Zum Inhalt springen

EM-Patriotismus Schwarz-rot-kompliziert

Zur Fußballeuropameisterschaft gibt sich Deutschland mal wieder dem schwarz-rot-goldenen Party-Patriotismus hin. Ganz natürlich und entspannt? So einfach ist es leider nicht.
Public Viewing bei der EM 2008 (in Hamburg)

Public Viewing bei der EM 2008 (in Hamburg)

Foto: A3833 Bodo Marks/ dpa

Keine Sorge, Sie können weiterlesen, ich mache hier nicht den Spielverderber. Wie mir geht es wahrscheinlich vielen von Ihnen. Ich schaue im Alltag nicht viel Fußball, aber wenn Turniere sind, wie jetzt die EM, dann bin ich dabei. Mal werde ich zum Frankreich-Fan, mal bin ich Azzurri-Anhänger. Vielleicht zittere ich dieses Mal besonders für England.

Darum geht es doch: Um das sportliche Kräftemessen unter Freunden bei einer großen WG-Party im Haus Europa. Und eine Party können wir alle gut gebrauchen, denn in unserer Europa-WG gab es in den letzten Monaten reichlich Missstimmung. Einige Bewohner meinen gerade, sich fremdelnd in ihren muffigen Zimmern verschanzen zu müssen.

Wer will, kann etwas aus seinem Zimmerchen mitbringen, einen Schal umlegen oder ein Fähnchen in seinen Nationalfarben schwingen. Schon seit Wochen kann man das schwarz-rot-goldene Fan-Zubehör überall erwerben. Ich mache da nicht mit. Als linksliberal geprägtes Kind der Siebzigerjahre habe ich kein entspanntes Verhältnis zu unseren Nationalfarben, ebenso wenig wie zu Deutschtümelei oder aggressivem "Schlaaaaand"-Gegröle.

Ich gehe aber auch nicht zum sogenannten antinationalen Public Viewing, wie es in Berlin seit Jahren veranstaltet wird, wo bei den Nationalhymnen der Ton ausgeschaltet wird und jegliche Landesinsignien verpönt sind. Das finde ich sympathisch, aber auch verkrampft.

Warum ist das immer noch ein so großes Thema?

Sie fragen sich jetzt vielleicht: Warum ist das immer noch ein so großes Thema? Kann ich nicht einfach meine EM genießen und dabei ganz unbefangen Patriot sein? Das wird doch wohl spätestens seit dem Sommermärchen von 2006 kein Problem mehr sein! Damals, bei der WM im eigenen Land, tünchten sich die Deutschen zum ersten Mal mit bis dahin unbekannter Entspanntheit in Schwarzrotgold. Die Welt wähnte sich zu Gast bei Freunden - und nicht nur Politiker jeder Couleur lobten damals den unverkrampften Umgang mit der Nationalsymbolik, auch international wurden wir bewundert.

Das gilt in der Außenwahrnehmung bis heute: Noch Anfang des Jahres wurde Deutschland erneut zum beliebtesten Land der Welt erklärt, auch bei Einwanderern gilt es als erste Wahl. Gelobt werden altgediente Tugenden wie Tüchtigkeit und Ordnungsliebe, Wirtschaftskraft und Wohlstand sowieso, aber auch unser verantwortungsvoller, selbstreflexiver Umgang mit unserer schweren, braunen Vergangenheit sowie unsere Weltoffenheit und Toleranz.

Ist also alles bestens mit Deutschland, oder?

Nein, ganz so schwarz-rot-geil ist es leider nicht. Denn der fröhliche Fahnenappell im und ums Stadion hat seine Schattenseiten. Gerade die deutsche Flagge wird dabei zum Symbol nationalistischer Triebe, die gerne mit einem gesundem Patriotismus verwechselt werden, damit aber gar nicht viel zu tun haben, wie Wissenschaftler von der Universität Marburg feststellten . Sie wiesen nach, dass Nationalismus fast immer mit Fremdenfeindlichkeit einhergeht, während Patriotismus solche Tendenzen eher selten beinhaltet. Oder, um es mit den Worten des einstigen Bundespräsidenten Johannes Rau zu sagen: "Ein Patriot ist jemand, der sein Vaterland liebt. Ein Nationalist ist jemand, der die Vaterländer der anderen verachtet."

Es ist nicht besser geworden, sondern schlimmer

Seit 2014, ausgerechnet das Jahr, in dem Deutschland Fußballweltmeister wurde, Zusammenhänge nicht ausgeschlossen, schwenken ausgerechnet die besonders eifrig und euphorisch die deutsche Flagge, die am wenigsten für Weltoffenheit und Toleranz stehen. Sie geben sich blind gegenüber der Tatsache, dass Deutschland längst eine ethnisch und kulturell diversifizierte Gesellschaft ist: Die Rechtsnationalen und -extremen von Pegida und Konsorten sowie die rechtspopulistische AfD.

