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US-SATELLITEN BLICKEN IN DIE KREMLFENSTER

Unter Tausenden von Photos, die kürzlich in der Nähe von Washington in einem Gebäude ohne Firmenschild entwickelt wurden, befand sich eines, das einen durch eine Moskauer Straße gehenden Russen zeigt. Eigentlich nichts Besonderes -- abgesehen davon, daß die Kamera in einen amerikanischen Satelliten eingebaut war, der auf einer Umlaufbahn in mehr als 160 Kilometer Höhe um die Erde kreiste. Wissenschaftsredakteur Evert Clark vom amerikanischen Magazin »Newsweek« fand trotz strenger Geheimhaltung viele Einzelheiten über die Satelliten-Technologie der beiden Supermächte heraus. Der SPIEGEL druckt seinen Bericht über MILSATs, »Militärische Satelliten«, die geheim gestartet werden:
aus DER SPIEGEL 25/1969

Von den 458 US-Satelliten, die seit 1958 in den Weltraum geschossen wurden, dienten rund zwei Drittel militärischen Zwecken. In den Geheimdienstorganisationen der USA beschäftigen sich tagtäglich Tausende von Fachleuten der Phototechnik, der Elektronik, der Waffenkunde und der Wirtschaft mit der ersten, groben Auswertung der von den Satelliten beschafften Informationen. Ein großer Teil ihrer Arbeit besteht in routinemäßiger Durchsicht der Photos, Radarbilder und verschlüsselten Funkmeldungen, die von den Himmelsspionen einlaufen. Die wichtigsten Daten werden für Spezialisten aussortiert.

Das Raumfahrtbudget des Verteidigungsministeriums bewegt sich im Durchschnitt um zwei Milliarden Dollar pro Jahr, und im allgemeinen verstecken sich die »Militärischen Satelliten« (MILSATs) unter dem Budget-Titel »Militärische Astronautik. Außerdem ist anzunehmen, daß die (nicht veröffentlichten) Budgets der CIA und anderer Geheimdienstorganisationen Gelder enthalten, die für die Auswertung der Satelliteninformationen vorgesehen sind. Demnach dürften sich die jährlichen Kosten des MILSAT-Unternehmens der Vier-Milliarden-Dollar-Grenze nähern.

Zumindest Lyndon Johnson hielt den Aufwand für lohnend. Dank der Aufklärungs-Satelliten, so sagte er einmal, »weiß ich, wie viele Raketen der Gegner besitzt«. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, daß sein Nachfolger auf die MILSATs weniger Wert legt.

Immerhin sind die USA in der Lage, nicht nur abzuschätzen, wie viele Raketen vom Typ SS-9 die Russen in ihrem Machtbereich verteilt haben und wie modern das Atombombenprojekt der Rotchinesen ist -- sie können auch ermitteln, wie viele Tonnen Reis China in diesem Jahr voraussichtlich ernten wird und ob die Weizenfelder in Zentralrußland im kommenden Sommer unter Dürre zu leiden haben.

Mit Hilfe von Satelliten haben sich die USA und die Sowjet-Union so viele Informationen über einander beschafft, daß manche Beamte die vorsichtige Hoffnung äußern, eine Entspannung zwischen beiden Staaten könne schließlich von den Spionagesatelliten herbeigeführt werden. Charles S. Sheldon II. der Bibliotheksleiter der Science Policy Research Division (Abteilung für naturwissenschaftlichtechnische Forschungen) des amerikanischen Parlaments, hält die MILSATs für eines der Mittel, mit denen man das Wettrüsten unter Kontrolle bringen und verhindern könnte. daß es zu einem Atomkrieg kommt.

Bezeichnenderweise gaben die USA kürzlich bei der Abrüstungskonferenz in Genf zu erkennen, welches Vertrauen sie in die Aufklärungssatelliten setzen, und zwar dadurch, daß sie die Forderung fallenließen, bei vermuteten Verletzungen des Abkommens über die Produktion von Kernmaterial zu Kriegszwecken müßten amerikanische Spezialisten auch in Rußland selbst entsprechende Überprüfungen vornehmen können. Statt dessen gaben die USA bekannt, sie seien bereit, sich bei der Überprüfung der Atomanlagen auf die neutralen Mitglieder der Internationalen Atomenergiekommission zu verlassen. Eines allerdings machte Washington nicht publik, daß nämlich die Sowjet-Union bereits jetzt -- unter anderem -- durch Spionagesatelliten überwacht wird, deren Detektoren ein Ansteigen der Temperatur eines Flusses stromabwärts von dem Punkt feststellen können, an dem eine Fabrik zur Produktion von Kernmaterial vermutet wird: Das Ansteigen der Wassertemperatur deutet darauf hin, daß die Anlage in Betrieb ist. Diese Leistungsfähigkeit ihrer »Schnüffler« brauchten die USA schon deswegen nicht zu erwähnen. weil die Russen wissen. wie tüchtig ihre eigenen Himmelsspione sind.

