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Foto: Misha Friedman

Korruption in der Ukraine Die Kampfansage

Die Ukraine ist das korrupteste Land Europas. SPIEGEL ONLINE hat Menschen getroffen, die das ändern wollen. Sie kämpfen gegen Gier, Willkür und Sabotage.

Korruption ist staatszersetzend. Sie zerstört das Vertrauen der Bürger in die Institutionen und bedroht den gesellschaftlichen Frieden. Mehr als 1,3 Billionen Euro gehen weltweit pro Jahr durch Bestechung verloren - die Uno hat den Kampf für mehr Transparenz in den Nachhaltigkeitszielen verankert.

Aber wie sieht so ein Kampf aus? Wer hat den Mut, ihn zu führen? Und was sind die täglichen Hindernisse? SPIEGEL ONLINE ist in das korrupteste Land Europas gefahren, um Antworten zu finden: die Ukraine.

Foto: Misha Friedman

Die Streifenpolizei

Jung, engagiert, ein Feigenblatt

Schichtwechsel bei der Streifenpolizei in Boryspil. Lieutenant Maja Breslawska steht aufrecht vor einer Gruppe junger Männer, die sich in Zweierreihe formiert haben. In pechschwarzen Uniformen, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, starren sie auf den Asphalt des schmucklosen Hinterhofs in der Nähe von Kiew.

Einige der hochgewachsenen Jungs könnten der 31-Jährigen locker auf den Kopf spucken. Tun sie aber nicht, denn Breslawska ist hier die Chefin. Und was für eine.

Als erste Frau leitet sie eine der 28 Polizeiwachen im Land, die seit Sommer 2015 aufgebaut wurden. In ihrem ersten Leben war die zierliche Ukrainerin Leistungssportlerin, ihr Sportgerät das Florett. Beim Fechten waren Disziplin, Ausdauer und gute Reflexe gefragt - Fähigkeiten, die sie als Vorgesetzte von 178 Beamten gut gebrauchen kann.

Breslawska gehört zu einer neuen Generation von Polizisten, einer, die wenig gemein hat mit den schmerbäuchigen Wegelagerern, als die ihre Vorgänger, die Milizionäre, berüchtigt waren. Von einem Verkehrspolizisten angehalten zu werden, war in der Ukraine seit Sowjetzeiten mit Bestechung, dem Zahlen willkürlich bezifferter "Bußgelder" verbunden.

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Die neue Polizei: Schluss mit Schmieren

So wie Breslawska geht es vielen ihrer Kollegen, die den proeuropäischen Kurs des "Euro-Maidan", der "Revolution der Würde", unterstützen. Genauso wichtig wie Ideologie scheint Kommunikation zu sein. "Der Umgang miteinander hat sich verändert, das ganze System. Die Vorgesetzten hören uns jetzt zu, sie geben etwas auf unsere Meinung", sagt eine 22-jährige Beamtin in Boryspil. "Es sind kluge, gute Menschen zur Polizei gestoßen, Leute, die für die Idee arbeiten." Der neue Stil hat auch mit der Zusammensetzung des Personals zu tun: Das Durchschnittsalter in der Truppe liegt bei gerade mal 25 Jahren, 15 Prozent der neuen Polizisten sind Frauen.

In Boryspil befindet sich der internationale Flughafen von Kiew, ein strategisch sensibles Objekt, besonders in Kriegszeiten. "Es besteht die Gefahr von Terroranschlägen. Wir sind 24 Stunden vor Ort und arbeiten eng mit den anderen Sicherheitskräften zusammen", sagt Beslawska. In ihrem Team gibt es mehrere Männer mit militärischer Kampferfahrung, einer von ihnen hat am Flughafen in Donezk im Osten des Landes gegen prorussische Separatisten gekämpft.

Nur zehn Prozent der neuen Polizisten stammten aus der alten Milizstruktur, betonte Innenminister Arsen Awakow. Um sich auch äußerlich von der zweifelhaften Vergangenheit abzugrenzen, führten die Reformer neue schwarze Uniformen im US-Stil ein. Mini-Kameras am Revers produzieren Videos, die später als Beweismittel genutzt oder gar im Reality TV gezeigt werden.

Die neue Polizei ist ausgesprochen populär bei den Bürgern - immer wieder werden die Cops auf der Straße angesprochen und gebeten, für Selfies zu posen. "Die Leute fühlen sich sicherer, weil wir präsent sind, 24 Stunden am Tag", sagt Breslawska. Nur Soldaten genießen laut einer Umfrage des Kiewer Instituts für Soziologie mehr Vertrauen als die neue Streifenpolizei.

