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Regierungsnöte Schröder in der Maastricht-Falle

Gerhard Schröder versucht, gegen Mahnungen und neue Richtlinien aus Brüssel anzutrotzen, doch dadurch legt der Wahlkämpfer im Kanzleramt nur umso schmerzlicher die Versäumnisse seiner Koalition bloß. Selbst wenn es ihm gelingt, den blauen Brief zu blockieren, wird die Rüge der EU-Kommission drastisch ausfallen.

Alle hatten sie ihn gewarnt. Tu es nicht, Kanzler. Dreimal setzte Außenminister Joschka Fischer in der Kabinettssitzung am Mittwoch vorvergangener Woche an, um Gerhard Schröder zu mäßigen. Die EU-Kommission, maulte der Regierungschef, wolle Deutschland mit dem blauen Brief, der die hohen Staatsschulden kritisiert, "einen mitgeben". Dagegen müsse man "offensiv vorgehen". Doch der Diplomat Fischer befand: Dies wäre ein Fehler. Statt sich an dem drohenden Mahnschreiben aus Brüssel zu reiben, belehrte der Vizekanzler seinen Regierungschef, sollten die Deutschen doch den anderen Europäern "ein gutes Beispiel" sein ­ und das "gemeinsame Interesse an der Stabilität" der Währung wahren. Auch Finanzminister Hans Eichel empfahl, ruhig zu bleiben. Die Regierung solle die Mahnung aus Brüssel lieber nicht kommentieren ­ sondern sie still kassieren. Den Kanzler störten die Bedenken seiner Minister herzlich wenig. Nur einen Tag später, bei einem Mittagessen mit zwölf amerikanischen Top-Journalisten in der Deutschen Botschaft in Washington, platzierte der Regierungschef eine Bombe, die mit einigen Tagen Verzögerung auch an der Heimatfront detonierte. Die EU-Kommission, orakelte Schröder, habe sich bei dem blauen Brief, den sie am Dienstag dem Ex-Musterschüler Deutschland zusenden will, ganz sicher nicht von ökonomischen Überlegungen leiten lassen ­ sondern von "anderen Gründen". Zwei Tage später standen die trüben Verdächtigungen in der "International Herald Tribune" ­ der Eklat war perfekt. Der Kanzler gegen Brüssel, Deutschland im Clinch mit der überflüssigen Bürokratie: Da war er wieder, der Europa-Skeptiker, der den Euro einst als "kränkelnde Frühgeburt" beschimpft hatte. Da kam er wieder hoch ­ Schröders anti-europäischer Populismus: Schon als frisch gewählter Kanzler ätzte er 1998, Brüssel sei ein Ort, wo deutsche Steuergelder "verbraten" würden. Wir gegen die ­ es scheint, als würde der bedrängte Regierungschef nun in solch schlichten Formeln jene Sicherheit suchen, die ihm selbst abhanden gekommen ist. Als die eigentlichen Herausforderer bei der Bundestagswahl im September sieht Schröder hinter dem noch tastenden Unions-Kandidaten Edmund Stoiber stärkere Mächte heraufziehen: die steigende Arbeitslosigkeit, die lahmende Konjunktur. Dagegen hilft keine hastig entworfene Sofortmaßnahme. Allein die Schuldzuweisung an andere Adressen, sei es die aus Amerika importierte Rezession oder der angebliche Unfug aus Brüssel, verspricht da ein wenig Entlastung. Vergangenen Mittwoch nahm der trotzige Kanzler sich die neueste europäische Zumutung vor. Die EU-Kommission will den Autohandel liberalisieren, doch Schröder fürchtet böse Folgen für Autohersteller und Kfz-Werkstätten ­ immerhin eine Branche, von der in Deutschland jeder siebte Job abhängt. "Angesichts der Massenarbeitslosigkeit können wir es uns nicht leisten, durch solche Entscheidungen weitere Arbeitslose zu produzieren", schimpfte er beim Besuch des Opel-Werks in Rüsselsheim ­ und diente sich an wie der erste Betriebsrat der Republik: "Wir haben jetzt erneut eine Sache vor uns, die wir miteinander bewältigen müssen." Häufig genug besucht Schröder das große, gemeinsame Haus Europa als außenpolitischer