Alles, was MILSATs betrifft -- seien es amerikanische oder russische Militärsatelliten -- ist nicht streng geheim, sondern supergeheim. In den späten fünfziger und frühen sechziger Jahren hatten sie wenigstens noch Namen. wie Samos ("Satellite and Missile Observation System"), Midas ("Missile Defense Alarm System") und Discoverer. Heute sind sogar die Namen verschwunden, und es gibt nur noch Kennziffern.

Samos wog 1180 kg; die heutigen MILSATs mögen 3600 kg wiegen. Ihre Trägerraketen sind häufig Agena D, ursprünglich eine obere Raketenstufe mit einem Durchmesser von 1,52 Meter und einer Länge von 10,60 bis 12,20 Meter.

So rasch sie gewachsen sind, so schnell haben sich auch ihre Fähigkeiten entwickelt. Einige der wichtigsten MILSATs sind:

Vorwarnungs-Satelliten (Kennziffer unbekannt). Diese Satelliten sind mit Infrarot-»Tastern« (Sensoren) ausgerüstet, werden in der Regel auf kreisförmige Umlaufbahnen geschossen und umrunden die Erde in 3200 km Höhe. Sie patrouillieren im Weltraum, um den Beginn eines Dritten Weltkriegs festzustellen; sie halten nach russischen, von U-Booten abgeschossenen Raketen und Kosmosbomben des Fractional Orbit Bombardment System (FOBS) sowie konventionellen russischen und chinesischen Interkontinentalen Raketen (ICBMs) Ausschau.

* »770«. ein Satellit mit Seitensicht-Radar. Er hat eine lange, schmale Antenne, die an der Längsseite der Agena-Trägerrakete angebracht ist, so daß der Elektronenstrahl nach rechts oder links »blicken« kann. Dieses Radargerät ist imstande, durch dicke Wolken zu »sehen« und das Terrain in vielen Einzelheiten aufzunehmen.

* »Ferret« (Kennziffer unbekannt). Diese Satelliten befassen sich mit »Elint« (electronic intelligence), elektronischer Spionage; es heißt, sie seien imstande, aus einer Höhe von 160 km gewöhnliche Telephongespräche abzuhören, was vielleicht eine Übertreibung ist. Normalerweise überwachen die »Ferrets« den routinemäßigen Funkverkehr der Armee und der Luftwaffe der Sowjet-Union, versuchen, die Betriebsfrequenzen der russischen und chinesischen Radarstationen festzustellen, und »kitzeln« stationäre Sender, so daß diese sich automatisch einschalten und ihre elektronischen Eigentümlichkeiten preisgeben.

* »823«, früher unter der Bezeichnung »Vela« bekannt. Es sind Satelliten zur Aufspürung von Kernenergie, deren Sensoren auf ultraviolette und Röntgenstrahlen reagieren und die bei einem Atombombentest frei werdenden Strahlungen auffangen. Manche gehen bis zu 112 000 km in den Weltraum hinein, um etwaige heimliche Atomversuche »hinter dem Mond« aufzuspüren. > »920 A«, früher unter der Bezeichnung »Advanced Samos« bekannt. Die in diese Satelliten eingebauten Spezialkameras, Objektive und Filme sind die besten technischen Geräte, die in der Gegenwart überhaupt verfügbar sind. Der Leistungsgrad wird unter anderem nach GRD -- »ground resolved distance« (etwa: Originalabstand der auf dem Film nebeneinander erscheinenden Rasterpunkte, oder, anders ausgedrückt, Feinkörnigkeit der Filmschicht) -- gemessen. Beträgt GRD 100 feet (30,48 m), dann lassen sich Küstenstriche und Flüsse identifizieren. Bei GRD 10 feel (3,05 m) können Straßen identifiziert werden. Von GRD 1 foot (0,305 m) an -- ein Leistungsgrad« von dem ein Fachmann glaubt, die USA erreichten ihn seit mehreren Jahren -- kann die Fabrikmarke eines Autos identifiziert werden. DEine Zeitung vom Weltraum aus zu entziffern, liegt im Bereich der Möglichkeiten«, sagt ein Spezialist, »aber derartige Informationen sind nicht gefragt.« Seiner Ansicht nach verwenden die USA »GRD von etwa 6 bis 18 feet (1,82 -- 5,48 m) um Gegenstände von der Größe eines Autos, eines Panzers, eines Flugzeugs oder kleinste Raketen zu erkennen

Zur Zeit des russischen Einmarsches in die Tschechoslowakei im vergangenen Sommer waren die MILSATs so scharfäugig, daß sie nicht nur eine sehr lange Truppenkolonne entdeckten, die durch Rumänien marschierte, sondern sogar die Einheit feststellen konnten. Dann aber verloren sie die Marschkolonne »aus den Augen« -- entweder, weil sie in einem Wald verschwand, oder, was wahrscheinlicher ist, weil das Gebiet von dichten Wolken verdeckt wurde.