Die Polizei hat heute öffentliche Sprechstunden, ein Beschwerdetelefon, Präventionsprojekte an Schulen. Ab und zu reisen die jungen ukrainischen Polizisten in die USA, nach Kanada oder Deutschland, um mit ausländischen Kollegen zu trainieren.

Reality-TV in der Ukraine: So arbeitet die neue Polizei

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"Meine Leute müssen in Einsatztaktik geschult sein, aber sie müssen vor allem die Gesetze kennen und in der Lage sein, zu deeskalieren. Mit dem Draufhauen ist es vorbei", sagt Maja Breslawska. Mit dem Geldereinsammeln angeblich auch. "Wir machen den Leuten sehr schnell klar, dass sie mit Bestechung eine Straftat begehen, für die sie belangt werden können", sagt ein Beamter. Ab und zu stellt die Polizei Videos ins Internet, auf denen zu sehen ist, wie Streifenpolizisten einen Richter oder Staatsanwalt für Verkehrsdelikte zur Verantwortung ziehen - etwas, das früher undenkbar gewesen wäre.

Geld und Uniformen aus den USA, Streifenwagen aus Korea und Japan, TV-PR in eigener Sache - all das sei nichts weiter als Kosmetik und politische Einflussnahme aus dem Ausland, bemängeln die Reformgegner. So werde man den tiefer liegenden Ursachen der Korruption nicht beikommen. Das mag sein - dennoch hat sich ein Paradigmenwechsel, ein Bewusstseinswandel bei den Bürgern vollzogen: Sie haben erstmals eine Idee davon, dass Sicherheitskräfte für und nicht gegen die Menschen agieren können. Ohne dieses neu gewachsene Vertrauen in die Institutionen kann keine Strukturreform funktionieren.

Zwischen 350 und 530 Euro im Monat verdienen die Polizisten. Dafür hat Sguladse gesorgt. Das ist doppelt so viel wie der Durchschnittslohn und etwa fünf Mal mehr, als ein Milizionär früher bekam.

Auf die Frage, wie viele Stunden sie arbeitet, runzelt Breslawska unwillig die Stirn. "Keine Ahnung, ich komme gegen 8 Uhr und bleibe wohl so bis Mitternacht." Neulich hätten sie nachts noch eine Leiche im Straßengraben gefunden, 20 Stiche im Brustkorb, nicht besonders tief, der Täter war wohl eine Frau. "Als wir die Sache der Kripo übergeben haben, waren wir seit 48 Stunden auf den Beinen", sagt sie.

Ihre Überstunden rechnet Breslawska nicht ab. Der Job ist ihr Leben. "Seit April haben wir 1,5 Millionen Hrywnja Bußgelder eingetrieben, mehr als 52.000 Euro", berichtet sie stolz. In Boryspil bleibt davon allerdings nicht viel hängen. Beslawska träumt von einem Fitnessraum für ihre Beamten, auch der Aufenthaltsraum müsste dringend renoviert werden. Aber es sind keine Mittel da.

Schon jetzt mangelt es in einigen Polizeirevieren an Geld für Benzin, Ersatzreifen oder wichtige Reparaturen an den Streifenwagen. Die Reformer mahnen dringend eine nachhaltige Finanzierung des Apparats an - andernfalls könnte die neue Struktur scheitern.

Ist die neue Patrouillenpolizei also nichts weiter als eine schillernde Blase auf der brackigen Oberfläche eines riesigen Korruptionssumpfes? Der Index von Transparency International listet die Ukraine auf einem beschämenden 130. von insgesamt 167 Plätzen - zusammen mit Ländern wie Kamerun, Iran oder Paraguay.

Knapp 67 Prozent der Ukrainer sind laut einer Umfrage der Meinung, dass Bestechlichkeit ein elementarer Teil der eigenen Mentalität ist. Das Vertrauen der Bürger in staatliche Institutionen ist auf einem Rekordtief.

Auch Staatsanwälte, Richter, Politiker und die Steuerbehörden gelten als mehrheitlich bestechlich, nicht nur der Sicherheitsapparat. Immer wieder räumen frustrierte Reformer ihren Posten freiwillig - oder sie werden geschasst, weil sie beim Geschäftemachen stören.

Auch die Initiatorin der Polizeireform, Eka Sguladse, stellte im Mai ihr Amt zur Verfügung, nachdem einige ihrer ehrgeizigen Reformvorschläge gescheitert waren. Sguladse macht sich keine Illusionen: Die Patrouillenpolizei ist die Speerspitze, das Feigenblatt, mit dem sich die Regierung schmückt, wenn ihr fehlender Einsatz gegen die Korruption vorgeworfen wird. "Wir brauchen mehr Reformen, in allen Bereichen."

