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USA: Das Ende des Embargos

So unvermittelt wie US-Präsident Reagan sein Embargo gegen die europäisch-sowjetische Erdgas-Pipeline angeordnet hatte, hob er es wieder auf - weil die Europäer eingelenkt hätten. Doch ein Abkommen mit Europa zur Einschränkung des Ost-West-Handels, von dem der amerikanische Präsident sprach, existiert nicht.
aus DER SPIEGEL 47/1982

Frage: Wem nützte Ronald Reagans Pipeline-Embargo? Antwort: Den Sowjets und den Washingtoner Anwälten.

Der Insider-Scherz hat Wahrheitsgehalt: Amerikas Sanktionen gegen das Röhren-Erdgas-Geschäft mit Moskau erschütterten eher das westliche Bündnis als die Sowjetmacht - und brachten berühmten Anwaltsfirmen der US-Bundeshauptstadt Traumaufträge.

So erarbeitete die Kanzlei »Wilmer, Cutler & Pickering« des Staranwalts und einstigen Carter-Beraters Lloyd Cutler ein 100-Seiten-Rechtsgutachten für das deutsche Unternehmen AEG-Kanis. Fazit: Es gebe keine rechtliche Grundlage für US-Sanktionen gegen ausländische Lieferanten.

Vorletzten Sonnabend hatten die Cutler-Anwälte Anlaß zur Freude: Der US-Präsident verkündete in seiner wöchentlichen Rundfunkrede ans amerikanische Volk die Aufhebung des Embargos.

Auf der anderen Seite des Atlantik sah die »Frankfurter Allgemeine« in der Maßnahme mit deutscher Selbstüberschätzung den »Doppelzweck einer freundlichen Geste gegenüber dem anreisenden Bundeskanzler Kohl und gegenüber der neuen Führungsgarnitur im Kreml«.

In Wahrheit nutzten die Reagan-Leute Breschnews Tod, die Haftentlassung Lech Walesas und den Kohl-Besuch, um eine völlig verfahrene Angelegenheit im Windschatten anderer Ereignisse möglichst geräuschlos zu korrigieren:

Mit dem Embargo, so hatte nun auch der US-Präsident eingesehen, war weder innen- noch außenpolitisch etwas zu gewinnen. Bei den Halbzeitwahlen am 2. November hatte seine Republikanische Partei vor allem in von der Arbeitslosigkeit heimgesuchten Industriegebieten einen Denkzettel erhalten. Die Demokraten hatten aus seiner Boykottpolitik Kapital geschlagen.

Und was als Teil eines Kreuzzuges gegen die sowjetkommunistischen Feinde gedacht war, hatte sich zum häßlichen Kleinkrieg mit den westlichen Alliierten verformt. In der Sanktionen-Frage marschierte nicht einmal eine so linientreue politische Freundin wie Englands Margaret Thatcher mit.

Doch der US-Präsident wollte seinen unvermeidlich gewordenen Rückzug vom Embargo wenigstens zu Hause noch als Erfolg verkaufen: »Die Sanktionen haben ihren Zweck erfüllt«, behauptete er - wohl entgegen besserem Wissen. Denn nun sei in Verhandlungen zwischen den USA und ihren wichtigsten Partnern ein »viel effektiveres« Abkommen über den Handelsverkehr mit der UdSSR abgeschlossen worden.

Das zu erklären war kein leichtes Unterfangen. »Es ist nicht die Art von geschriebenem Vertrag, bei dem man sagen kann: 'Sie verletzen Kapitel 17, Paragraph 3 C'«, erläuterte wenige Stunden nach Reagans Radiorede ein Beamter des Außenministeriums. Das Abkommen liege »eher im Geist« der Verhandlungen. »Da gab es grundsätzliche Übereinstimmungen ... daran arbeiten wir, und wenn wir damit weitergekommen sind, wird das zu einer gemeinsamen Politik führen.«

Solche Sprachverrenkungen erinnerten den Kolumnisten John Lofton an »Blinde, die in einem dunklen Raum eine schwarze Katze suchen, die es gar nicht gibt«.

Es gibt tatsächlich kein unterschriebenes Papier. Die »schwarze Katze« ist eine unveröffentlichte Aufzeichnung von »Gesprächen« - nicht »Verhandlungen«, wie europäische Diplomaten betonen - zwischen westlichen Botschaftern in Washington und Vertretern der US-Regierung.

Inhalt: Auf amerikanisches Drängen wollen die Europäer drei Komplexe prüfen: die Weitergabe sensitiver Technologie an Ostblock-Staaten, die Reduzierung öffentlicher und möglicherweise privater Kredite, die Verschärfung der Cocom-Liste über den Export strategischer Güter in kommunistische Länder. Die Amerikaner verlangen zudem, daß sich die Europäer verpflichten, zunächst keine weiteren Erdgasverträge mit Moskau abzuschließen.

Die Washingtoner Diskussionen gingen also bislang keineswegs über die Absichtserklärungen des Versailler Wirtschafts-Gipfels vom Frühsommer hinaus. Amerikas Verbündete waren denn auch irritiert, als Ronald Reagan vorletzten Sonnabend seine eigenwillige Darstellung von den Gesprächen ablieferte, zusammengepackt mit der Aufkündigung des Embargos.

Aber die meisten gönnten dem Amerikaner das Feigenblatt, und die Bonner kamen dem US-Präsidenten gar tapfer zu Hilfe: Sie begrüßten im Schlußkommunique S.150 des Kohl-Besuchs »mit Befriedigung die kürzliche Vereinbarung von Maßnahmen zur Erreichung eines breiteren Konsenses in den Ost-West-Wirtschaftsbeziehungen«.

