Horb · Vortrag

Kern aller Verschwörungstheorien

Warum Antisemitismus heute wieder ein Thema ist und was ihn kennzeichnet, dazu stellte Michael Blume in Horb seine eigene Theorie vor.

19.10.2019

Von Philipp Koebnik

Fast 150 Besucher verfolgten den Vortrag des Landesbeauftragten gegen Antisemitismus, Michael Blume, in der MGG-Mensa. Bilder: Karl-Heinz Kuball

Fast 150 Besucher verfolgten den Vortrag des Landesbeauftragten gegen Antisemitismus, Michael Blume, in der MGG-Mensa. Bilder: Karl-Heinz Kuball

Wegen des erwarteten Besucheranstroms war der Vortrag „Warum der Antisemitismus uns alle bedroht“ vom Museum Jüdischer Betsaal in die Mensa des Martin-Gerbert-Gymnasiums verlegt worden. Zu Recht: Knapp 150 Interessierte folgten am Donnerstagabend den Ausführungen des Beauftragten der Landesregierung gegen Antisemitismus, Michael Blume. Zu der Veranstaltung eingeladen hatten die Katholische Erwachsenenbildung Kreis Freudenstadt und der Rexinger Synagogenverein.

Vor dem Hintergrund des Anschlags auf eine Synagoge in Halle an der Saale vor zehn Tagen bewachten zwei Polizisten die Veranstaltung. Doch Blume zeigte sich gelassen. Die Beamten hätten ihn beruhigt: „Keine Sorge, wir sind hier in Horb.“ Es wurde dann auch ein entspannter Abend. Blume streute immer wieder humoristische Bemerkungen in seinen frei gehaltenen Vortrag ein – immerhin hat er mehrere Kabarettstücke geschrieben (siehe Infobox). So klärte der 43-Jährige das Publikum gleich zu Beginn darüber auf, dass er mit einer Muslimin verheiratet ist und drei Kinder hat. Das zeige: „Der interreligiöse Dialog kann fruchtbar sein.“ Gleichwohl widmete er sich ernsten Fragen: Warum ist Antisemitismus heute wieder ein Thema? Weshalb nehmen antisemitische Straftaten zu?

Die Bedeutung von Sem

Blume entfaltete im Folgenden seine eigene Theorie darüber, was Antisemitismus kennzeichne und worin er begründet liege. Dazu erläuterte er zunächst die Etymologie des Begriffs Antisemitismus. Dieser leite sich ab von Sem, einem der drei Söhne der alttestamentarischen Figur des Noah. Sem ist der biblischen Überlieferung zufolge der Vater Abrahams, der als Stammvater der abrahamitischen Religionen (Judentum, Christentum, Islam, Samaritaner, Mandäismus, Bahaitum und Rastafari) gilt.

Rassisten behaupteten, Sem habe eine Rasse begründet. „Das ist völliger Quatsch“, betont Blume. Vielmehr handle es sich bei Sem um den ersten Begründer eines Lehrhauses, also einer Schule, und den ersten Menschen, der Religion und Recht in Alphabetschrift gelehrt habe. Dass es sich bei Sem um eine mythologische Figur handelt, bestreitet Blume indes nicht.

Auf Sem gehe das „Ideal einer allgemeinen Bildung“ zurück. Das hebräische Alphabet sei leichter zu lernen als etwa eine komplexe Hieroglyphenschrift und ermögliche es so, dass jedes Kind Lesen und Schreiben lernen könne. Ja, Blume geht noch weiter: Die „Gleichheit aller Menschen“ und die „Würde des Einzelnen“ ließen sich darauf zurückführen. Als Beleg zieht er eine der ältesten hebräischen Schriften heran, in der es heißt, dass man auch Sklaven Lesen und Schreiben beibringen solle. Die Sklaverei als menschenverachtendes System wird dabei freilich vorausgesetzt.

Gott als konstitutioneller Monarch

Im Alten Testament wird erzählt, Gott habe seine Entscheidung, die Sintflut über die Menschheit zu schicken, bereut. Daraufhin habe er sich selbst an ein Gesetz gebunden, sich gleichsam eine „Verfassung“ gegeben. So habe sich Gott vom zornigen, willkürlichen, absoluten Herrscher zum „Partner“ der Menschen gemacht. Symbol dieses „Noah-Bunds“ ist der Regenbogen. Gott habe einen „Rechtsstaat, in dem alle in Frieden und Freiheit leben können“, gefordert. Die Gleichberechtigung aller Menschen gehe darauf zurück.

Während abrahamitische, also semitische Religionen durch eine lineare und optimistische Weltsicht gekennzeichnet seien, zeichneten sich Antisemiten durch ein zyklisches und apokalyptisches Verschwörungsweltbild aus.

