Jugendkriminalität in Berlin: Wie „wilde Cliquen“ die Weimarer Republik aufmischten

Jugendkriminalität in Berlin ist kein neues Problem. Bereits zur Zeit der Weimarer Republik betrieben „wilde Cliquen“ Raub und Prostitution.

Filmstill aus „Berlin – Die Sinfonie der Großstadt“, 1927
Filmstill aus „Berlin – Die Sinfonie der Großstadt“, 1927Ronald Grant/imago

Es sollte ein netter Ausflug werden für die acht Schüler aus Potsdam, die gemeinsam mit ihrem Lehrer an diesem Februartag 1928 zum Teufelssee gewandert waren. Doch dann gab es eine böse Überraschung. In der Nähe der Gaststätte Teufelsklause stürzten sich urplötzlich 18 Jugendliche auf die Jungen. Die Angreifer waren mit neun Dolchen, einem Seitengewehr, zwei Totschlägern und sieben Schlagringen bewaffnet und nahmen die Schüler aus.

„Sie stahlen Geld, Taschen, Halstücher, Mützen und anderes mehr“, berichtete die Zeitung Der Tag. Auf einer roten Fahne, die die Angreifer bei sich trugen, waren die Worte „W.C. der Tartaren Neukölln“ zu lesen. Eine halbe Stunde später überfielen sie in der Nähe auch eine Gruppe von Pfadfindern. Dann gelang es der Polizei, sie festzunehmen. Der Vorfall erregte wochenlang Aufsehen in Berlin und immer wieder berichteten das Berliner Tageblatt und andere Hauptstadt-Blätter darüber – ganz ähnlich so, wie es nach den Silvester-Krawallen von Neukölln auch geschieht.

Bürger waren empört, Politiker forderten harte Strafen und Expertinnen und Experten diskutierten, wie solche Vorkommnisse zukünftig vermieden werden könnten. Der Schriftzug „W.C. Tartaren Neukölln“ wies deutlich darauf hin, dass die Öffentlichkeit es mit einem Problem zu tun hatte, das sie nicht einfach ignorieren konnte: den immer dreister auftretenden „wilden Cliquen“ oder auch Wandercliquen. Denn dafür stand die Abkürzung „W.C.“.

Entstanden waren diese wilden Cliquen ursprünglich aus ganz harmlosen Jugendgruppen, die vor dem Ersten Weltkrieg gemeinsam die Freizeit verbrachten und sich zum Beispiel im Berliner Umland zu Wanderungen trafen. Doch als während des Krieges viele Väter an der Front waren oder starben und die Mütter den ganzen Tag in der Rüstungsindustrie arbeiteten, waren viele Jugendliche auf sich alleine gestellt. Aus einem Teil der harmlosen Wandercliquen wurden die sogenannten wilden Cliquen von Jugendlichen, die sich gemeinsam durchschlugen, während der Sommer oft monatelang an den Seen rund um Berlin zelteten und sich durch Diebstahl versorgten.

Cliquenbildung durch soziales Elend und Inflation

Während der schlimmen Nachkriegsjahre mit ihrem sozialen Elend und der Inflation verfestigte sich dieses Phänomen. Nach Schätzungen von Fürsorgeexperten hatten sich 1931 rund 14.000 Jugendliche in ganz Deutschland den kriminellen wilden Cliquen angeschlossen. Andere Schätzung nannten sogar noch deutlich höhere Zahlen. Allein in Berlin sollen zu dieser Zeit 600 solcher Cliquen existiert haben.

Die Hauptstadt galt als Zentrum der wilden Cliquen. Die Namen der Cliquen waren in vielen Fällen Programm. „Tartarenblut“, also die Clique, die die Potsdamer Schüler überfiel, war in den Zeitungen die bekannteste. Andere nannten sich zum Beispiel „Indianerblut“, „Bauernschreck“, „Todesverächter“, „Waldpiraten“, „Blutiger Knochen“ oder „Kosakenblut“. Diese Jugendbanden machten vor allem die Randbezirke Berlins unsicher. Sie brachen in Wohnhäuser und Geschäfte ein, plünderten Bauernhöfe, stahlen Autos, überfielen Passanten auf offener Straße.

Ihre Mitglieder übernachteten auf Dachböden, in Scheunen oder schliefen tagsüber in den Tageskinos, die damals schon am Vormittag öffneten. Nachts trieben sie sich in den Dielen herum oder erledigten Aufträge der Wirte, bei denen sie meistens verschuldet waren. Eine Reihe von Mädchen und Jungen ging auf den Strich.

