Oktober 1943 trat er seine neue Stelle als Chef des Stabs bei Olbricht im Bendlerblock an.

Olbricht zählte seit dem Vorjahr zum »zivil-militärischen Netzwerk« (Historiker Thomas Vogel) um den ehemaligen Generalstabschef Beck, einen kühlen, klugen Mann mit der Aura eines Philosophen, und den nationalkonservativen Kommunalpolitiker Goerdeler.

Das Netzwerk war 1938 entstanden, 1944 zählten dazu hohe Beamte, Offiziere, Anwälte, Kirchenleute, Gewerkschaftsführer, Politiker der untergegangenen Weimarer Republik. Viele waren Einzelgänger, manche der Verschwörer kannten einander aus Kindertagen oder waren - vor allem die Adligen unter ihnen - miteinander verwandt (siehe SPIEGEL-Gespräch Seite 46).

Beck und Goerdeler trafen sich häufig in der Wohnung des Generalobersten in der Berliner Goethestraße; Hassell und der preußische Finanzminister Johannes Popitz kamen in der Mittwochsgesellschaft zusammen, einem elitären Zirkel in der Hauptstadt, der reihum in den Privathäusern der Mitglieder konferierte.

Im Auswärtigen Amt und einigen Dienststellen der Wehrmacht, etwa dem Stab der Heeresgruppe Mitte um Tresckow oder dem Amt Ausland/Abwehr beim OKW, bildeten sich »regelrechte Widerstandszellen« (Joachim Fest).

Die Hitler-Gegner sammelten Informationen über Verbrechen der SS, entwarfen Memoranden zur Zukunft Deutschlands und überlegten, wie sie Hitler stürzen könnten. Fast alle ernst zu nehmenden Attentatspläne vor dem 20. Juli gingen auf ihr Konto (siehe Seite 39).

Die Größe der Gruppe schwankte allerdings. Nach dem Frankreichfeldzug schmolz das Netzwerk auf einen kleinen Kern Fundamentaloppositioneller zusammen. Erst als sich die Niederlage gegen die Sowjetunion abzeichnete, wurde es leichter, Männer wie Stauffenberg zu gewinnen.

Der Historiker Hans Mommsen, einer der besten Kenner der Materie, sieht denn auch im »nationalen Interesse« den »zentralen Platz« für den Hochverratsentschluss der meisten Widerständler - nicht im Entsetzen über den Holocaust.

Zu den bis heute verstörenden Befunden zählt, dass in dem Netzwerk Kriegsverbrecher durchaus ihren Platz fanden, etwa Generalquartiermeister Eduard Wagner, mitverantwortlich für den Tod von Millionen gefangener Rotarmisten, oder SS-Gruppenführer Arthur Nebe, der als Leiter der Einsatzgruppe B an der Ermordung von 40 000 Juden und unzähliger russischer Geisteskranker beteiligt war.

Auch die Generäle Erich Hoepner, ein Freund Becks, und Carl-Heinrich von Stülpnagel - seit 1938 an Umsturzplänen beteiligt - zählten zu den Frondeuren. Sie hatten ihren Soldaten zur »Abwehr des jüdischen Bolschewismus« die »erbarmungslose, völlige Vernichtung des Feindes« befohlen oder nach dem Einmarsch in Galizien die nicht jüdische Bevölkerung zu Pogromen angestachelt.

Sicher ist allerdings auch: Allein 20 Verschwörer haben in den Verhören der Gestapo oder vor dem Volksgerichtshof Judenverfolgungen als Grund für ihren Widerstand angegeben. Und Goerdeler, der lange Zeit die Diskriminierung von Juden befürwortet hatte, schrieb in die nie verlesene Regierungserklärung der Attentäter den reuigen Satz:

»Die Judenverfolgung, die sich in den unmenschlichsten und unbarmherzigsten, tief beschämenden und gar nicht wieder gutzumachenden Formen vollzogen hat, ist sofort eingestellt.«

Mommsen spricht denn auch von einem »Lernprozess«, den »die meisten Verschwörer unter dem Eindruck von Hitlers verbrecherischer Politik durchmachten«.

Als Stauffenberg in Berlin eintraf, war eine Grundsatzentscheidung gerade gefallen. Da sich alle Versuche als vergebens erwiesen hatten, Armeeführern wie Erich von Manstein die Zusage abzuringen, am Tag X auf Seiten der Verschwörer einzuschwenken, wollten die Widerständler für einen Staatsstreich das Ersatzheer nutzen.

Das Ersatzheer diente eigentlich dazu, der kämpfenden Truppe Soldaten und neues Gerät zuzuführen. Allerdings plante Hitler, die Einheiten im Fall eines Aufstands von Kriegsgefangenen oder Zwangsarbeitern im Reich auch im Innern einzusetzen. Die Operation trug den Namen »Walküre«.

