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„Die Reform des Bürgergeldes ist Klassenkampf von oben“

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Die Debatte um das Bürgergeld hält an. Ökonom Patrick Kaczmarczyk über schärfere Sanktionen auf dem Arbeitsmarkt, zu niedrige Löhne und Nebelkerzen der FDP.

Die Debatte über das Bürgergeld geht unvermindert weiter. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder fordert, das Nachfolgesystem von Hartz IV abzuschaffen, der CDU schwant die „Vorstufe zum bedingungslosen Grundeinkommen“ und in der SPD wird auch heftig gestritten – mal wieder.

Patrick Kaczmarczyk blickt mit Ernüchterung auf die Debatte. Im Interview spricht der Politikökonom, Berater und Autor, der auch Mitglied im Wirtschaftsforum der SPD ist, über den Vorwurf der Faulheit, die geplanten Änderungen beim Bürgergeld und die Orientierungslosigkeit in der Politik. Zu Beginn des Gesprächs stellt Kaczmarczyk klar: Er spreche nicht für das Wirtschaftsforum. „Es sind meine persönlichen Ansichten.“

Herr Kaczmarczyk, alle scheinen derzeit übers Bürgergeld zu sprechen. Vor allem in der SPD, die ja auch Ihre Partei ist, rumort es. War die Reform von Hartz IV ein Fehler?

Die Reform war kein Fehler, sondern dringend notwendig. Hartz IV war nicht mehr zeitgemäß und hat ohnehin nur funktioniert, weil Deutschland Teil der Währungsunion war und mit Hilfe von Hartz IV die Löhne gedrückt hat, um Vorteile im internationalen Wettbewerb zu haben. Es war ein plumpes: Wir müssen die Leute in Jobs prügeln, koste es, was es wolle. Mit eigener Währung hätte sich die verbesserte Wettbewerbsfähigkeit durch eine Aufwertung erledigt. In der Eurozone konnte sich Deutschland auf Kosten des europäischen Auslands sanieren. Hartz IV hat damals die Verhandlungsposition der Beschäftigten extrem geschwächt – um nichts anderes geht es auch bei den Verschärfungen beim Bürgergeld.

Das Bürgergeld sollte die SPD mit ihrer jüngeren Vergangenheit versöhnen. Das hat nicht geklappt.
Das Bürgergeld sollte die SPD mit ihrer jüngeren Vergangenheit versöhnen. Das hat nicht geklappt. © imago images/photothek

Sie sprechen es an: Die Ampel-Parteien wollen das Bürgergeld verschärfen. Es soll höhere Sanktionen bei verpassten Terminen und bei abgelehnten Arbeitsangeboten geben. Es gibt neue Meldepflichten, Arbeitswege von täglich bis zu drei Stunden sollen zumutbar sein, die Karenzzeit beim Schonvermögen wird abgesenkt, illegale Arbeit härter bestraft. Sind das sinnvolle Veränderungen?

Für mich ist die Reform des Bürgergeldes einerseits Ausdruck der Verzweiflung und der ökonomischen Orientierungslosigkeit in der Politik, andererseits Klassenkampf von oben. Die Regierung adressiert damit in jedem Fall kein einziges, realwirtschaftliches Problem. Wir bräuchten massive Investitionen in die Infrastruktur, Bildung, Bahn und so weiter – und deutlich mehr dynamische Nachfrage. Das reale Konsumniveau liegt unter dem Niveau von 2019! Anstatt dem entgegenzuwirken, holt man lediglich die Peitsche raus. Inzwischen kommen wieder zwei Arbeitslose auf eine offene Stelle. Wie will man die Leute in Arbeit bringen, wenn es nicht genügend Jobs gibt?

Patrick Kaczmarczyk , (33) ist Entwicklungsökonom, Berater bei der UN-Organisation für Welthandel und Entwicklung (UNCTAD) und Mitglied im Wirtschaftsforum der SPD.
Patrick Kaczmarczyk , (33) ist Entwicklungsökonom, Berater bei der UN-Organisation für Welthandel und Entwicklung (UNCTAD) und Mitglied im Wirtschaftsforum der SPD. Sein Buch „Raus aus dem Ego-Kapitalismus. Für eine Wirtschaft im Dienste des Menschen“ ist im Westend Verlag erschienen. © privat

Warum werden andere, drängendere Fragen nicht adressiert?

Die Regierung weiß nicht, was sie tun soll. Geld ausgeben? Geht nicht mit Finanzminister Christian Lindner. Dem einen oder anderen in der SPD und bei den Grünen kommt das aber auch gelegen. Deshalb fabuliert man über Bürokratieabbau und haut auf Geringverdiener und Erwerbslose drauf, spielt sie gegeneinander aus. Hinzu kommt, dass die Mittel für die Jobcenter gekürzt werden sollen. Das macht alles noch absurder.

Trotzdem: Auch Abgeordnete der SPD berichten derzeit von Kritik aus der Wählerschaft, die Partei toleriere Faulheit, obwohl überall Personal fehlt.

