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Ralf Neukirch

Deutsche Abgeordnete und Selenskyjs Rede im Bundestag Tag der Würdelosigkeit

Ralf Neukirch
Ein Kommentar von Ralf Neukirch
Die Bundestagssitzung mit der Rede Wolodymyr Selenskyjs hätte zu einer Sternstunde des Parlamentarismus werden können. Stattdessen blamierten sich Abgeordnete und Regierung bis auf die Knochen.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj spricht zu den deutschen Volksvertretern

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj spricht zu den deutschen Volksvertretern

Foto: Michael Kappeler / dpa

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Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, von russischen Bomben bedroht, wendet sich an diesem Donnerstagmorgen aus Kiew per Videobotschaft an die Deutschen. Er erinnert an die Gräueltaten der Nazis, an die deutsche Unterstützung für die Gaspipeline Nord Stream 2, an den Widerstand gegen echte Hilfe für sein geschundenes Land.

Er trifft die deutsche Politik da, wo es wirklich weh tut.

Und wie reagiert der Bundestag nach Selenskyjs Auftritt? Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckart liest die Namen der Abgeordneten vor, die Geburtstag haben. Und dann folgt ein Streit über die Tagesordnung.

Lange hat sich ein demokratisches Parlament nicht mehr so blamiert.

»Ich glaube, in so einem Moment ist Zuhören eine echte Stärke«, hatte Außenministerin Annalena Baerbock vor der Rede gesagt. »Zuhören, das Wort stehen lassen.«

Klingt gut, stimmt aber nicht. Wenn die Abgeordneten wirklich zugehört hätten, dann hätten sie auf die Rede Selenskyjs nicht mit Geburtstagsgrüßen reagiert.

DER SPIEGEL

100 Milliarden Euro beantworten nicht alle Fragen

Das war keine Rede, die man dankend zur Kenntnis nimmt, um sich dann über die Tagesordnung zu streiten. Das war eine Rede, die eine ehrliche Antwort erfordert hätte.

Noch nie hat ein Gast das politische Versagen der Deutschen in ihrem Parlament so hart und schonungslos benannt. Und was macht der amtierende Kanzler? Er sitzt da und schweigt.

Dabei wäre der Tag eine goldene Gelegenheit gewesen, sich den eigenen Fehlern zu stellen. Das Verständnis für Putin, das Ignorieren der ukrainischen Not, der blinde Fleck in der Ostpolitik, den alle Parteien hatten, darüber hätte man sprechen müssen.

Offenbar glaubt die Regierung, 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr sei die Antwort auf alle Fragen. Dabei ist der Schwenk, den die deutsche Politik in diesen Tagen vollzogen hat, so radikal, dass man ihn gar nicht oft genug erklären kann.

Warum sind Waffenlieferungen in Krisengebiete auf einmal moralisch geboten, während sie vor drei Wochen noch moralisch verwerflich waren? Was heißt es für eine Bevölkerung mit pazifistischer Grundeinstellung, plötzlich Wehrhaftigkeit zu lernen?

Es gäbe viel zu besprechen.

Die Abgeordneten, die Ministerinnen und Minister, der Kanzler, sie hätten darlegen können, warum sie mit den Ukrainerinnen und Ukrainern leiden, aber trotzdem nicht alle ihre Wünsche erfüllen können. Dass Selenskyj eine Flugverbotszone fordert, dass er die Nato im Krieg an seiner Seite haben möchte, ist verständlich. Dass die Bundesregierung das ablehnt, ist dennoch richtig.

Auch das ist eine Entscheidung, die man nicht einmal verkünden kann, sondern die immer wieder begründet werden muss. Je länger der Krieg dauert, desto häufiger.

Und wenn schon keine Debatte, dann doch wenigstens eine Unterbrechung der Sitzung. Eine Gelegenheit, sich zu sammeln und zu zeigen, dass man über das Gehörte nachdenkt. Auch das wäre möglich gewesen.

Stattdessen gab es peinliches Parteiengezänk darüber, ob eine Debatte notwendig sei, wer wann wo der Tagesordnung zugestimmt habe, es gab Zwischenrufe und Gelächter. Man mochte sich fremdschämen, bis einem einfiel, dass es ja das eigene Parlament war.

Es war ein Tag der Würdelosigkeit.

Das politische Selbstverständnis der Deutschen ist durch den russischen Überfall auf die Ukraine im Kern erschüttert worden. Es wird lange dauern, bis klar ist, was daraus folgt. Wir stehen gerade erst am Anfang dieses Prozesses.

Es wird ein schwieriger Weg. Auch das wurde an diesem denkwürdigen Tag im Deutschen Bundestag deutlich.