Bundessozialgericht

Verhandlung B 1 KR 16/22 R

Krankenversicherung - Kostenerstattung - Mastektomie - transidentitäre Geschlechtsidentitätsstörung

Verhandlungstermin 19.10.2023 14:30 Uhr

Terminvorschau

N. N. ./. Techniker Krankenkasse
Die Beteiligten streiten um die Erstattung der Kosten einer beidseitigen Mastektomie (operative Brustentfernung). 

Die als Frau geborene klagende Person ließ im Oktober 2019 ihren Vornamen und die Geschlechtsangabe im Geburtenregister ändern. Als Geschlecht ist nunmehr “ohne Angabe“ eingetragen. Anfang Dezember 2019 beantragte sie bei der beklagten Krankenkasse befundgestützt die Gewährung einer Mastektomie zur Behandlung ihrer Geschlechtsidentitätsstörung. Die Beklagte lehnte den Antrag nach Einholung einer Stellungnahme des Medizinischen Dienstes ab und wies den hiergegen gerichteten Widerspruch der klagenden Person zurück. Das Sozialgericht hat die Beklagte zur Erstattung der von der klagenden Person zwischenzeitlich auf eigene Kosten in Höhe von 5305,32 Euro durchgeführten Mastektomie verurteilt. Das Landessozialgericht hat das Urteil des Sozialgerichts aufgehoben und die Klage abgewiesen. Ansprüche auf Behandlungsmaßnahmen, die darauf abzielten, die Uneindeutigkeit der äußeren Geschlechtsmerkmale zu erhöhen, seien ausgeschlossen. Die klagende Person wolle ihren Körper an ihre non-binäre Identität angleichen, für die kein phänotypisch angestrebtes Erscheinungsbild existiere. Aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 GG und Artikel 3 Absatz 3 Satz 1 GG ergebe sich kein Anspruch auf Änderung von Geschlechtsorganen bei transidentitärer Geschlechtsidentitätsstörung. Es verstieße vielmehr gegen den Gleichheitssatz, Menschen mit einer Geschlechtsidentitätsstörung einen umfassenden leistungsrechtlichen Zugang zu kosmetischen Operationen zu eröffnen, der nicht an einer solchen Störung leidenden Versicherten versperrt sei. 

Mit ihrer Revision rügt die klagende Person eine Verletzung von § 13 Absatz 3 und § 27 SGB V

Verfahrensgang:
Sozialgericht Mannheim, S 4 KR 3011/20, 14.04.2021
Landessozialgericht Baden-Württemberg, L 5 KR 1811/21, 29.06.2022

Die Vorschau zu dem Verhandlungstermin des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in der Terminvorschau 41/23.

Terminbericht

Die Revision der klagenden Person hatte keinen Erfolg. Sie hat gegen ihre Krankenkasse keinen Anspruch auf Erstattung der Kosten für eine operative Brustentfernung (Mastektomie).

Die Mastektomie zur Behandlung eines durch eine Geschlechtsinkongruenz verursachten Leidensdrucks ist Bestandteil einer neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethode im Sinne des § 135 Absatz 1 Satz 1 SGB V. Es fehlt an einer Anerkennung des therapeutischen Nutzens der neuen Methode durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA).

Die bisherige Rechtsprechung des Senats zu sogenannten Transsexuellen beruhte auf der Angleichung an klar abgrenzbare weibliche und männliche (binäre) Erscheinungsbilder, bei denen das Behandlungsziel anhand eines im Transsexuellengesetz normativ vorgegebenen, objektiven Maßstabs bewertet werden konnte. Der in der aktuellen S3-Leitlinie wiedergegebene medizinische Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse umfasst demgegenüber ausdrücklich auch non-binäre Geschlechtsinkongruenzen. Auch das Bundesverfassungsgericht hat geschlechtliche Identitäten, die weder dem weiblichen, noch dem männlichen Geschlecht zugeordnet sind, anerkannt. Das Behandlungsziel kann hier nicht anhand eines objektiven Maßstabs bestimmt werden. Die Feststellung der Diskrepanz zwischen der Geschlechtsidentität und dem körperlichen Erscheinungsbild erfolgt nach der Leitlinie zunächst durch die Trans-Personen selbst, die dann gemeinsam mit den Behandelnden die Entscheidungen über Notwendigkeit und Reihenfolge der Behandlungsschritte treffen (partizipative Entscheidungsfindung). Hiervon sind neben der Diagnosestellung auch die einzelnen Bestandteile der Behandlung erfasst, wie etwa Hormonbehandlung, Epilation, Hilfsmittelversorgung oder Operationen, wie hier die Mastektomie. Dieser therapeutische Prozess weicht methodisch von anderen Behandlungsverfahren ab. Es ist Aufgabe des GBA, zum Schutz der betroffenen Personen vor irreversiblen Fehlentscheidungen die sachgerechte Anwendung der neuen Methode sowie ihre Wirksamkeit und Qualität zu beurteilen. Der Anwendbarkeit des § 135 Absatz 1 SGB V steht nicht entgegen, dass vorliegend um die Kostenerstattung für einen stationären Eingriff gestritten wird. Die hier durchzuführende vertragsärztliche Diagnostik und ihre über den ambulanten Bereich hinausweisende Behandlungsplanung sind untrennbar mit den angedachten stationären Behandlungsmaßnahmen verbunden.

Soweit Behandlungen von bisher als transsexuell bezeichneten Personen bereits begonnen haben, liegt es nahe, dass die Krankenkassen die Kosten bis zum Vorliegen einer Empfehlung des GBA aus Gründen des Vertrauensschutzes wie bisher weiterhin zu übernehmen haben.

Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 41/23.

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