Die Zuständigkeit lag bei Stauffenbergs Chef Olbricht. Und dieser verfiel auf eine geniale Idee. Als im Sommer 1943 der erbitterte Hitler-Gegner Tresckow sich länger in Berlin aufhielt, ließ Olbricht ihn und später auch Stauffenberg die Befehlsentwürfe unauffällig so ergänzen, dass sich damit

auch ein Staatsstreich durchführen ließ. Nicht gegen aufständische Polen oder Russen, sondern gegen die SS und andere Hitler-Getreue sollten die Soldaten des Ersatzheeres vorgehen. Denen wollten die Verschwörer vorspiegeln, dass eine »gewissenlose Clique frontfremder Parteiführer« Hitlers Tod ausnutze, um die Macht an sich zu reißen. Die tatsächlichen Umstände sollten vorerst im Dunkeln bleiben.

Der Tod Hitlers war Teil des Plans. Denn seit 1934 schworen alle Soldaten einen Eid auf die Person des Diktators, und selbst entschiedene Gegner fühlten sich daran gebunden. Die Verschwörer wollten einen eidfreien Raum schaffen.

Als Tresckow im Oktober 1943 ein Kommando an der Front erhielt, wurde Stauffenberg zur treibenden Kraft des Unternehmens. Unermüdlich überarbeitete er die Pläne, tüftelte an den Abläufen, traf sich mit anderen Verschwörern. Was er selbst dachte, offenbarte er einem Kameraden, der sich nach dem Attentat von der Roten Armee gefangen nehmen ließ. Der russische Historiker Boris Chawkin hat die Verhörprotokolle veröffentlicht. Danach strebte Stauffenberg eine »vorübergehende Militärdiktatur« an, »die den Boden für einen demokratischen Staat zu bereiten hat«.

Doch war das Konsens im Netzwerk? Gegenüber der parlamentarischen Demo-

kratie und ihrem Parteienwesen hegten nach den Erfahrungen von Weimar fast alle Mitglieder des Widerstands Skepsis. Man müsse das Volk »in eine vom christlichen

Geiste getragene autoritäre Ordnung« einbinden, empfahl der Legationsrat im Auswärtigen Amt, Adam von Trott zu Solz, außenpolitischer Experte des so genannten Kreisauer Kreises.

Seit 1940 diskutierten Konservative und Sozialisten auf dem Gut des Grafen Helmuth James von Moltke im schlesischen Kreisau oder in der Berliner Privatwohnung von Peter Graf Yorck von Wartenburg über die Zukunft Deutschlands. 1943 hatten sich einige Kreisauer entschlossen, beim Staatsstreich mitzumachen. In der vormodernen Sehnsucht nach einer von Interessengegensätzen freien Ordnung und einem starken Staat kamen die Kreisauer den um Goerdeler und Beck versammelten Nationalkonservativen durchaus nahe.

Aber das von Goerdeler angestrebte Präsidialsystem war selbst den Kreisauern zu autoritär. Da einige von diesen die Vergesellschaftung der Schlüsselindustrien erwogen, warf der unternehmerfreundliche Goerdeler ihnen wiederum Salonbolschewismus vor.

Und während Moltke und andere früh auf ein vereintes Europa setzten, verabschiedeten sich Goerdeler oder Beck erst unter dem Eindruck der deutschen Verbrechen von der Vorstellung, das Reich könne als hegemoniale Ordnungsmacht wirken. Noch am 25. Mai 1944 erklärte Goerdeler, er wolle einen Teil der Beute Hitlers - etwa das Sudetenland - für Deutschland sichern.

Am Ende konnten sich beide Gruppierungen nur auf einige Grundsätze für die unmittelbare Nach-Hitler-Zeit einigen. Hauptpunkt war die Wiederherstellung des Rechtsstaats. Ansonsten galt die Devise Julius Lebers: »Was danach kommt, regelt sich von selbst.«

Cheforganisator Stauffenberg hatte als Attentäter zunächst andere vorgesehen. Doch nur ein kleiner Kreis hatte direkten Zugang zu dem Diktator, seit dem 1. Juli 1944 auch Stauffenberg, weil er wieder einmal befördert worden war: zum Chef des Stabs beim Befehlshaber des Ersatzheeres. Er entschloss sich schließlich, selbst zu handeln, trotz seiner schweren Verletzungen. Allerdings wollte er nach dem Attentat sofort zurück nach Berlin, um dort dann den Staatsstreich voranzutreiben.

Als der Sprengstoff mit dem Zeitzünder explodierte und die Lagebaracke verwüstete, befand er sich deshalb am Adjutanturgebäude, das 200 Meter entfernt lag. Er wartete auf den Wagen, der ihn zum Flugplatz bringen sollte.

Es war Stauffenbergs Glück, dass die Militärs im Führerhauptquartier nicht sofort begriffen, was geschehen war. Ein Nachrichtenoffizier, der neben ihm stand, kommentierte

den Knall mit dem Hinweis, das Wild im Wald löse öfter Minen aus.