Foto: Valentyn Ogirenko/ REUTERS

Korrupte Richter

Bei Entlarvung einfach schießen

Wie hemmungslos ukrainische Beamte Gesetze missachten, zeigt der Fall eines Bezirksrichters aus Odessa: Weil er eine halbe Million Griwna, knapp 18.000 Euro, Bestechungsgelder kassiert haben soll, bekam Aleksej Buran Ende März Besuch. Die Ermittler des Nationalen Antikorruptionsbüros (NABU) wollten sein Haus durchsuchen. Buran fackelte nicht lange und griff zur Waffe. Mehrmals feuerte er auf die Beamten, verletzte einen und verbrannte dann vor den Augen der Ermittler Kaufverträge für Immobilien im Ausland.

"Die Richter benehmen sich so zügellos, weil sie sich völlig sicher und protegiert fühlen", sagt Oleksi Chmara von Transparency International in Kiew. "Laut Gesetz genießen sie Straffreiheit - nur wenn das Parlament die Immunität aufhebt, können sie für Straftaten zur Verantwortung gezogen werden. Aber das passiert höchst selten. Die Ermittlungen werden in der Regel schnell eingestellt, weil die örtlichen Behörden genauso korrupt sind."

Im Fall Buran geschah etwas anderes - er wanderte in Untersuchungshaft. "Das ist ein gutes Zeichen", sagt Chmara. "Das Antikorruptionsbüro geht glaubhaft gegen Korruption vor, das war vor einem Jahr noch unvorstellbar." Auch die Zahl der Verfahren gegen Parlamentarier, Minister oder Staatsanwälte sei gestiegen.

Transparency International leistet einen wichtigen Beitrag: Die Mitarbeiter gleichen die offiziellen Angaben von korruptionsverdächtigen Personen über ihren Besitz mit der Realität ab. Derzeit ermittele das Antikorruptionsbüro gegen einen Richter, der acht Häuser und zwölf Autos besitze und bei dem mehrere Hunderttausend Dollar in bar gefunden worden seien. Der Mann verdient offiziell 10.000 Hrywnja im Monat - rund 360 Euro.

"Etwa 80 bis 90 Prozent der Richter sind korrupt", sagt Chmara ungerührt. "Sie urteilen so, wie es der vorgibt, der am meisten zahlt." Das gesamte Gerichtswesen sei zudem eng mit der Präsidialadministration verzahnt, und das nicht erst, seit Petro Poroschenko im Amt ist. "Die Regierung bestimmt die Entscheidungen der Gerichte", so Chmara.

Auch von den 450 Abgeordneten im Parlament seien mindestens 200 bestechlich, veranschlagt Chmara. "In der Werchowna Rada sind alle miteinander verwoben, viele machen gemeinsam Geschäfte, haben Offshore-Firmen. Die Wahrscheinlichkeit, dass das Parlament ihre Immunität aufhebt ist sehr gering."

"Die Ukraine ist nicht so reich, dass sie sich korrupte Richter leisten kann", erklärte Petro Poroschenko unlängst im Parlament. Der Druck auf den Präsidenten ist groß. Der Internationale Währungsfonds (IWF) und andere westliche Kreditgeber drängen auf sichtbare Strukturreformen.

Anfang Juni wurden im Parlament tatsächlich wichtige Änderungen zur Reform des Justizapparats beschlossen. In erster Lesung wurde das Gesetz 4734 verabschiedet. Es regelt eine stufenweise Erhöhung der Richterbezüge und entzieht dem Präsidenten das Recht, Richter zu ernennen und abzuberufen. Die absolute Immunität der Richter soll einer "funktionalen Immunität" weichen. Dadurch können Richter strafrechtlich für Delikte zur Verantwortung gezogen werden, die indirekt Einfluss auf ihre Tätigkeit haben - also etwa die Annahme von Bestechungsgeldern.

Justizminister Pawel Petrenko erklärte Ende Mai, im Rahmen der Justizreform würden 800 noch von der Janukowitsch-Administration bestellte Richter entlassen werden.

Vorsicht, Kriegsgewinnler

Länder, die mit ausufernder Korruption zu kämpfen haben, sind prinzipiell anfälliger für kriegerische Konflikte, das ist bekannt. Die Auseinandersetzungen zwischen ukrainischen Truppen und prorussischen Separatisten im Donbass haben geschätzt 9500 Ukrainer das Leben gekostet. Der Krieg hat der Wirtschaft des Landes nachhaltig geschadet. Aber mit ihm ist auch sehr viel Geld zu verdienen.