Festredner und preist das Jahrhundertprojekt der Einigung. Aber immer wenn Brüssel ihm ins Handwerk pfuscht, dann wird er grantig. Und im Moment, sagt ein enger Beobachter, "stinkt ihm Brüssel gewaltig". Die Übernahmerichtlinie, die Fusionen ausländischer Konzerne mit deutschen Unternehmen erleichtern soll ­ von Berlin gestoppt. Der Angriff auf die Sparkassen und die Subventionen für Ostdeutschland ­ von Schröder vehement bekämpft. Ist der blaue Brief nun also die späte Rache aus Brüssel? Schlägt das Imperium Europa zurück? Oder steckt hinter der Attacke womöglich noch jemand ganz anderes ­ CSU-Chef Stoiber? Schnell brachten jedenfalls Büchsenspanner der Regierung wilde Verschwörungstheorien in Umlauf: Es sei kein Zufall, dass sich Pedro Solbes, der zuständige EU-Kommissar, bei der Ermahnung ausgerechnet auf einen Spitzenbeamten verließ, der einst CSU-Finanzminister Theo Waigel diente. Hat der auch nicht gerade als Europäer bekannte Herausforderer aus München einen willigen Helfer mobilisiert? Der Verdacht erscheint verwegen. Dass er überhaupt geäußert und gehört wurde, macht deutlich, wie schwer der Brüsseler Schatten über dem Kanzleramt liegt. Denn ganz egal, ob Deutschland in diesem Jahr die magische Drei-Prozent-Grenze bei den Staatsschulden durchbricht ­ schon jetzt ist der Image-Schaden für die Koalition riesig. "Die Leute", schimpft der Kanzler, "verstehen nicht, dass wir einen blauen Brief kriegen und trotzdem behaupten, dass wir alles richtig machen." Der Sparkurs galt als das wichtigste Markenzeichen seiner Koalition, die ja ohne das Versprechen, für gutes Geld und Jobs zu sorgen, kaum ins Amt gekommen wäre. Doch eindrücklich wie keine Nachricht zuvor dokumentiert der Brief die Schwächen der rot-grünen Wirtschaftspolitik:

  • Trotz der Steuerreform ist es Schröder nicht gelungen, die Wirtschaft anzukurbeln. Webfehler im rot-grünen Prestigeprojekt produzieren, zusätzlich gedrückt vom Konjunkturabschwung, nun weit größere Steuerausfälle als vorausgesagt.
  • Dank des Sparkurses hat Eichel zwar die jährliche Nettoneuverschuldung gegenüber Amtsvorgänger Waigel gesenkt. Doch übertrug er Lasten auf die Länder, die nun das Gesamtdefizit nach oben treiben.
  • Trotz aller Ankündigungen ist es dem Kanzler zudem nicht gelungen, die Arbeitslosigkeit zu senken. Wegen der Konjunkturkrise und des starren Arbeitsmarkts muss die Regierung zusätzliche Milliarden für die Arbeitslosenunterstützung aufbringen.
Nun wird die Warnung aus Brüssel für den Kanzler zu einer bitteren Lektion. Ausgerechnet im Wahljahr beraubt die Drei-Prozent-Grenze Schröder beinahe sämtlicher politischer Handlungsmöglichkeiten ­ er steckt in der Maastricht-Falle. Bricht die Konjunktur weiter ein und sinken die Steuereinnahmen nochmals, reißt er die Marke. Streicht er den Etat weiter zusammen, verschärft er noch den Abschwung. Und so bleibt Schröder nur das Prinzip Hoffnung: Allein eine ökonomische Trendwende kann ihn noch aus der Falle befreien. Ironie der Geschichte: Gerade jenes Land, das einst als Lehrmeister des ganzen Kontinents auftrat, empfindet jetzt die Zwangsjacke Europa als zu eng und stemmt sich mit Macht gegen den Stabilitätspakt, den es selbst erfunden hat. Dabei war das Versprechen, das die EU-Staats- und Regierungschefs sich 1992 in Maastricht gaben, eindeutig: Solide Staatsfinanzen sollten dafür sorgen, dass der Euro so stabil wird wie die Mark. Allenfalls drei Prozent, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, sollten demnach die jährlichen Staatskredite betragen, die jeder der Kandidaten für die Währungsunion aufnehmen durfte. Das Maastricht-Kriterium