Um 12.44 Uhr erreichten Stauffenberg und Adjutant Haeften an diesem schwülheißen Donnerstag die Wache des so genannten Sperrkreises I, zu dem die Gebäude Hitlers und seiner engsten Mitarbeiter zählten. Vom Rang Stauffenbergs und dessen Auftreten ließ sich der wachhabende Leutnant beeindrucken und winkte den offenen 8-Zylinder-Horch durch.

Der Wagen bog nach einigen Metern in die Straße ein, die zur Außenwache Süd führte. Und hier wäre beinahe alles schon zu Ende gewesen. Denn inzwischen war Alarm ausgelöst worden, und der Dienst habende Oberfeldwebel Kolbe ließ sich nicht beeindrucken, als Stauffenberg ihm erklärte, er müsse dringend zum Flugplatz.

Doch als Kolbe die Kommandantur anrief, nahm Rittmeister Leonhard von Möllendorf ab, ein Bekannter des Attentäters. Kolbe fragte, was er tun solle, da Oberst Stauffenberg unbedingt die Wolfschanze verlassen wolle. Der ahnungslose Möllendorf erlaubte die Durchfahrt. Um 13.15 Uhr hob die Heinkel He 111 mit Stauffenberg und Haeften an Bord vom Flugfeld ab.

Der Flug nach Berlin dauerte in der Regel um die zwei Stunden, und irgendwo in der Luft muss die Maschine mit Stauffenberg jenem Flugzeug begegnet sein, mit dem SS-Chef Heinrich Himmler seine Ermittler aus Berlin herbeibringen ließ.

Über die Haltung Himmlers zum 20. Juli ist viel gerätselt worden. Ein knappes Jahr vor dem Anschlag hatte er sich mit dem erzkonservativen Finanzpolitiker Popitz getroffen - einem Mann des Widerstands, den die Verschwörer als Reichsfinanzminister in Betracht gezogen hatten. Es ist bekannt, dass Popitz - nach Absprache mit Tresckow - herausfinden wollte, ob der SS-Führer für einen Staatsstreich zu gewinnen war. Merkwürdig ist auch, dass die Gestapo gegen die Verschwörer vor dem 20. Juli kaum ermittelte, obwohl es an Spuren nicht fehlte.

Ließ der Reichsführer-SS Stauffenberg gewähren, weil er hoffte, der Oberst würde Hitler aus dem Weg räumen?

Gedenkstättenleiter Tuchel verweist darauf, dass Himmler den »Führer« über den Gesprächswunsch von Popitz vorab informierte und anbot: »Den Kerl bringe ich um.« Hitler fand, er solle sich Popitz erst einmal anhören. Doch dieser deutete bei dem Treffen seine Intention nur vage an. Wahrscheinlicher ist daher, dass Himmler den Goerdeler-Kreis unterschätzte, und das dürfte auch die Ermittlungsschwächen der Gestapo erklären.

Nachdem das Attentat missglückt war, hatten die Verschwörer nur noch eine Chance: Sie mussten die Truppen des Ersatzheeres rasch auf ihre Seite ziehen. Und das hing von zwei Faktoren ab: der Entschlossenheit und Schnelligkeit der Verschwörer und der Haltung der Befehlshaber in den 19 Wehrkreisen.

Fatalerweise erreichten Zweifel am Tod des Diktators den Bendlerblock viel zu früh. Der Mitverschwörer und Chef der Nachrichtentruppen des Heeres, General Erich Fellgiebel - er sollte die Fernsprech- und Schreibverbindungen des Führerhauptquartiers blockieren -, sah Hitler kurz nach der Explosion in einiger Entfernung vorübergehen. Seine Nachricht an den Bendlerblock

- etwas Furchtbares ist passiert: Der Führer lebt - sorgte für Verwirrung.

Denn die Attentäter hatten keinen Notfallplan. Sie waren immer vom Tod Hitlers ausgegangen. Wo war Stauffenberg? Hatte er sich umgebracht, oder war er erschossen worden? Sollte man das Vorhaben abblasen, ehe man entdeckt wurde?

Statt die »Walküre«-Befehle herauszuschicken, beschloss General Olbricht zu warten. Er fuhr wie immer zum Mittagessen und kam erst gegen 15 Uhr zurück - zwei verlorene Stunden, deren Bedeutung kaum überschätzt werden kann.

Die Verschwörer waren davon ausgegangen, dass Fellgiebel die Nachrichtenverbindungen des Führerhauptquartiers zu wichtigen Wehrmachtstellen abschneiden und damit Hitlers Adlaten die Möglichkeit zu Gegenbefehlen nehmen würde. Nach dem Scheitern des Attentats war absehbar, dass Fellgiebels Nachrichtensperre nur kurze Zeit Bestand haben würde - Zeit, welche die Verschwörer nutzen mussten, um das Ersatzheer zu mobilisieren, und die der Ex-Chef des Attentäters beim Lunchen vertat.

Erst als Stauffenbergs Adjutant Haeften nach der Landung in Rangsdorf bei Berlin kurz nach 15 Uhr vom Flughafen aus anrief und darauf beharrte, dass Hitler tot sei, holte Olbricht die »Walküre«-Befehle aus dem Panzerschrank.