"Für den Krieg mit Russland gibt die Ukraine derzeit etwa eine Milliarde Euro im Jahr aus", sagt Oleksi Chmara. "Wir kaufen im eigenen Land Waffen und Ausrüstung für die Soldaten - allerdings ohne öffentliche Ausschreibungen." Es sei auffallend, dass die Mehrzahl der Firmen, die Waffen lieferten, enge Verbindungen zu einer Gruppe um Ex-Premier Arsenij Jazenjuk und den Innenminister Arsen Awakow hätten. Auch im Umfeld von Präsident Poroschenko gäbe es Rüstungsfirmen, die Aufträge erhielten.

"Allerdings weiß niemand, wie viele und welche Art von Waffen zu welchen Preisen gekauft werden - und ob sie überhaupt in den Kriegsgebieten eingesetzt werden", so Chmara. Offiziell würde das Zurückhalten von Informationen etwa aus dem Generalstab mit Sicherheitsbedenken begründet. Transparency geht davon aus, dass es Korruption bei der Auftragsvergabe gibt. "Wir schätzen, dass etwa 30 Prozent des Budgets, also rund 300 Millionen Euro, in Kanälen verschwinden, die bisher unbekannt sind. Wir brauchen dringend eine Überwachungsstelle für Rüstungsausgaben."

Foto: Konstantin Chernichkin

Der Antikorruptions-Staatsanwalt

Ganz schnell große Fische fangen

Nasar Cholodnyzki ist Chef der neuen Anti-Korruptionsstaatsanwaltschaft in Kiew. Gerade hat der 31-Jährige beim neuen Generalstaatsanwalt Informationen angefordert über die mächtigen Oligarchen Wiktor Pinchuk und Igor Kolomoiskij. Worum es genau geht, will er nicht sagen - Ermittlergeheimnis.

"Die Leute wollen, dass wir ganz schnell die ganz großen Fische fangen - aber die kleinen richten auch viel Schaden an", sagt Cholodnyzki. Gerade sechs Monate sind seit Gründung der Staatanwaltschaft vergangen - der junge Ermittler reagiert genervt auf überzogene Forderungen: "Ich kann doch nicht in so kurzer Zeit ein System zum Einbrechen bringen, das schon seit Sowjetzeiten existiert."

Strukturen müssen geschaffen werden, Abläufe geübt, Kompetenzen geklärt. "Wir brauchen mindestens zwei Jahre, um nachhaltig Veränderungen anzustoßen." Ein paar Erfolge hat das Team bereits zu verzeichnen: Laut Cholodnyzki muss sich ein hoher Beamter der staatlichen Innovationsbehörde wegen Korruption vor Gericht verantworten. Außerdem ermittelten die neuen Staatanwälte in mehr als einem Dutzend anderer Fälle, sieben davon gegen mutmaßlich bestechliche Richter. Die Zusammenarbeit mit dem europäischen Ausland sei gut, grenzübergreifende Ermittlungen kosteten aber viel Zeit: "Die Bürokratie in der Schweiz oder Tschechien ist genauso schwerfällig wie bei uns", sagt Cholodnitzki.

Der Rechtswissenschaftler stammt aus dem westukrainischen Lwiw (Lemberg), begann seine Karriere in der Kiewer Staatsanwaltschaft und wurde nach den Protesten auf dem Maidan 2014 an die Generalstaatsanwaltschaft berufen. Ausgerechnet der hochumstrittene, inzwischen wegen Reformbehinderung geschasste Generalstaatsanwalt Wiktor Schokin hatte ihn zum Leiter der Antikorruptionsstaatsanwaltschaft ernannt. Doch bisher hält sich Cholodnyzki im Job.

Kritik an Präsident Poroschenkos, durch die Panama Papers bekannt gewordenen Offshore-Aktivitäten will der junge Staatsanwalt nicht üben: "Die Tatsache, dass Poroschenko Offshore-Firmen besitzt, ist an sich noch kein Straftatbestand." Jedem, der Poroschenko gewählt habe, sei schließlich bewusst gewesen, dass er ein schwerreicher Unternehmer ist - "im Gegensatz zu Wiktor Janukowitsch, von dem niemand genau wusste, woher all sein Geld stammt".