Ob Faulheit toleriert wird, ist eine empirische Frage – und da zeigt die Arbeitsmarktforschung, dass es einfach nicht stimmt. Das Bürgergeld war eine Antwort auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts: Das Bürgergeld muss ein Existenzminimum garantieren, auch für Menschen, die nicht arbeiten. Das ist ein Gebot der Verfassung. Das Bürgergeld ist das Existenzminimum, nicht mehr und nicht weniger. Das ist der erste Punkt. Zweitens wird oft der fehlende Abstand zu den Löhnen kritisiert. Und das ist doch in erster Linie ein Problem der Lohnhöhe, nicht des Bürgergeldes. Aber auf das Lohnproblem wird nur sehr selten verwiesen. Das ist erschreckend. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass viele Menschen im Bürgergeld aufstocken – mehr als 800 000 Menschen arbeiten, aber mit ihren Löhnen kommen sie nicht über die Runden. Also: Wir müssen viel mehr über die niedrigen Löhne sprechen statt über das Bürgergeld.

Die Union bezeichnet das Bürgergeld als „Vorstufe zum bedingungslosen Grundeinkommen“.

Das ist nicht mehr als Populismus. Klar, man könnte über das Problem der hohen Transferentzugsraten sprechen, darüber, wie man noch bessere Erwerbsanreize schafft. Aber auch dann landet man irgendwann bei den Löhnen. Mit der Debatte über das Bürgergeld lenken die Konservativen von Problemen ab, für die sie nach ihrer langen Regierungszeit maßgeblich mitverantwortlich sind: hohe Mieten, knapper Wohnraum, niedrige Löhne, teure Lebensmittel, hohe Energiepreise. Wenn all diese sozioökonomischen Faktoren stimmen würden, dann würde das Bürgergeld auch keine Sprengkraft entwickeln.

Wie könnte man die Situation der Menschen denn verbessern?

Die Hebel habe ich gerade genannt. Das Wichtigste wäre eine angemessene Lohnpolitik, also mehr Wumms beim Mindestlohn und Tarifverträgen. Gerne können wir auch über eine geringere Steuerbelastung für Arbeit sprechen: Erträge aus Kapital werden hierzulande sehr gering besteuert, während Arbeit sehr hoch besteuert wird, da könnte man ran. Man könnte auch über eine Anpassung der Transferentzugsraten nachdenken – also, dass Ansprüche auf staatliche Unterstützung langsamer entzogen werden. Darüber hinaus müssen in den Großstädten die Mietpreise sinken. Das geht nur über eine Ausweitung des Angebots, da ist die Bundesregierung gefragt. All das würde Druck aus dem Kessel nehmen. Doch stattdessen drischt man auf die kleine Gruppe der Totalverweigerer ein. Das ist kein fortschrittlicher Weg.

Dabei war die Ampel-Regierung doch als „Fortschrittskoalition“ angetreten.

Das war eine schöne Idee, übrig geblieben ist davon nicht viel.

Aus der FDP und von Finanzminister Lindner hört man oft: Wir müssen es einfacher machen für die Menschen, in Aktien zu investieren und sich Wohneigentum zu kaufen. Ist das ein Weg?

Wohneigentum, gerne. Aktien, gerne. Aber natürlich muss man dafür auch einen Lohn haben, von dem man sich ein bisschen was zu Seite legen kann. Aber 40 Prozent der Deutschen haben nichts auf der hohen Kante liegen. Das zeigt: Im System stimmt etwas nicht. Doch im Grunde geht es der FDP und vielen Konservativen um etwas anderes, wenn sie auf Aktien und Immobilien verweisen. Es ist nicht mehr als eine Hinhaltetaktik, ähnlich wie der Ruf nach Technologie-Offenheit. Man sagt im Prinzip, dass alles gut ist, wie es ist, nur dass man eben an bestimmten Stellschrauben drehen müsste, wie beispielsweise dem individuellen Sparverhalten. Gleichzeitig macht man eine Politik, die die bestehenden Verhältnisse zementiert, die dafür sorgt, dass sich Menschen nichts zur Seite legen können. Wenn man dann fordert, dass die Menschen mehr in Aktien investieren sollen, ist es irgendwas zwischen einer Nebelkerze und Heuchelei.

Die Ampel regiert seit knapp drei Jahren. Sind Sie ernüchtert von der Politik der Bundesregierung?

Ja, extrem. Natürlich waren es nicht die einfachsten Bedingungen, aber die Ergebnisse waren – von einigen Bereichen wie der Energie abgesehen, wo Einiges auf den Weg gebracht wurde – absolut enttäuschend. Das Versprechen, mehr Fortschritt zu wagen, hat die Koalition nicht erfüllt. Und dafür werden die Ampel-Parteien bei der nächsten Wahl abgestraft werden.

Die SPD könnte sich in eine unionsgeführte Koalition retten.

Das wird sicher schwieriger, aber auf der anderen Seite auch authentischer. Bei der Union unter Friedrich Merz weiß man, dass sie nichts für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer machen wird. Das ist dann eine konservative Regierung, von der klar ist: Sie macht Klientelpolitik für die oberen ein bis zehn Prozent und der Rest muss schauen, wo er bleibt. Das ist immerhin ehrlich, da passt das Label zum Inhalt der Packung. Die Ampel dagegen sagt, sie wolle „mehr Fortschritt wagen“, macht dann aber das genaue Gegenteil, wie beispielsweise beim Bürgergeld. Andere Themen wie die desolate Nahostpolitik und Angriffe auf die Wissenschaftsfreiheit haben wir noch nicht einmal angesprochen.

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