Gegen 16 Uhr betrat er das im zweiten Stock gelegene Büro von Generaloberst Friedrich Fromm, dem Befehlshaber des Ersatzheeres. Hitler hatte Fromms Machtbereich schrittweise beschnitten. Zum Widerstand vermochte sich Fromm nicht durchzuringen, aber er deckte Stauffenberg und die Attentäter, die hofften, ihn im entscheidenden Augenblick auf ihre Seite zu ziehen. Jetzt war der Augenblick gekommen. Hitler sei tot, erklärte Olbricht, und Fromm müsse die »Walküre«-Befehle erteilen.

Doch Fromm gab sich skeptisch angesichts der Nachricht aus Ostpreußen. Und da Olbricht inzwischen glaubte, Stauffenbergs Attentat sei tatsächlich geglückt, ließ er für Fromm eine Verbindung in die Wolfschanze herstellen. Ein fataler Irrtum. Denn Wilhelm Keitel, Hitlers höchster Militär, erzählte, wie es wirklich war. Fromm zu Olbricht: »Sie haben ja selbst gehört, der Führer lebt. Es besteht kein Grund zu übereilten Maßnahmen.«

Statt Fromm mit Gewalt zum Mitmachen zu zwingen oder einfach in seinem Namen das Notwendige zu veranlassen, kehrte Olbricht in sein Büro zurück: »Der Fromm will nicht unterschreiben.«

Als großes Manko der Verschwörer erwies sich, dass nur wenige Männer über die Entschlossenheit Stauffenbergs verfügten.

Eine Ausnahme war dessen Freund Mertz von Quirnheim, der Stabschef Olbrichts. Mertz ließ einfach das erste Fernschreiben an die Wehrkreiskommandos absetzen, weitere folgten. Inhalt: Hitler sei tot, die Reichsregierung habe den militärischen Ausnahmezustand verhängt, die Wehrmacht übernehme die vollziehende Gewalt. Minister, NSDAP-Gauleiter und viele andere Funktionsträger des Dritten Reichs sollten verhaftet, KZ-Mannschaften festgenommen, strategisch wichtige Punkte besetzt werden.

Allerdings verlief auch Mertz'' entschlossene Aktion nicht wie gewünscht. Dass Fromm nicht persönlich abgezeichnet hatte, erregte in den Wehrkreiskommandos Misstrauen. Noch wichtiger war: Der von Mertz beauftragte Hauptmann Friedrich Karl Klausing eilte zwar mit dem ersten Fernschreiben sofort zum Leiter der Nachrichtenzentrale im gleichen Stockwerk. Als der aber Klausing fragte, ob der Text, auf dem die üblichen Angaben des Geheimhaltungsgrades fehlten, nicht mit der höchsten Geheimhaltungsstufe behandelt werden müsse, antwortete Klausing kurz angebunden »Ja, ja« - ohne die Folgen zu bedenken.

Denn nur vier Schreibkräfte durften »Geheime Kommandosachen« in die Hände nehmen. Bei einem niedrigeren Geheimhaltungsgrad hätten die Texte über 20 Fernschreiber tickern können. Die »Walküre«-Befehle wären infolgedessen nicht erst abends, oft nach Dienstschluss, sondern am Spätnachmittag in den Wehrkreiskommandos eingetroffen.

Zeitvorteil Hitler. Gegen 16 Uhr muss der noch nicht enttarnte Fellgiebel die Nachrichtensperre aufheben. Sofort versuchten Keitels Adjutanten aus der Wolfschanze, die Wehrkreiskommandos vom Scheitern des Attentats zu informieren. Der erste Funkspruch Keitels erging um 16.15 Uhr an die Dienststelle in Kassel: »Der Führer lebt! Völlig gesund! Reichsführer SS (Himmler zum) OB (Oberbefehlshaber vom) Ersatzheer (ernannt), nur seine Befehle gelten.«

Experten schätzen den Kreis derjenigen, die von der Existenz der Staatsstreichpläne wussten, auf einige hundert Eingeweihte. Was immer sie von einem Umsturz hielten - nach Stauffenbergs Attentat waren alle in Lebensgefahr, weil sie die Verschwörer durch ihr Schweigen gedeckt hatten. Ihre einzige Chance lag im Gelingen der Operation »Walküre«. Doch fatalerweise glaubten viele, sie könnten den Kopf noch aus der Schlinge ziehen - und trugen damit zum eigenen Untergang bei.