Der als Kleptokrat verhasste prorussische Ex-Präsident Janukowitsch steht seit kurzem unter Verdacht, aus schwarzen Kassen seiner "Partei der Regionen" zwischen 2008 und 2012 etliche Millionen Dollar Bestechungsgelder gezahlt zu haben, um gewählt zu werden und später die Macht von Präsident und Partei zu sichern. Selbst die Partei seines damaligen Konkurrenten Wiktor Juschtschenko soll daraus große Summen kassiert haben, um ihm ins Amt zu verhelfen.

Juschtschenkos Sprecherin bezeichnete entsprechende belastende Dokumente als Fälschungen. Cholodnitzki formuliert vorsichtig: "Das sind interessante Unterlagen, die jetzt sehr sorgfältig auf ihre Authentizität geprüft werden." Experten aus dem US-Justizministerium sollen dabei helfen. Ein ehemaliger hoher Beamter des ukrainischen Geheimdienstes SBU hatte die Dokumente dem Antikorruptionsbüro (NABU) zugespielt. Seit Ende Mai wird in der Sache ermittelt.

"Wichtig ist, dass dies mit kühlem Kopf geschieht", betont Cholodnyzki. Gesetzestreue und Sachlichkeit sind Grundvoraussetzung für den Job eines Anti-Korruptionsstaatsanwalts. Aber auch Mut. Auf die Frage, ob er manchmal um sein Leben fürchte, sagt Cholodnitzki: "Nur ein Idiot hat keine Angst."

Foto: Misha Friedman

Der Zoll

Die Maidan-Kämpferin und das Korruptionssyndikat

Semen Kryvonos hat schlechte Laune. Wütend schaut er in die Gesichter der etwa 30 leitenden Beamten, die gekommen sind, um sich vom Zoll in Odessa briefen zu lassen. "Wer glaubt, mit unseren Reformen nicht konform gehen zu können, kann hier und jetzt aufstehen und seinen Abschied einreichen!", sagt Kryvonos. "Glaubt nicht, dass wir nicht wissen, was einige von euch so treiben. Manchmal reagieren wir nicht sofort. Aber wir reagieren, darauf könnt ihr euch verlassen."

Es kehrt Stille ein. Einige Anwesende senken den Kopf, tauchen ab, wie man es aus dem Schulunterricht kennt. Andere haben sichtbar Mühe, ihre Abneigung gegen den forschen Kryvonos im Zaum zu halten.

Kurz zuvor hatte die Chefin des Zolls von Odessa, Julija Maruschewska, ihre Mitarbeiter freundlich und bestimmt dazu aufgerufen, Probleme zu thematisieren, transparent zu arbeiten, die Gesetze zu achten und das miese Image der Zollbehörden weiter aufzupolieren. Sie hat höhere Gehälter versprochen und an die Verantwortung jedes einzelnen Inspekteurs appelliert. "Alle schauen auf uns, danke, dass Sie den Versuchungen widerstehen."

Im traditionell mafiösen Odessa, dem größten Hafen der Ukraine am Schwarzen Meer, sind die "Versuchungen" riesig: Schmuggel, Diebstahl, Deklarationsschwindel und Bestechung gehören hier seit Generationen zum Alltag. 1303 Beamte sind derzeit an neun Zollstationen im Dienst. Offiziellen Angaben zufolge nehmen sie für den Staat monatlich 1,2 Milliarden Hrywnja ein, umgerechnet 42 Millionen Euro.

Eine Menge Geld, die Begehrlichkeiten weckt. Laut ukrainischem Korruptionsindex rangiert der Zoll an Platz zwei der korruptesten Institutionen. Maruschewska zufolge mussten korrupte Amtsanwärter bis vor Kurzem etwa fünf Millionen Dollar Bestechungsgeld berappen, um an ihren Job zu kommen, Chef vom Zoll zu werden. "Die Vorgesetzten haben ihren Mitarbeitern Vorgaben gemacht, wie viel Geld sie in bar pro Monat zu beschaffen hatten - es herrschte ein Art korrupte Planwirtschaft", erzählt sie.

Dass die 26-jährige Literaturwissenschaftlerin zur Leiterin der Behörde ernannt wurde, war ein Schlag ins Gesicht für viele Alteingesessene. Zu jung, ohne Vorbildung oder Berufserfahrung und offenbar entschlossen, der Korruption beizukommen. Während der proeuropäischen Maidan-Proteste wurde sie mit einem Videoclip, in dem sie die internationale Gemeinschaft aufforderte, den Demonstranten zu helfen, zum "Poster Girl" der Revolution. Jetzt ist sie in den Niederungen des Korruptionssumpfes angekommen - und trifft auf heftigen Widerstand.