Die Zurückdeutung der Deutschlandflagge vom Symbol eines möglicherweise unbefangenen Patriotismus zum Banner eines fremdenfeindlichen Nationalismus fand im Oktober 2015 einen Höhepunkt beim Auftritt des AfD-Politikers Björn Höcke in der Talkshow von Günther Jauch, als Höcke ein schwarz-rot-goldenes Fähnchen über seine Sessellehne legte und von einer tausendjährigen Zukunft für Deutschland schwadronierte. Da wird das Sommermärchen zur Gruselgeschichte.

Schon Ende 2006 machte sich übrigens unter Wissenschaftlern Ernüchterung breit. Eine Studie   ergab im Dezember des Jahres, dass nationalistische Tendenzen in Deutschland nach der WM nicht geringer geworden waren, sondern sich eher verstärkt hätten. "Vielleicht war die Welt während der Weltmeisterschaft tatsächlich zu Gast bei Freunden", kommentierte damals der Bielefelder Sozialforscher Wilhelm Heitmeyer, einer der Autoren der Studie, "aber danach war es damit wieder vorbei".

Seitdem ist es nicht besser geworden, sondern schlimmer. Landauf, landab brennen Flüchtlingsheime, es wird allen Ernstes die Frage diskutiert, ob man einen schwarzen, in Berlin geborenen und aufgewachsenen Nationalspieler wie Jérôme Boateng gerne als Nachbarn hätte, weil der AfD-Rechtspopulist Alexander Gauland mal wieder ein rhetorisches Zündholz geworfen hat.

"Gegenüber der WM 2006 und der damals eher tastenden nationalen Euphorie haben wir es jetzt in nicht unerheblichen Teilen der Bevölkerung mit einem rabiaten Trend und einem anderen "Normalitätsstandard" zu tun, der durch soziale Bewegungen, mit Gelegenheitsunterstützung auch durch das öffentlich-rechtliche Fernsehen zu Talkshow-Provokationen, stetig in aggressivere Richtungen verschoben wird, um wiederum neue "Normalitäten" zu schaffen," sagt Heitmeyer jetzt zu SPIEGEL ONLINE.

Diese Verschiebungen der Normalitätsstandards seien gefährlich, so Heitmeyer, "denn alles was als "normal" gilt, kann man danach kaum noch problematisieren und "zurückdrehen". "Emotionalisierte Großereignisse können dazu wieder ein Vehikel darstellen."

Das EM-begeisterte Fahnenschwenken wird daher besonders in diesem politisch schwierigen Jahr zur komplexen Angelegenheit. Einerseits dient der gemeinschaftliche Fußballjubel als gesellschaftlicher Kitt gegen soziale Zerfallserscheinungen, wie sie sich angesichts der größer werdenden Kluft zwischen Arm und Reich zurzeit zeigen. Aufs Deutschsein kann man sich im Zweifel immer einigen, wenn alles andere drumherum wegzubrechen droht.

Doch genau dieses Zusammenkleben der Nation zur schwarz-rot-goldenen Gemeinde fördert eben auch die Ausgrenzung all jener, die von einigen, lautstärker werdenden Gruppen als nicht deutsch begriffen werden: Flüchtlinge, Einwanderer oder Zugehörige anderer Glaubensgemeinschaften wie zum Beispiel Muslime. "Insgesamt", so Heitmeyer, "muss man zwischen einem kurzzeitigem, emotionalisiertem Event und dem tristen, langzeitlichen Alltag sehr deutlich unterscheiden. Euphorie ist ein flüchtiges Phänomen, hält nie lange an - und weicht schnell wieder dem alltäglichen Konkurrenzkampf". Das Fatale aber sei, "dass solche emotional ausbeutbaren Großereignisse immer die Gelegenheiten bieten, um zu fragen: Wer gehört eigentlich dazu?"

Eine Widersprüchlichkeit, die im Jubel für die multiethnisch und multireligiös besetzte deutsche Nationalmannschaft kulminiert: Wer begeistert und patriotisch Spitzensportler wie Boateng, Özil oder Gündogan anfeuert, ist eben nicht automatisch ein weltoffener und toleranter Weltbürger wie immer noch die meisten in den Stadien, vor dem Fernseher oder in der Kneipe. Er kann ebenso gut mit wehendem Deutschlandbanner in der Hand noch am selben Abend national berauscht ein Asylbewerberheim anzünden. Darin liegt die Ernüchterung und die Beunruhigung vor diesem Fußballsommerfest 2016.

Aber ich wollte ja kein Spielverderber sein. Was also tun? Ich halte es mit dem Bremer Sozialwissenschaftler Klaus Boehnke, der bereits zur letzten EM sagte: "Nationalismus oder Patriotismus sind rückwärtsgewandte Orientierungen. Wir leben in einem Zeitalter, wo es darauf ankommt, mit anderen international zu kooperieren. Da ist es nicht wichtig, schwarz-rot-goldene Fahnen aus dem Fenster zu hängen. Da ist nur wichtig, zu zeigen, dass wir offen sind für die Welt".

Warum also nicht, zu unserer hoffentlich terrorfreien WG-Party, zu Europa und zum Miteinander Farbe bekennen - leuchtend blau mit goldenen Sternen? Das wäre allein schon modisch ein großer Fortschritt. Und Europameister wären wir dann irgendwie auch schon.