Als Fromm vom Auslösen der »Walküre«-Befehle durch Mertz erfuhr, tobte er, brüllte etwas von Hochverrat und Todesstrafe, befahl den Ritter in sein Büro und ließ ihn dort festsetzen: »Mertz, Sie befinden sich in Schutzhaft.«

Wenige Minuten später - um 16.30 Uhr - fuhr Stauffenberg endlich in den Hof des Bendlerblocks. Es ist ungeklärt, ob er wirklich glaubte, Hitler getötet zu haben, oder dies nur behauptete, um den Staatsstreich voranzutreiben. Den wartenden Mitverschwörern verkündete der Attentäter: »Er ist tot, ich habe gesehen, wie man ihn hinausgetragen hat.«

Sofort eilten Olbricht und Stauffenberg zu Fromm. Doch der nahm auch Stauffenberg die Nachricht vom Tod Hitlers nicht ab und verwies auf sein Telefonat mit Keitel.

Stauffenberg: »Der Feldmarschall Keitel lügt wie immer.«

Fromm: »Graf Stauffenberg, das Attentat ist missglückt, Sie müssen sich sofort erschießen.«

Stauffenberg: »Das werde ich nicht tun.«

Als Fromm die Verschwörer für verhaftet erklärte, entgegnete Stauffenberg kühl: »Sie täuschen sich über die wahren Machtverhältnisse. Wenn hier jemand in Schutzhaft genommen wird, dann sind Sie es, Herr Generaloberst.«

Adjutant Haeften und ein weiterer Helfer hielten dem tobenden Befehlshaber ihre Pistolen vor den Bauch und sperrten den hochroten, mit der Fassung ringenden Mann ins Adjutantenzimmer. Hitler ließ Fromm trotzdem später hinrichten.

Es gab nicht viel, was am 20. Juli so klappte, wie es die Verschwörer geplant hatten. Doch am Spätnachmittag gewann der Staatsstreich an Fahrt. Ständig trafen eingeweihte Helfer und Mitverschwörer im Bendlerblock ein.

Vor allem aber wirkte der Bluff: Wehrmach teinheiten in und um Berlin richteten sich nach den »Walküre«-Befehlen. Einheiten der Heeres-Waffenmeisterschule I in Berlin-Treptow besetzten das Stadtschloss. Panzer der Panzertruppenschule II in Krampnitz fuhren an der Siegessäule auf. Major Otto Ernst Remer, Kommandeur des Wachbataillons »Großdeutschland« in der Rathenower Straße, glaubte der Nachricht seines Vorgesetzten, dass der Führer verunglückt und mit Unruhen zu rechnen sei.

Wie befohlen, ließ er das Regierungsviertel sofort absperren.

Es war zwischen 18 und 18.30 Uhr, und die Weltgeschichte schien doch noch eine andere Richtung einzuschlagen:

Im Bendlerblock gab sich Stauffenberg optimistisch: »Der Laden läuft ja, man kann noch nichts sagen.«

In der Wolfschanze wartete Hitler nervös auf Vollzug seiner Befehle. Er hatte

Propagandaminister Joseph Goebbels aufgefordert, eine Rundfunkmeldung zu verbreiten, derzufolge er noch lebe. Nun rief er in Berlin an und fragte, was aus der Meldung geworden sei.

Als Goebbels kurz darauf Soldaten vor seinem Amtssitz aufziehen sah, nahm er eine Schachtel Zyanid-Tabletten und verschwand ins Schlafzimmer.

Hitler vor dem Sturz?

Irgendwann am Spätnachmittag hatte der nicht eingeweihte Major Friedrich Jakob von der Infanterieschule in Döberitz bei Berlin den »Walküre«-Befehl erhalten, das Funkhaus in der Masurenallee zu besetzen. Der Offizier fuhr mit mehreren Lastwagen voller Soldaten hin, stellte Granatwerfer in den Innenhöfen auf und marschierte zum Intendanten: Der Sender sei abzuschalten.

Der Plan der Verschwörer sah vor, Nachrichtenoffiziere mit der nötigen Expertise an der Besetzung des Funkhauses zu beteiligen. Doch im allgemeinen Durcheinander hatten die ausgewählten Fachleute nicht die entsprechenden Befehle erhalten. Und so konnte der Rundfunkmann, ein offenbar argwöhnischer Nazi, Major Jakob in den Hauptschaltraum führen, wo dem Laien versichert wurde, dass man seiner Anordnung gefolgt sei. Dabei lief der Sendebetrieb ununterbrochen weiter.

Um 18.28 Uhr meldete der Deutschlanddienst des Deutschen Rundfunks, dass Hitler »unverzüglich seine Arbeit wieder aufgenommen« habe; in den folgenden anderthalb Stunden wurde Hitlers Überleben fünfmal gemeldet.

Und damit, so der Historiker Peter Hoffmann, der beste Kenner des Ablaufs am 20. Juli, »kam alles ins Stocken«. Denn mit der Nachricht vom Scheitern des Attentats flog der »Walküre«-Bluff auf.