Für manche Satelliten-Aufnahmen werden Filme benutzt, die für infrarote Strahlen empfindlich sind; mit solchen wärmeempfindlichen Sensoren können amerikanische MILSATs den Produktionsausstoß einer Fabrikanlage verfolgen, eine nachts mit ausgeschalteten Scheinwerfern auf einer Landstraße fahrende Autokolonne im Auge behalten, in der Luft befindliche Düsenmaschinen, in Häfen einlaufende oder einen Hafen verlassende Schiffe verfolgen oder auch Test-Abschüsse mit neuen Raketenantrieben auf dem Kosmodrom Tjuratam beobachten.

Außerdem gibt es MILSATs für geodätische Entzifferung russischer oder chinesischer Angriffsobjekte im Falle eines Atomkrieges und für die Erforschung neuen Materials und neuer Sensoren.

Das Programm ist so umfangreich, daß die Aufklärungs-Satelliten sogar ihrerseits Aufklärungs-Satelliten haben -- sie bilden eine Geheimflotte von Wetter-Raumschiffen, die den amerikanischen Satelliten-Kontrollzentren Wetterkarten der Sowjet-Union oder des chinesischen Festlandes beschaffen; solche Informationen bestimmen, wann neue, mit Kameras ausgerüstete MILSATs gestartet und wann die Kameras der bereits um die Erde kreisenden MILSATs ein- oder ausgeschaltet werden sollen.

Die amerikanischen MILSATs werden von der Luftwaffenbasis Vandenberg, rund 240 km nordwestlich von Los Angeles, gestartet. Mit Kameras ausgerüstete Satelliten werden nicht aufs Geratewohl in den Raum geschossen. Wenn sie zum Beispiel nach sowjetischen Raketen Ausschau halten sollen, werden mögliche ballistische Bahnen zwischen Rußland und einigen mutmaßlichen Zielen in den USA berechnet. Die ballistische Bahn wird dann von dem US-Ziel aus »zurückverfolgt« zu mutmaßlichen Raketenabschußbasen in der Sowjet-Union -- das wiederum hängt hauptsächlich von der Reichweite ab, die man einer bestimmten russischen Rakete zuschreibt.

Die über die Pole verlaufende Umlaufbahn wird häufig benutzt, so daß fast alle Gegenden der Erde »bestrichen« werden. Mit Kameras ausgerüstete MILSATs werden in der Regel auf nicht sehr hohe Umlaufbahnen befördert; sie umkreisen die Erde in Höhen von etwa 145 bis 400 km. »Ferrets« werden normalerweise in einer Höhe von etwa 480 km auf eine fast kreisförmige Umlaufbahn gelenkt.

Amerikanische MILSATs können sieben bis 25 Tage lang die Erde umkreisen. Manche Messungen werden per Funk an Empfangsstationen geleitet, die vermutlich in Guam, auf Hawaii, in Alaska und New Hampshire liegen, außerdem an Flugzeuge und Schiffe, die sich an bestimmten Positionen befinden.

Möglicherweise ist auch am Pine Gap in Australien eine Empfangsstation installiert, denn die »Kiefernschlucht« war Gegenstand heftiger russischer Propagandasendungen, und manche Australier befürchten, ihretwegen könnten sie ein potentielles Ziel für russische Raketen sein.

Weitraum-Logbücher, die von der Uno und anderen Organisationen geführt werden, geben Hinweise, wann ein MILSAT wieder in die Atmosphäre eintritt, doch solche Angaben können täuschen: Es lassen sich nämlich »Kapsel«-Päckchen herstellen, so daß der belichtete Film in seinem eigenen kleinen Raumschiff, komplett mit Hitzeschikl und Fallschirm, zur Erde zurückkehrt. Die Kapseln werden in der Regel in der Nähe der Hawaii-Inselgruppe rund 3000 m über dem Pazifik von speziellen Transportflugzeugen der Luftwaffe aufgefangen.

Russische Spionagesatelliten umkreisen die Erde meistens acht »rage lang. Manche haben die Größe eines Wostok-Raumschiffs (4500 kg) und landen intakt auf dem Festland, wie es auch bei bemannten sowjetischen Raumschiffen üblich ist.