war ein Mittelwert, der sich aus dem seinerzeitigen Schuldenstand errechnete. Doch weil der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl und sein Finanzminister Theo Waigel ("Dreikommanull ist Dreikommanull") am dauerhaften Sparwillen der südeuropäischen Länder zweifelten, kam 1997 der Stabilitätspakt hinzu. Als Drängler profilierte sich vor allem Bayerns Ministerpräsident Stoiber, der gern gegen das neue "Esperanto-Geld" stänkerte. In einer hitzigen Nachtsitzung auf dem EU-Gipfel in Dublin überzeugten die Deutschen ihre Partner, das Drei-Prozent-Ziel bis in alle Ewigkeit festzuschreiben. Letztlich entspringt dieses Regelwerk einem Stabilitätsdenken, wie es in Deutschland vor allem die Bundesbank zur ebenso bewunderten wie gefürchteten Kunst entwickelt hatte. Kein Wunder, dass auch heute wieder die Frankfurter Notenbanker auf die Einhaltung ihrer geheiligten Grundsätze pochen. Von der Öffentlichkeit bislang unbemerkt, sind sie auf massiven Gegenkurs zu Schröder und Eichel gegangen. Bundesbankpräsident Ernst Welteke, ein Kabinettskollege Eichels aus gemeinsamen Tagen in Hessen, hält die Frühwarnung für "angemessen", wie er in einer Sitzung des Bundesbankdirektoriums kundtat. Direktoriumsmitglied Edgar Meister assistiert: "Es ist richtig, dass die Regeln des Stabilitätspakts eingehalten werden, nichts anderes tut die Kommission." Auch Hans Reckers, Präsident der hessischen Landeszentralbank, glaubt: "Der blaue Brief ist berechtigt." Uneingeschränkte Solidarität mit der Kommission demonstrierten auch die Vertreter der Europäischen Zentralbank (EZB). Beim Treffen des europäischen Wirtschafts- und Finanzausschusses fragte EZB-Chefvolkswirt Otmar Issing viel sagend in die Runde: "Wenn die Kommission den Stabilitätspakt jetzt nicht anwendet, wann soll sie es dann tun?" Die Wächter des Geldes fürchten, dass die Glaubwürdigkeit der gemeinsamen Währung leidet, sollte Deutschland nicht verwarnt werden. Alle anderen EU-Staaten würden das Gleiche für sich verlangen, das Frühwarnsystem wäre wirkungslos. Noch schlimmer erscheint die Wirkung eines Präzedenzfalls auf die Finanzmärkte: Dort hat der ominöse Pakt längst seine ganz eigene Realität entwickelt, er gilt als Maßstab dafür, ob die Staaten tatsächlich zum harten Euro stehen. Wer gegen den Pakt verstößt, so lautet das Verdikt der Börsianer, der will eine weiche Währung. In dieser Logik agierten auch die Spitzenbeamten der EU-Kommission. Sie trafen eine bewusste politische Entscheidung, rein rechtlich hätten sie durchaus noch Spielraum gehabt, sich die peinliche Mahnung für Deutschland zu verkneifen. Der Vorgang ist keineswegs so zwingend, wie es EU-Kommissar Solbes Glauben macht. Wörtlich heißt es in Artikel 104 Absatz 3 des Amsterdamer Vertrags: "Die Kommission kann ... einen Bericht erstellen, wenn sie ... der Auffassung ist, dass in einem Mitgliedstaat die Gefahr eines übermäßigen Defizits besteht." Kann, wohlgemerkt. Und nicht: muss. "Übermäßig" sei ein Defizit zudem erst, so heißt es im Standardkommentar zum Vertragstext, wenn unter Berücksichtigung der Konjunktur "die nachhaltige Finanzierbarkeit des öffentlichen Haushaltes gefährdet ist ­ oder eine stabilitätswidrig expansive Haushaltspolitik betrieben wird". Beides ist in Deutschland kaum der Fall. Das Politikum rief auch den deutschen EU-Kommissar Günter Verheugen (SPD) auf den Plan, der daran erinnerte, dass die gemeinsamen Regeln die Rüge nicht erzwungen hätten. Kommissionschef Romano Prodi setzte den ungewöhnlichen Schlagabtausch mit einem Rüffel für Verheugen fort. Den Brüsseler Druck hatten vor allem die kleineren Länder aufgebaut, allen