Vergebens telefonierten vor allem Stauffenberg, aber auch Olbricht und Beck beinahe ununterbrochen mit den Wehrkreiskommandos, die zum Teil noch nicht die »Walküre«-Befehle erhalten hatten - wohl aber schon Gegenbefehle aus der Wolfschanze:

»Hier Stauffenberg ... Alle Befehle sind unverzüglich auszuführen. Sie müssen alle Rundfunkstationen und Nachrichtenbüros besetzen ... Jeder Widerstand muss gebrochen werden ... nein ... Die Wehrmacht hat die Vollzugsgewalt übernommen ... verstehen Sie ... ja, das Reich ist in Gefahr, und wie immer übernimmt in der Stunde der Gefahr der Soldat das Kommando ... Sie sollen alle Nachrichtenbüros besetzen ... Haben Sie verstanden? Heil.«

Die Befehlshaber der Wehrkreiskommandos hätten an diesem Abend Geschichte schreiben können. Dafür hätten sie sich allerdings nun - nachdem klar war,

dass es um einen Staatsstreich ging - offen gegen Hitler entscheiden müssen.

Doch einige Generäle, etwa in Salzburg oder Danzig, ergriffen sofort für die Nazis Partei. In Hamburg bat der Chef des Stabs den Gauleiter samt Gefolge in das Wehrkreiskommando in der General-Knochenhauer-Straße und erklärte, dass er sie alle laut »Walküre«-Befehl verhaften solle, aber lieber die Entscheidung seines Vorgesetzten abwarten wolle. General Wilhelm Wetzel beruhigte die Nazi-Prominenz: »Gauleiter, wir beide werden doch nicht aufeinander schießen.«

Die meisten von Wetzels Generalskollegen warteten ab, telefonierten mit den Nachbar-Wehrkreiskommandos, setzten sich mit Vertrauten in Verbindung, um herauszufinden, was in Berlin los war.

Es sei ihm »furchtbar schwer« gefallen, »die alten Kameraden in dieser verzweifelten Stunde im Stich zu lassen«, redete sich später Infanteriegeneral Werner Kienitz, Befehlshaber im Wehrkreis II (Stettin), heraus. Doch »nach Lage der Dinge« sei eine Beteiligung »ganz unmöglich« gewesen.

Was geschehen konnte, wenn ein führender General mitzog, zeigte sich in Paris. Und wohl nichts stellt die Zögerer und Zauderer zwischen Kassel und Königsberg so bloß wie das entschlossene Handeln ihrer Kameraden an der Seine.

Die Nachricht vom Attentat war in Paris am frühen Nachmittag eingetroffen. Stauffenbergs Vetter Cäsar von Hofacker hatte sogleich Militärbefehlshaber und Mitverschwörer General Stülpnagel im Hotel Majestic, seinem Hauptquartier, informiert. Stülpnagel ließ Stadtpläne verteilen, auf denen die Unterkünfte der SS eingezeichnet waren. Die Verhaftungsaktion sollte erst um 23 Uhr anlaufen, damit die Franzosen nicht Zeuge wurden, wie deutsche Einheiten gegeneinander vorgingen. Und so geschah es.

Rund 1200 Gestapo- und SS-Männer wurden mit Lastwagen in das Wehrmachtgefängnis Fresne und zum Fort de l''Est in Saint Denis gekarrt. Der Stadtkommandant ließ bereits im Hof der Ecole Militaire Sandsäcke aufschichten, Kugelfang für die zu erwartenden Exekutionen der Schergen Hitlers.

Doch dann sprach sich auch in Paris herum, was wirklich los war. Stülpnagels Vorgesetzter, Generalfeldmarschall Hans Günther von Kluge, fiel seinem Untergebenen in den Arm: »Ja, wenn das Schwein tot wäre.« Vergebens versuchte Beck den »klugen Hans«, wie der wendige Oberbefehlshaber West genannt wurde, in einem Telefongespräch umzustimmen.

Die Entscheidung fiel am Ende in Berlin. Der Militärhistoriker Gerd Ueberschär schätzt die Anzahl der in und um die Reichshauptstadt stationierten Soldaten auf 7000 bis 8000. Hätte nur eine einzige Einheit wie etwa die Panzertruppenschule in Krampnitz sich auf die Seite der Verschwörer geschlagen, dann wäre, glaubt der Experte, »möglicherweise alles anders gekommen«.

Am Spätnachmittag traf der Befehlshaber des Wehrkreiskommandos am Hohenzollerndamm, General Joachim von Kortzfleisch, im Bendlerblock ein. Für den Staatsstreich war der Mann nicht zu gewinnen. Einem »Putsch«, erklärte er, fühle er sich nicht gewachsen. Er habe jetzt nur »noch ein Interesse: nach Hause zu gehen und in meinem Garten Unkraut zu jäten«. An die Stelle von Kortzfleisch trat General Karl von Thüngen, doch der fand die ganze Lage undurchsichtig, vertrödelte wichtige Zeit, erklärte, er wisse nicht, ob Hitler noch lebe. Nur widerwillig fuhr er um 19 Uhr zum Hohenzollerndamm und befahl - nichts.