Etwa ein Dutzend Leiter regionaler Zollbehörden forderten in einem offenen Brief ihren Rücktritt. Die Bauarbeiten am neuen Zollterminal in Odessa verzögern sich, weil das Ministerium für Infrastruktur bremst. Und mit einigen Vertretern der örtlichen Steuerbehörde hat Maruschewska massive Probleme: "Dort sitzt das postsowjetische Korruptionssyndikat, das mich loswerden will", sagt sie und lächelt kaum wahrnehmbar. Sabotage sei an der Tagesordnung, das alte System wehre sich gegen mehr Transparenz und Kontrollen. Steuer- und Zollfahndung, auch der Staatsschutz versuchten, die Reformen durch Störmanöver wie willkürliche Durchsuchungen zu blockieren.

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Maruschewskas Waffen gegen Anschuldigungen und Verleumdungen sind Facebook und Twitter. Sie dokumentiert öffentlich die Vorwürfe, versucht sie zu entkräften, postet Dokumente und Stellungnahmen. Neulich hat sie einen offenen Brief an Präsident Poroschenko geschrieben, in dem sie der Regierung mangelnde Unterstützung vorwarf. "Stehen Sie auf unserer Seite oder auf der anderen?", fragte Maruschewska.

Die Antwort des Präsidenten ließ auf sich warten. Dann, Ende Mai, stellte sich Poroschenko plötzlich wieder sichtbar hinter die Reformerin. Das neue Terminal solle schnellstens fertiggestellt, ein neuer Gebietsstaatsanwalt bestellt, gar ein eigenes regionales Antikorruptionsbüro in Odessa eröffnet werden. Der neue Premier Wolodimir Hrojsman besuchte Maruschewska persönlich in der Hafenstadt.

Der Zoll ist ein Politikum. An seinem Erfolg wird auch die Leistung von Micheil Saakaschwili gemessen, dem Gouverneur der Provinz Odessa. Der ehemalige georgische Präsident und Wortführer der Rosenrevolution von 2003 wurde als Antikorruptionsexperte in die Ukraine geholt. Bei sich zu Hause soll er während seiner Amtszeit ordentlich aufgeräumt und die Alltagskorruption spürbar reduziert haben. Jetzt soll er das Wunder von Georgien am Schwarzen Meer wiederholen. Maruschewska ist Saakaschwilis Zögling. Der Zoll profitiert von seinen guten Verbindungen in die USA - unter anderem gibt es Hilfsleistungen von der Behörde für Entwicklungshilfe USAID.

Maruschewska hat große Pläne: Der Zoll soll modernisiert und komplett umstrukturiert werden. "Wir wollen den Faktor Mensch auf ein Minimum reduzieren, um Korruption zu verhindern", sagt sie. Im Rahmen der Automatisierung und Digitalisierung von Prozessen werde es Personaleinsparungen geben. Vor allem sollen korrupte Beamte ersetzt werden. "Wir haben 130 neue Zollbeamte eingestellt, engagierte Kollegen, die unvorbelastet sind und intensiv geschult werden." Die alten Recken loszuwerden, gestaltet sich allerdings schwierig: Derzeit gibt es lediglich Zwischenlösungen wie Versetzungen, Erziehungsurlaube oder Sabbaticals.

Auch strafrechtliche Sanktionen gab es bisher nicht. Immer wieder verzeichne man Fälle von Bestechung, Verdachtsmomente lägen gegen mindestens 30 Beamte vor. Doch bisher konnte niemand wegen Korruption entlassen werden, sagt Maruschewska.

Die persönliche Bilanz der Reformerin für das vergangene halbe Jahr fällt trotzdem positiv aus: Als erste staatliche Institution beteiligte sich der Zoll an der Internetauktionsplattform ProZorro, über die öffentlich Aufträge transparent für jeden und offen für alle Unternehmen vergeben werden. "Mit dem neuen System können wir das Land verändern", sagen die Macher.

So Kämpft ProZorro gegen Korruption

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Die Bearbeitungszeit im Zoll wurde laut Maruschewska von vier Stunden auf nur eine gesenkt, die Inspektion wird per Live-Webcam übertragen, der gesamte Verzollungsprozess am Computer nachvollzogen. Wenn Container zu lange stehenbleiben, müssen sich die zuständigen Inspekteure verantworten. Das ist wichtig, denn oft zögern korrupte Beamte die Verzollung verderblicher Waren künstlich hinaus, um mehr Bestechungsgeld einzustreichen.