voran die Niederlande, Belgien und Österreich. Denn Irland, ein kleines Land, war vor einem Jahr abgewatscht worden. Und jetzt stand Portugal, wiederum ein Juniorpartner im Euro-Club, auf der Mahnliste. Durfte die Kommission die Kleinen strafen, aber vor den Großen zurückzucken? Die Scharmützel dauern an. Gut möglich, dass der blaue Brief am 12. Februar gar nicht abgeschickt wird. Still und ausdauernd bemühten sich Kanzleramtschef Frank-Walter Steinmeier und Finanzstaatssekretär Caio Koch-Weser in den vergangenen Tagen, ein Gegenvotum im EU-Finanzministerrat zu mobilisieren. Dazu reicht es, dass sich die potenziellen Empfänger Deutschland und Portugal der Stimme enthalten und Großbritannien, wie angekündigt, wegen seiner üblichen Vorbehalte gegen die Brüsseler Zentralgewalt den Verwarnten beispringt. Doch selbst dann wird eine abgeschwächte Form der Rüge nach Berlin gehen. Im Brüsseler Jargon heißt diese Variante schlicht "Empfehlungen für das Stabilitätsprogramm". Schon dieses Schreiben enthält kräftig Sprengstoff. Drastisch, wenn auch in der Sprache von Beamten, werden darin auf drei Seiten die Schwächen der rot-grünen Finanzpolitik aufgezeigt. Vor allem kritisiert die Kommission, dass sich Berlin von seinem Plan verabschiedet hat, 2004 einen ausgeglichenen Staatshaushalt vorzulegen. Im vertraulichen Entwurf heißt es: Der Rat bedauert das Abgleiten zutiefst und fordert die deutsche Regierung auf, alle geeigneten Maßnahmen in die Wege zu leiten, um einen ausgeglichenen Etat 2004 zu erreichen und ihn 2005 zu halten. Gleichzeitig wird genau umrissen, wie Schröder und Co. die Symptome der deutschen Krankheit kurieren können: Die Regierung sollte die Haushaltsplanung des laufenden Jahres sorgfältig darauf ausrichten, jedes weitere Ausufern des Defizits zu vermeiden. Die Gesundung der öffentlichen Finanzen sollte unterstützt werden durch entschlossene strukturelle Reformen. Konkrete Ansätze sehen die Verfasser des Papiers "besonders auf dem Arbeitsmarkt, bei den Sozialversicherungen und den Transfersystemen", genau dort also, wo Rot-Grün die Reformen versäumt hat. Solches Unterfutter ist schon jetzt reiner Wahlkampfstoff ­ der Regierungschef liefert bei seinen Abwehrversuchen nur die Vorlagen. Herausforderer Edmund Stoiber unterstreicht bei jeder Gelegenheit, die rotgrüne Wirtschaftspolitik habe auf der ganzen Linie "versagt". Gleichzeitig hat Eichel einen gewaltigen Streit zwischen Berlin und den Bundesländern ausgelöst. Der Finanzminister sieht die Ursache für die explodierenden deutschen Schulden, außer im Konjunktureinbruch, in einer wachsenden Ausgabelust der Länder (siehe Grafik). Die Landesfürsten verweisen indes darauf, dass sie ­ anders als der Bund ­ in ihren Haushalten höhere Fixkosten zu tragen haben, vor allem für Lehrer, Polizisten und Verwaltung. Zudem mokieren sie sich, dass die Ausfälle durch die Steuerreform weitaus größer sind als vorausberechnet. Noch bemüht sich der Finanzminister, weiter den "eisernen Hans" zu markieren. Doch hinter den Kulissen versuchen seine Emissäre, eine Allianz zur Korrektur des lästigen Stabilitätspakts zu schmieden. Bündnispartner verschiedenster Couleur stehen bereit. So hat Italiens Premier Silvio Berlusconi öffentlich angekündigt, an den Kriterien drehen zu wollen. Inoffiziell hat Frankreichs Regierung zugesagt: Wenn die Linksbündnisse in Paris und Berlin bei den Wahlen dieses Jahres ihre Macht verteidigen, werden die lästigen Vorschriften des Pakts gelockert. Das Grundgesetz, das den Euro schützen soll, wäre dagegen schutzlos. RALF BESTE, WINFRIED DIDZOLEIT, CHRISTIAN REIERMANN, ULRICH SCHÄFER