Nur die Franzosen rieben den Amerikanern Salz in die Wunde und störten das deutsch-amerikanische Einvernehmen. Staatspräsident Mitterrand persönlich tat die Reagan-Erklärung als »nicht im Einklang mit der Wirklichkeit« ab - und offenbarte der US-Öffentlichkeit die peinliche Embargo-Schlappe ihrer Regierung.

Amerikas Rechte reagierte aufgebracht. »Präsident Reagan«, so schrieb die konservative »Washington Times« über die Aufhebung der Sanktionen, »hat Breschnews Nachfolger das hübscheste Weihnachtsgeschenk gegeben, das sich das Politbüro erhofft haben könnte.« Der Publizist William Safire sah sein Land »verprügelt, ausgepeitscht, in die Flucht geschlagen« und machte Außenminister George Shultz verantwortlich für diese »Demütigung der Vereinigten Staaten«.

Shultz war tatsächlich die Schlüsselfigur für die Beendigung des Pipeline-Problems. Doch wie in Europa findet der Außenminister auch in Amerika viel mehr Beifall als Tadel für seine Rolle, den in einigen Grundfragen starrsinnigen Reagan herumzubekommen und sich gegen die Rechtsideologen im Weißen Haus wie im Pentagon durchzusetzen.

Shultz-Vorgänger Alexander Haig war schließlich - unter anderem - an seiner Opposition gegen Embargo-Politik gescheitert. Die Ausweitung der Sanktionen auf nichtamerikanische Firmen im letzten Juni war nach Haigs Bekunden »der letzte Schlag«, der zu seinem Rücktritt führte.

Doch anders als der Einzelgänger Haig versuchte der »Teamplayer« Shultz niemanden gegen sich aufzubringen. Während Haig »ich« sagte, wenn er für sein State Department kämpfte, ging es bei Shultz immer um »die Politik des Präsidenten«. In Erinnerung an Haig und Kissinger scherzte die »New York Times« über Shultz: »Der ist offenbar der altmodischen Ansicht, daß der Außenminister nicht seine eigene Außenpolitik betreibt.«

Gerade in der Pipeline-Frage aber wußte Shultz genau, was er wollte. Er verteidigte nach außen hin stets Reagans Embargo und ersparte dem Präsidenten im September eine peinliche Niederlage:

Als Reagans republikanischer Fraktionsführer im Repräsentantenhaus, Robert Michel, ein Gesetz gegen das Embargo einbrachte (Michels Wiederwahl im sanktionsgeschädigten Wahlkreis Peoria war gefährdet), schaltete Shultz schnell. Er ließ den Abgeordneten durch den Sprecher des Repräsentantenhauses, O'Neill, sagen, daß die Administration an einer Lösung des Problems arbeite. Die Volksvertreter sollten jetzt nicht dem Präsidenten in den Rücken fallen. Shultz' Appell hatte Erfolg. Michels Gesetz blieb auf der Strecke. Reagan vergaß Shultz diesen Dienst nicht.

Shultz versuchte indessen, den Präsidenten und die Falken im Kabinett zu überzeugen: Anstelle des Pipeline-Embargos, das so viel Ärger bringe, sollten die USA und ihre Verbündeten lieber eine neue Strategie für den Ost-West-Handel erarbeiten, vergleichbar mit einer militärischen Strategie.

Wie einst schon Haig fand Shultz Unterstützung bei Handelsminister Malcolm Baldrige und dem Handelsbeauftragten William Brock. Doch es gelang ihm ein zusätzlicher wichtiger Einbruch: Auch James Baker, der Stabschef des Weißen Hauses, trat für die Beendigung der Sanktionspolitik ein. Baker wollte verhindern, daß Republikaner angesichts der Arbeitslosigkeit von über zehn Prozent bei den Novemberwahlen zu viele Stimmen verlören.

Dem Taktiker Shultz half ein weiterer Umstand: Verteidigungsminister Caspar Weinberger und seine Pentagon-Falken waren zwar um keinen Deut einsichtiger geworden, mußten sich aber in den letzten Wochen auf andere Fragen konzentrieren als die Pipeline - etwa ihr Super-Rüstungsbudget zu verteidigen, von dem immer mehr einflußreiche politische Kräfte Abstriche fordern.

In den letzten Beratungen über das Embargo standen sich dann vor allem das Außenministerium und William Clarks Nationaler Sicherheitsrat gegenüber. Ausschlaggebend für den Sieg von Shultz war schließlich der Präsident. Denn »wenn Shultz spricht«, so weiß der S.151 Reagan-Biograph Lou Cannon, »ist Reagan Ohr«.

Reagan, der an den Kapitalismus wie eine Heilslehre glaubt, ist besonders von dem ökonomischen Wissen des Außenministers beeindruckt. Shultz, der einmal den riesigen Konzern Bechtel leitete, nimmt deshalb neuerdings regelmäßig an den Sitzungen des wirtschaftlichen Spitzentrios der Administration teil, das aus Finanzminister Donald Regan, Budget-Direktor David Stockmann und dem Wirtschaftsrats-Vorsitzenden Martin Feldstein besteht.

Fachmann Feldstein (SPIEGEL 33/ 1982) lobte als einer der ersten die Aufhebung des Embargos, das zwar den »Russen einige Schmerzen bereitet« habe, letztlich aber wegen der Folgen für die Alliierten und das eigene Land ein »ineffizienter Weg war, um die Russen zu bestrafen«.

Aber der Kampf geht weiter. Shultz, so berichtete die »Washington Post«, werde dem Präsidenten erzählen: »Sie haben den Krieg gewonnen.« Denn durch das Pipeline-Embargo seien die Europäer endlich aufgewacht.

Nach der Aufhebung der Sanktionen verkündete ein Beamter des Weißen Hauses: »Wir stehen nicht am Ende, sondern am Anfang eines Prozesses.«

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