Sind die Ukrainer historisch bedingt korrupter veranlagt als andere Nationalitäten? Maruschewska schüttelt energisch den Kopf: "In der Sowjetunion war es normal zu klauen. Das war aber nicht der Mentalität geschuldet, sondern den politischen Zuständen." Die Sache sei ganz einfach: "Man muss den Menschen ein Gehalt zahlen, von dem sie würdevoll leben können. Selbstachtung und Selbstverantwortung müssen gestärkt werden."

Ein Zöllner verdient derzeit etwa 2000 Hrywnja, rund 70 Euro, im Monat. "Das ist absurd, davon kann man nicht einmal die Miete bezahlen", sagt Maruschewska. "Nur wenn sie zehnmal mehr verdienen, müssen sie nicht mehr stehlen."

Während die einen hoffen, dass die 26-Jährige scheitert, beten die anderen, dass sie durchhält. Maruschewska bringt neben ihrer Jugend und dem Elan eine wichtige Voraussetzung mit: Sie hat großen Spaß an der Herausforderung. "Es ist spannend, dass ich die Zukunft gestalten kann, Dinge in Form bringen", sagt sie. Ob Kreativität und Angriffslust das Kartell der Korrupten sprengen können, bleibt abzuwarten.

Foto: Misha Friedman

Geschasster Staatsanwalt

Ermittlungen bitte einstellen!

"Staatsanwälte entscheiden bei uns über Millionen Menschenleben. Deshalb müssen sie immer auch Manager und Politiker sein."

Der Mann, der das sagt, war bis vor kurzem stellvertretender Generalsstaatsanwalt der Ukraine. Jetzt steht Davit Sakwarelidze vor jungen Studenten in einem Hörsaal in Winnyzja und malt eine Korruptionspyramide an die Tafel. Um diese zum Einstürzen zu bringen, müsse man sich von der Basis an die Spitze vorarbeiten, erklärt er. Die Spitze, das ist die Regierung.

Mit der hat Sakwarelidze schlechte Erfahrungen gemacht: "Komm, lass uns etwas verändern", habe ihm Präsident Petro Poroschenko bei seiner Amtseinführung 2015 gesagt. "Ich habe das wörtlich genommen und angefangen, korrupte Staatsanwälte zu entlassen. Ich habe einen Aktionsplan für eine Reform der Staatsanwaltschaft entworfen, außerdem ein Sparprogramm. Meinem Chef hat das nicht gefallen."

Der Chef - das war Generalstaatsanwalt Wiktor Schokin, ein Urgestein der ukrainischen Strafverfolgungsbehörden, von Poroschenko unterstützt, aber so eindeutig reformunwillig, dass er schon nach 14 Monaten im Amt entlassen wurde. Am 3. April nahm er seinen Abschied - nicht ohne vorher seinen internen Widersacher Sakwarelidze zu feuern. Der habe "die Moral der Staatsanwaltschaft auf Gröbste verletzt", so der Vorwurf.

Sakwarelidze sieht das anders: Schokin soll Untergebene geschützt haben, die im Skandal um die sogenannten "Diamanten-Staatsanwälte" als tatverdächtig galten. Im Sommer 2015 waren bei Hausdurchsuchungen Hunderttausende Dollar Bargeld und Diamanten bei Beamten gefunden worden. "Einer der Diamanten-Staatsanwälte war Schokins Chauffeur, ein Mann, den er jahrelang gefördert hat", sagt Sakwarelidze.

Auch, dass er Eignungstests für Staatsanwälte auf Regionalebene eingeführt habe, sei nicht gut angekommen, meint Sakwarelidze. Als die ersten Beamten begriffen hätten, dass sie die Prüfung nicht bestehen, seien sie zu Schokin gerannt und hätten sich beschwert: "Denk dir was aus. Dein Georgier macht seltsame Sachen." Sakwarelidze ist sich im Rückblick sicher: "Ich wurde entlassen, weil der Präsident keine radikalen Reformen in der Staatsanwaltschaft wünscht."

Tatsächlich verlief schon die Berufung des neuen Generalstaatsanwaltes alles andere als demokratisch. Damit Poroschenkos Favorit Jurij Luzenko das Amt übernehmen konnte, wurde eigens ein Gesetz verabschiedet, das es erlaubt, auch bei fehlender Qualifikation als Kandidat anzutreten. Luzenko, einst Innenminister unter Wiktor Janukowitsch, ist kein Jurist, sondern Elektroingenieur. Und bereits der vierte Generalstaatsanwalt innerhalb von zwei Jahren.

