Protest gegen Unionskurs im Bundestag

Holocaust-Überlebender gibt Bundesverdienstkreuz zurück

Albrecht Weinberg aus Leer hat die Konzentrationslager Bergen-Belsen und Auschwitz überlebt. Er wird 100 Jahre am 7. März 2025.

Albrecht Weinberg aus Leer hat die Konzentrationslager Bergen-Belsen und Auschwitz überlebt. Er wird 100 Jahre am 7. März 2025.

Berlin. „Ich habe es gern mal angesteckt“, erzählt Albrecht Weinberg. „Wissen Sie, nach allem, was ich in Deutschland erlebt habe als Jude, erfüllte mich das mit Stolz. Ich fühlte eine große, große Ehre, als ich es 2017 erhielt. Nun aber“, sagt der 99-Jährige, „will ich es nicht mehr.“ Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier wird von Albrecht Weinberg das Bundesverdienstkreuz zurückbekommen.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Weinberg hat die Konzentrationslager Auschwitz und Bergen-Belsen überlebt, seine Schwester Friedel und er waren die Einzigen ihrer Familie. In seinem Wohnort Leer in Ostfriesland gibt es eine Geschwister-Weinberg-Straße, im Nachbarort und Geburtsort Weinbergs, Rhauderfehn, erhielt das Gymnasium seinen Namen. Der alte Mann fühlt dies irgendwie alles mit einem Schlag entwertet. „Ich bin kein Politiker“, sagt Albrecht Weinberg dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND), „doch, was Friedrich Merz am Mittwoch im Bundestag durchgezogen hat, ist unverzeihlich. Bei mir hat sein Erfolg mit den Stimmen der AfD Urängste ausgelöst – und so schnell wird mir eigentlich nicht mehr bange.“

Der 99-Jährige, der bis 2012 in den USA gelebt hatte und noch kurz vor ihrem Tod 2012 mit seiner Schwester in die ostfriesische Heimat zurückgekehrt war, konnte überhaupt erst im Alter von 87 Jahren darüber reden, was ihm und seiner Familie von den Nationalsozialisten in Deutschland angetan worden ist. Bis heute redet er vor Schülern und Azubis über sein Leben und das Sterben in den Lagern. Dafür hatte er das Bundesverdienstkreuz erhalten. „Ich bin traurig“, sagt Weinberg, „aber auch wirklich wütend. Hoffentlich erhält Herr Merz, der ja Bundeskanzler werden will, mehr Gegenwind für seinen Kurs.“

Der Fotograf Luigi Toscano steht vor großformatigen Bildern seiner Ausstellung „Gegen das Vergessen“ auf dem Neumarkt vor der Frauenkirche Dresden.

Der Fotograf Luigi Toscano steht vor großformatigen Bildern seiner Ausstellung „Gegen das Vergessen“ auf dem Neumarkt vor der Frauenkirche Dresden.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Wie Weinberg will auch der Mannheimer Fotograf Luigi Toscano sein Bundesverdienstkreuz, das er 2021 von Steinmeier verliehen bekommen hatte, an den Bundespräsidenten zurückgeben. Der Unesco-Artist for Peace ist durch sein inzwischen seit zehn Jahren laufendes Projekt „Lest we forget“ und weltweite Ausstellungen von Porträts von Überlebenden auf öffentlichen Plätzen bekannt geworden. Gerade werden seine Porträts auf dem Mailänder Flughafen und an der Dresdener Frauenkirche gezeigt.

„Verrat an der Demokratie“

Toscano sagte dem RND: „Stunden vor der Abstimmung redet ein Holocaust-Überlebender in der Gedenkstunde des Bundestags über Verfolgung, Menschenfeindlichkeit und die Bedeutung von Demokratie und ihrer Bewahrung. Wenig später erzwingen Demokraten für eine reine Machtdemonstration eine Mehrheit mit Stimmen von Rechtsextremen. Und ausgerechnet beim Thema Migration, bei dem es auch um Verfolgung und Menschenfeindlichkeit geht. Das ist Verrat an der Demokratie.“

Toscano, der in dieser Woche in Auschwitz war und Donnerstag mit einer ukrainischen Holocaust-Überlebenden ein früheres Kinder-KZ in Polen besucht hat, begründet die Rückgabe des Bundesverdienstkreuzes auch damit, dass er enttäuscht von den Parlamentariern der demokratischen Parteien sei. „Ich bin mir sicher, dass es Wege gegeben hätte, diese Abstimmung auf demokratische Weise zu verhindern. Was soll ich den Holocaust-Überlebenden, die ich regelmäßig treffe, über den Zustand der Demokratie in Deutschland erzählen? Wie soll ich ihnen erklären, dass eine Partei, die künftig Deutschland regieren will, im Parlament mit Rechtsextremen stimmt? Tut mir leid, ich kann und will das nicht.“

Weinberg und der Fotograf haben ihre Rückgabe des Bundesverdienstkreuzes miteinander abgestimmt. Der 99-jährige Jude geht davon aus, dass weitere Überlebende Widerstand gegen die politische Vorgehensweise von CDU-Chef Friedrich Merz leisten werden. „In wenigen Wochen werde ich 100 Jahre alt“, sagt Weinberg. „Vom Leben habe ich nicht mehr viel zu erwarten, aber das wird noch einmal ein Höhepunkt.“

Zeitzeuge Albrecht Weinberg erzählt vom Holocaust im Zollhaus von Leer (Ostfriesland).

Zeitzeuge Albrecht Weinberg erzählt vom Holocaust im Zollhaus von Leer (Ostfriesland).

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Der Exekutiv-Vizepräsident des Internationalen Auschwitz Komitees, Christoph Heubner, warnt. „Der Blick der Überlebenden auf Deutschland verdunkelt sich“, sagte er dem RND am Donnerstag. Sie fühlten sich daran erinnert, wie es vor mehr als acht Jahrzehnten bei ihnen angefangen und wie es geendet hätte. „Und sie fragen sich, warum der Vorsitzende einer großen konservativen Partei, die bisher die Lehren aus der Geschichte des Holocaust und die Würde und die Lebensleistung der Holocaust-Überlebenden geachtet hat, plötzlich die Zusammenarbeit mit einer Partei für akzeptabel hält, die die Lehren aus der Geschichte des Holocaust auf den Müllhaufen bugsieren und die Erinnerungen und das Engagement der Holocaust-Überlebenden aus dem gesellschaftlichen Leben in Deutschland hinausdrängen will.“ Schon einmal, so Heubner, hätte man in Deutschland geglaubt, Rechtsextreme einhegen, zähmen und benutzen zu können. „Die Folgen sind bekannt.“

Aus dem Bundespräsidialamt hieß es auf RND-Anfrage, dass der Bundespräsident eine Rückgabe des Verdienstordens durch Weinberg und Toscano sicher sehr bedauern würde. Erst am Mittwoch hatte Frank-Walter Steinmeier in seiner Rede bei der Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus im Bundestag gesagte: „Die Shoah ist ein Teil der deutschen Geschichte. Sie ist, ob wir wollen oder nicht, Teil unserer Identität. Es gibt kein Ende der Erinnerung und deshalb auch keinen Schlussstrich unter unsere Verantwortung.“