Das Vakuum in der Reichshauptstadt füllte schließlich der 32-jährige Kommandeur des Wachbataillons »Großdeutschland«, Major Remer. Der bis an sein Lebensende überzeugte Hitler-Anhänger hatte am Nachmittag des 20. Juli zufälligerweise einen Referenten aus dem Propagandaministerium zu Besuch, der sofort Verdacht geschöpft hatte, als Remer den »Walküre«-Befehl erhielt, das Regierungsviertel abzusperren.

Der Mann bot dem Major an, bei seinem Chef, Reichsminister Goebbels, nach dem Stand der Dinge zu fragen. Und Goebbels - eben noch voller Selbstmordgedanken - war klug genug, Remer sofort ins Ministerium zu bitten. Gegen 19 Uhr traf dieser ein.

Goebbels ließ eine Verbindung zu Hitler in die Wolfschanze herstellen. Remer sollte mit dem »Führer« persönlich parlieren. O-Ton Hitler:

»Hören Sie mich? Ich lebe also! Das Attentat ist misslungen. Wir werden mit dieser Pest kurzen Prozess machen. Sie erhalten von mir den Auftrag, sofort die Ruhe und die Sicherheit in der Reichshauptstadt wiederherzustellen, wenn notwendig mit Gewalt.«

Remer hob die Abriegelung des Regierungsviertels auf.

Da er alle seine Soldaten zusammenziehen wollte, schickte Remer auch einen Vertrauten zu jenen Angehörigen des Wachbataillons in die Bendlerstraße, die dort routinemäßig Dienst taten. Erst auf diese Weise erfuhren er und Goebbels gegen 21 Uhr, wo eigentlich das Verschwörerhauptquartier lag.

Hitler befahl sofort, den riesigen Bürokomplex zu besetzen und alle Generäle zu verhaften. Die 4. Kompanie des Wachbataillons umstellte das Gebäude und ließ vor den Eingängen Maschinengewehrposten aufziehen.

Der Staatsstreich war endgültig gescheitert.

Viele der Offiziere im Bendlerblock hatten mehr geahnt als gewusst, was im

zweiten Stock des Ostflügels geschah, wo heute die Ausstellung der Gedenkstätte Deutscher Widerstand residiert. Nun, als das Ende bevorstand, wollten sie sich gegen den zu erwartenden Vorwurf des Regimes schützen, dem Staatsstreich nicht entgegengetreten zu sein. Einige von Olbrichts Stabsoffizieren nahmen Maschinenpistolen und Handgranaten; lärmend zogen sie zu Olbrichts Büro: »Herr General, sind Sie für oder gegen den Führer?«

Als Stauffenberg hinzukam, wollten die Männer ihn festnehmen, aber der Graf stürzte sofort auf den Korridor. Einem Bericht zufolge, den jetzt der Potsdamer Historiker Bernhard Kroener in einem Moskauer Archiv gefunden hat, feuerten zwei Offiziere ihm hinterher; der am linken Oberarm verwundete Stauffenberg konnte sich in ein Zimmer retten.

Gegen 22 Uhr - noch war die 4. Kompanie des Wachbataillons nicht eingetroffen - erschien der inzwischen befreite Fromm, hinter sich eine Entourage Bewaffneter, in der Tür seines Büros, wo Beck, Mertz, der angeschossene Stauffenberg, Haeften, Olbricht und Hoepner abwarteten. Auf dem Fußboden brannte Papier - Beweisstücke, die die Verschwörer noch vernichten wollten.

Fromm erklärte alle sechs für verhaftet und forderte sie auf, ihre Waffen abzuliefern. Beck bat darum, seine Pistole behalten zu dürfen, »zum privaten Gebrauch«.

Es passte zu diesem Tag, dass Beck sich mit dem ersten Schuss nur an der Schläfe verletzte und auch der zweite nicht tödlich war. Ein Feldwebel jagte dem Sterbenden schließlich eine Kugel in den Kopf.

Ob Fromm die anderen fünf Verschwörer hinrichten lassen wollte, um seine Mitwisserschaft zu verschleiern oder aus dünkelhafter Empörung über seine eigene Verhaftung durch die rangniederen Offiziere am Nachmittag, lässt sich nicht klären.

Jetzt, um kurz vor Mitternacht, drängte Fromm jedenfalls zu Eile. Hoepner ließ er abführen; die anderen aber, so behauptete er einfach, seien alle durch ein von ihm bestelltes Standgericht zum Tode verurteilt.

Die inzwischen am Bendlerblock eingetroffene Kampfgruppe des Wachbataillons musste ein Exekutionskommando stellen. Im Hof des Gebäudes befand sich damals ein Bunker, an dem Sand aufgeschüttet war. Fahrer erhielten den Befehl, mit den Scheinwerfern ihrer Fahrzeuge die Szenerie zu erhellen. Die Delinquenten mussten auf den Sandhaufen steigen. Dann legten die Schützen an.

Stauffenberg starb als Dritter. Vor seinem Tode hat er noch etwas gerufen, und was das war, ist bis heute umstritten. Eine Variante lautet: »Es lebe das heilige Deutschland!«

Seine Witwe meinte später, das habe zu ihm gepasst.