Medien als Chance und Gefahr

Blume unternahm einen Parforceritt durch die Weltgeschichte und zeigte jeweils auf, wie – aus seiner Sicht – bestimmte Medien mit der Verbreitung semitischer oder antisemitischer Inhalte zusammenhingen und -hängen. So habe die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern einerseits zu einer Demokratisierung geführt: Ein einfacher Mann aus Wittenberg, Martin Luther, konnte plötzlich den Papst herausfordern. Doch habe der Buchdruck andererseits auch die Hexenverfolgung befördert. Der „Hexenhammer“ verknüpfte Frauenfeindlichkeit beziehungsweise Hexenglauben mit einem antisemitisch-teuflischen Verschwörungsmythos. Und Luther selbst habe sich in seinen letzten Lebensjahren in einen radikalen Antisemitismus hineingesteigert.

Ende des 15. Jahrhunderts untersagte hingegen der osmanische Sultan den Buchdruck für die islamische Welt – laut Blume der entscheidende Grund, weshalb diese, die der christlichen Welt bis dahin in den Wissenschaften überlegen war, den Anschluss verlor. In der Folge habe sich unter Muslimen ein antisemitischer Verschwörungsmythos etabliert: Die Juden als Verhinderer eines Aufstiegs der islamisch geprägten Welt. Dass es dort keinen Buchdruck gab, sei auch die Ursache dafür, dass es keine islamische Reformation gab.

In späteren Jahrhunderten wurde in Europa das Schulsystem eingeführt. Das Bildungsniveau stieg. Anders in den islamischen Ländern – bis der Begründer der türkischen Republik, Mustafa Kemal Atatürk, das lateinische Alphabet eingeführt und das Land so nach vorne gebracht habe. Neue Medien erschütterten jedesmal die Welt. Im 20. Jahrhundert hätten die Nazis die neuen Medien Radio und Film genutzt, um ihre Botschaften unters Volk zu bringen, während ihre Gegner auf das alte Medium Zeitung gesetzt hätten. Jene neuen Medien hätten die Nazis „mit an die Macht gebracht“, so Blume.

Antisemitische Mythen heute

In der heutigen Zeit dienten die sogenannten sozialen Medien wie Facebook und Twitter den Anhängern von Verschwörungstheorien. Entscheidend sei, dass stets die Juden als „Kopf“ einer Verschwörung gelten, ob diese „jüdische Weltverschwörung“ nun mit den Freimaurern, Illuminaten, Sinti und Roma, Kommunisten, Jesiden, Flüchtlingen, dem Chemtrail- oder Reptiloiden-Mythos verknüpft werde. So habe die Nutzung dieser neuen Medien zur Wiedererstarkung des Antisemitismus auch in Deutschland geführt.

Blume zufolge gibt es „keine Entwarnung“. Er bezeichnete den Antisemitismus als „globale Gegenreaktion“ gegen Freiheit, Würde und Rechtsstaat. Und eben dadurch bedrohe der Antisemitismus alle: Weil Antisemiten sich letztlich gegen Rechtsstaatlichkeit, Gleichberechtigung und Menschenwürde an sich wenden. Jede und jeder müsse daher dem antisemitischen Hass entgegentreten.

Kern aller Verschwörungstheorien

Finanzassistent, Landesbeauftragter und Kabarettist

Michael Blume wurde 1976 in Filderstadt geboren. Er hat Religions- und Politikwissenschaft in Tübingen studiert. Zuvor absolvierte er eine Ausbildung zum Finanzassistenten bei der Landesbank Baden-Württemberg. Blume ist Christ und Mitglied der CDU. Zum christlich-islamischen Dialog schrieb er mehrere Kabarettstücke.

Von 2003 an war Blume Referent für interkulturellen und interreligiösen Dialog in der Grundsatzabteilung des Staatsministeriums Baden-Württemberg. 2011 wurde er Referatsleiter für Kirchen, Religion und Integration. Seit 2016 ist Blume Referatsleiter für „nichtchristliche Religionen, Werte, Minderheiten, Projekte Nordirak“. Im März 2018 wurde er von der Landesregierung zum Antisemitismusbeauftragten für Baden-Württemberg ernannt. 2014 übernahm Blume im Auftrag von Ministerpräsident Winfried Kretschmann die Leitung der Mission „Sonderkontingent Nordirak“. Dabei war er verantwortlich, 1100 Schutzbedürftige, vor allem jesidische Frauen und Mädchen, aus dem Nordirak nach Deutschland zu bringen.

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Erstellt:
19.10.2019, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 4min 10sec
zuletzt aktualisiert: 19.10.2019, 01:00 Uhr

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