Der Personalwechsel in Schlüsselpositionen ist rasant in der Ukraine. Viele Reformer werden geschasst oder gehen freiwillig, weil man ihnen Steine in den Weg legt. Ausländische Kreditgeber und Investoren beobachten die Entwicklung mit Sorge, der Abgang des geschätzten Wirtschaftsministers Aivraras Abomavicius im Februar wurde scharf kritisiert. Abomavicius hatte sich geweigert, einen Stellvertreter zu akzeptieren, der Topmanager des staatlichen Gasunternehmens Naftogas war.

Sakwarelidze gehört zum Reformerkreis um den Georgier Micheil Saakaschwili. Der Ex-Präsident aus Tiflis ist in fast allen Fraktionen umstritten – wegen seines polternden politischen Stils und nicht zuletzt, weil er im eigenen Land wegen Amtsmissbrauchs strafrechtlich verfolgt wird. Saakaschwili selbst bezeichnet die Anklage als politisch motiviert.

Sakwarelidze steht treu zu Saakaschwili, der heute ukrainischer Staatsbürger und Gebietsgouverneur von Odessa ist. Beide treiben ehrgeizige politische Ziele - gerade sind sie dabei, eine Partei zu gründen. Mitarbeiter und ein Büro in Kiew gibt es bereits, das Ganze sei "eine Frage von Wochen", sagt Sakwarelidze. Will Saakaschwili Präsident der Ukraine werden? "Er hat gezeigt, dass er Korruption bekämpfen kann. Er wäre einer der wenigen großen Politiker, die den Oligarchen etwas entgegensetzen können", sagt Sakwarelidze.

Bis es soweit ist, tourt der 35-Jährige durchs Land und betreibt Awareness-Kampagnen, die immer auch ein bisschen Wahlkampf sind. Er wettert über die Manie, immer mehr Gesetze zu erlassen, nur weil es an politisch kohärenten Prinzipien, einer Ideologie, mangele. Die Hälfte der derzeit 22.500 Beamten bei der Staatsanwaltschaft würde er aus Spargründen sofort entlassen. Er preist die Deregulierung der Märkte und outet sich als Reaganomics-Fan.

Was immer man von den neoliberalen Positionen Sakwarelidzes halten mag - der Mann mit dem weichen Jungengesicht und dem leicht gekrümmten Rücken hat eine klare Vorstellung davon, was die Ukraine gerade braucht: "Es sollte Trend werden, kompromisslos zu sein, für Reformen zu kämpfen, eine Nulltoleranz für Korruption zu entwickeln", sagt Sakwarelidze. Bestechlichkeit müsse härter bestraft, die Strafgesetzgebung effizienter gestaltet werden, wie in Italien oder Rumänien. Es sei utopisch zu glauben, die Zöglinge des alten Systems ließen sich integrieren: "Sie dürfen auf keinen Fall in entscheidenden Positionen bleiben."

Was die Ukraine brauche, seien integre politische Schwergewichte. "Minister, Staatsanwälte oder Behördenleiter, die bereit sind, ihr persönliches und berufliches Schicksal aufs Spiel zu setzen, um ihren Kindern und Enkeln ein Land zu hinterlassen, in dem es sich lohnt, ehrlich zu leben."

Laut Sakwarelidze gibt es genug ehrliche junge Leute im Land, die dazu fähig sind. "Gewöhnt euch nicht an das, was ist", ruft er den Studenten in Winnyzja zu. Die meisten hören nur halb zu. Sie tippen auf ihren Handys herum. Und warten auf das Ende der Aufklärungsstunde.

Forum: Wie kann der Kampf gegen Korruption gelingen? Diskutieren Sie mit.

Autorin und Videos: Annette Langer

Fotos: Misha Friedman (alle Bilder bis auf Abbildung Oberstes Gericht (REUTERS/Valentyn Ogirenko) und Nasar Cholodnyzki (Konstantin Chernichkin))

Übersetzung aus dem Ukrainischen: Maxim Sergienko

Fotoredaktion: Ireneus Schubial, Maxim Sergienko

Bewegtbild: Theresia Schneider, Anne Martin

Redaktion: Birger Menke

Dokumentation: Almut Cieschinger und Claudia Niesen

Schlussredaktion: Dörte Karsten, Hannah Panten, Eva Maria Hoerpel, Sebastian Hofer

Programmierung und Grafiken: Chris Kurt, Michael Niestedt, Aida Marquez Gonzalez, Christina Elmer, Anna Behrend, Patrick Stotz, Achim Tack

Koordination: Jule Lutteroth

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