KLAUS WIEGREFE

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Diktator Hitler bei einer Lagebesprechung mit Generälen (im März 1945): Das Scheitern des 20. Juli gehört zu den großen Tragödien des vergangenen Jahrhunderts

WALTER FRENTZ

Hitler-Attentäter Graf Stauffenberg (1934) »Er bot ein stolzes Bild« ULLSTEIN BILDERDIENST - STIFTUNG 20. JULI 1944

Lagebaracke nach der Bombenexplosion Auftakt zum Staatsstreich ULLSTEIN BILDERDIENST

Zerstörter Lagetisch nach dem Attentat*: Die massive Stütze rettete den »Führer« NATIONAL ARCHIVES

Hitler bei einer Waffenvorführung in der Wolfschanze (1943): »Findet sich im Führerhauptquartier kein Offizier, der das Schwein umlegt?« WALTER FRENTZ

HANS SCHALLER / DER SPIEGEL

AKG

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INTERFOTO

Carl Friedrich Goerdeler (1884 bis 1945) Der nationalkonservative Ex-Oberbürgermeister (1930 bis 1937) von Leipzig verfasste mehrere Denkschriften für eine Neuordnung Deutschlands nach Hitlers Sturz. Er avancierte zum Mittelpunkt des zivilen Widerstands und war als Reichskanzler vorgesehen. Am 2. Februar 1945 hingerichtet.

Helmuth James Graf von Moltke (1907 bis 1945) Der Jurist arbeitete nach Kriegsausbruch als Völkerrechtsexperte im OKW. Auf seinem schlesischen Gut Kreisau versammelte er wichtige Widerständler. Verrat führte Anfang 1944 zu Moltkes Verhaftung. Wegen enger Verbindungen zum 20. Juli wurde er Anfang 1945 hingerichtet.

Ludwig Beck (1880 bis 1944) Aus Protest gegen Hitlers Kriegspolitik trat Beck 1938 als einziger General noch im Frieden zurück. Zuerst zögerlich, beteiligte sich der Ex-Generalstabschef des Heeres an der Verschwörung; er sollte Reichsstatthalter werden. Am 20. Juli 1944 nach Selbstmordversuch erschossen.

Henning von Tresckow (1901 bis 1944) Anfänglich für die Nazis, wurde der Berufsoffizier früh zum Hitler-Gegner. Ab 1942 plante er mehrere Anschläge auf den Diktator. Mit Stauffenberg arbeitete er die »Walküre«-Pläne für einen Staatsstreich um. Nach dem Scheitern tötete sich der Generalmajor mit einer Handgranate.

ULLSTEIN BILDERDIENST - STIFTUNG 20. JULI 1944

BUNDESARCHIV

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Ulrich von Hassell (1881 bis 1944) Jurist und Diplomat, wurde 1938 als Botschafter in Rom abberufen. Hassell vermittelte zwischen den verschiedenen konservativen und bürgerlichen Widerstandsgruppen. Auf Kabinettslisten des Widerstands als künftiger Außenminister genannt. Hingerichtet am 8. September 1944.

Friedrich Olbricht (1888 bis 1944) Als Chef des Allgemeinen Heeresamts war der General logistischer Kopf der Berliner Verschwörer. Um mit Stauffenberg das Attentat zu planen, holte er ihn als Stabschef zu sich. Olbricht löste den »Walküre«-Befehl mit aus. In der Nacht zum 21. Juli im Bendlerblock erschossen.

Peter Graf Yorck von Wartenburg (1904 bis 1944) Der Jurist und Reserveoffizier, im Wehrwirtschaftsamt tätig, galt als Herz des Kreisauer Kreises. In seiner Wohnung traf sich der Widerstand, den er aus christlicher Überzeugung unterstützte. Der Vetter Stauffenbergs wurde am 8. August 1944 verurteilt und hingerichtet.

Julius Leber (1891 bis 1945) Vier Jahre NS-Haft hatte der frühere SPD-Reichstagsabgeordnete bereits hinter sich, als er zum Kreisauer Kreis stieß und die Widerstandsbewegung nach links öffnete. Leber war als Reichskanzler im Gespräch, wurde aber vor dem 20. Juli verhaftet. Am 5. Januar 1945 hingerichtet.

Leicht verletzter Hitler nach dem Attentat*: »Hören Sie mich? Ich lebe also!« CORBIS

NATIONAL ARCHIVES

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Zange zum Scharfmachen der Bombe, Überreste, unbenutzter Sprengstoff Ein rissiger Klumpen spielte Schicksal NATIONAL ARCHIVES

Zerstörtes Dresden (im Februar 1945): Ein geglücktes Attentat hätte Millionen gerettet KARL HÖFFKES

Gedenkfeier im Bendlerblock in Berlin (1998): »Der 20. Juli ist angekommen« BERND SETTNIK / DPA

* Propagandaminister Joseph Goebbels (sitzend), ReichsmarschallHermann Göring (r.).* Mit Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, Hermann Göring undMartin Bormann.

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