Die USA und die Sowjet-Union sind im Begriff, Super-Spionagesatelliten zu entwickeln. Die Satelliten der Russen sind jetzt imstande, bis zu 14 Tagen im Weltraum zu funktionieren, und lassen schätzungsweise jede Woche Filmkapseln zur Erde fallen. Diese Spionage-Satelliten versuchen oft, getauchte Polaris-U-Boote der USA in den Ozeanen aufzuspüren.

Am 6. August vergangenen Jahres scholl die amerikanische Luftwaffe den »Integrated Satellite« auf seine Umlaufbahn -- den ersten MILSAT, der mehrere, zu einem Paket zusammengefaßte »Schnüffel«-Systeme mit sich führte, darunter Infrarot-Sensoren, Röntgenstrahlen-Detektoren und Fernsehkameras.

Dieser »Integrated Satellite« (IS) wurde auf eine Laufbahn gelenkt, deren größte Erdnähe 19 686 Meilen (31 674 km) und deren größte Erdferne 24 769 Meilen ( 39 853 km) betrug. Sie entsprach damit beinahe der synchronischen Umlaufbahn-Höhe von 22 300 Meilen (= 35 880 km), bei der die Umlaufgeschwindigkeit des Satelliten der Erdrotation entspricht. Ein synchronisierter Satellit »schwebt« daher »unbeweglich« über einem bestimmten Gebiet der Erde,

Die beinahe synchronisierte Umlaufgeschwindigkeit des IS ermöglicht ihm theoretisch, Nordvietnam, die südliche Hälfte Chinas und das Zentrum der Sowjet-Union zu überwachen. In größter Erdnähe bewegt sich IS schneller als die Erde und dringt daher bis zum Südchinesischen Meer vor; in größter Erdferne bewegt er sich langsamer als die Erde und weicht daher bis zum Subkontinent Indien zurück.

Im Norden »schwebt« IS fast direkt über Saigon, im Süden »schwebt« er südlich von Djakarta vorbei. So beschreibt er praktisch immer wieder eine langsame 8 über der asiatischen Landmasse. Gegenwärtig werden noch raffiniertere Modelle des IS entwickelt, deren Gewichte von 544 bis 3600 kg reichen.

Während diese Himmelsspionage im Gange ist, hat sich auf dem Gebiet der Gegenmaßnahmen eine lebhafte Tätigkeit entwickelt. Wolkendecken, die natürliche Tarnung, wenn sich ein Staat dem Blick von Aufklärungssatelliten entziehen möchte, sind nicht immer voraussagbar.

Die Russen benutzen deshalb angeblich Hubschrauber, um Mannschaften und Material zu ihren Raketen-Abschußbasen zu befördern, damit man auf verräterische Spuren wie Straßen verzichten kann. Und es ist möglich, daß Rotchina in der Wüste Sinkiang in der Nähe seiner Versuchsanlagen Lop Nor Schein-Testanlagen aufgebaut hat, um die amerikanischen Himmelsspione zu täuschen,

Mit solchen Taktiken kann man zwar Satelliten In die Irre führen, die nur mit Kameras ausgerüstet sind, doch sämtliche »Schnüffel«-Systeme eines »Integrated Satellite« sind dadurch wahrscheinlich nicht zu täuschen.

Sind die Raketensilos aufgenommen und die Bomber- und U-Boot-Basen unter ständiger Überwachung, können die MILSATs andere Aufgaben übernehmen. Beim US-Geheimdienst entwickelt sich ein neues Spezialgebiet, das »Econ recon« (economic reconnaissance), Wirtschaftsaufklärung, genannt wird. Reispflanzen etwa geben infrarote Strahlen ab, die sich deutlich von denen des Weizens unterscheiden.

Damit nicht genug: Gesunde Reispflanzen unterscheiden sich durch ihre charakteristischen Infrarot-Strahlen auch von kranken Reispflanzen. Spezielle Sensoren, mit denen zur Wirtschaftsspionage bestimmte Satelliten ausgerüstet sind, können die Anbaugebiete Rotchinas überwachen, um festzustellen, ob die Ernte des betreffenden Jahres eine Rekordernte wird oder unter dem Durchschnitt bleibt.

Mit Wirtschaftsspionage-Satelliten könnten sich außerdem technisch hochentwickelte Staaten über noch unentdeckte Öl- und Mineralienreserven in unterentwickelten Ländern informieren. Dank der Technologie ist es durchaus möglich, daß eines Tages Spionagesatelliten auch für jedes kleine Land erreichbar werden.

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