Zeitweilig waren die Cliquen in vier Ringen, nach den Himmelsrichtungen verteilt, organisiert. Und sie galten als Nachwuchsreserve der berüchtigten Ringvereine – also der Verbrecherorganisationen, die die Unterwelt und die pulsierende Vergnügungsszene Berlins beherrschten. Ihren eigenen Nachwuchs rekrutierten die Cliquen zumeist in den Fürsorgeeinrichtungen, in denen die Mitglieder nach Verhaftungen eingeliefert wurden, aus denen sie aber bald wieder ausbrachen.

Seit dem Ausbruch der Wirtschaftskrise Ende 1929 griff das Phänomen immer weiter um sich. Die Sozialexpertin Christine Fournier schlug daher Anfang 1931, drei Jahre nach dem Vorfall vom Teufelssee, Alarm. Sie schrieb: „Ein Gespenst, unfassbar, unentlarvbar, lauert im Hintergrund fast aller Berliner Strafprozesse, die gegen Jugendliche geführt werden: das Gespenst der Wilden Cliquen.“ Fournier war Sozialistin und veröffentlichte ihren Artikel in der linksliberalen Zeitschrift Weltbühne – sie kann also sicherlich nicht als eine Law-and-Order-Frau gelten, die aus politischen Gründen das Problem der grassierenden Jugendkriminalität auszuschlachten versuchte.

Die wilden Cliquen setzten sich nach damaligen Schätzungen zu etwa einem Drittel aus Jugendlichen im Alter von 14 bis 16 Jahren und zu knapp zwei Dritteln aus 16- bis 18-Jährgen zusammen. Ein geringer Teil war bis zu 22 Jahre alt. Der Anteil von Jungen und Mädchen war etwa gleich groß. Emanzipation war ein Fremdwort, denn die weiblichen Mitglieder hatten nicht viel zu sagen.

Der Aufbau der Cliquen war hierarchisch. An der Spitze stand ein „Cliquenbulle“, bei dem es sich zumeist um den stärksten oder manchmal auch klügsten Jungen handelte. Er war der unumschränkte Anführer. Ihm zur Seite stand eine von ihm ausgewählte „Cliquenkuh“, wie die weiblichen Mitglieder genannt wurden, die ihm sexuell zu Diensten sein musste. Er durfte sich aber nach Belieben zu jeder Zeit auch bei den anderen „Cliquenkühen“ bedienen.

Versuche, rein weibliche Cliquen zu bilden, schlugen gewöhnlich nach kurzer Zeit fehl. Es existierten aber rein homosexuelle Cliquen. Das Gemeinschaftsleben der Cliquen war insgesamt stark sexualisiert. „Lehrlinge“ mussten als Aufnahmeprüfung vor der Gruppe in einer festgelegten Zeit den Koitus vollziehen, wurden nackt an einen Baum gefesselt und mit Kot beschmiert oder auf andere Weise sexuell gedemütigt. So kam Christine Fournier zu der Erkenntnis, dass das Cliquenleben unter anderem dazu diente, sexuelle Triebe zu befriedigen.

Filmstill aus „Berlin – Die Sinfonie der Großstadt“, 1927
Filmstill aus „Berlin – Die Sinfonie der Großstadt“, 1927Ronald Grant/imago

„Sie sahen keine Chance auf eine Integration in die Gesellschaft“

Das Hauptmotiv aber war die soziale Perspektivlosigkeit der zumeist arbeitslosen Jugendlichen, die zu Hause oft in unerträglichen Zuständen lebten. Sie sahen für sich keine Chancen auf eine Integration in die Gesellschaft, in die Berufswelt und in ihre Familien. Umso länger sie ihre fatale Situation auf diese Weise wahrnahmen, umso rabiater wurden sie und umso mehr entfernten sie sich von dem, was die Gesellschaft als normal vorgab.

Experten verwiesen darauf, dass diese Jugendlichen schon in ihrer Kindheit sozial verwahrlost gewesen seien, dass es ihnen an Liebe und Familienhalt fehle, dass sie Opfer schlimmer Erziehungsfehler seien und ihre normale seelische Entwicklung gestört sei. Das führte zu einer grundsätzlichen Ablehnung der Gesellschaft, des Staates und der Umwelt, zu einem Gefühl des Ausgestoßenseins. Fourniers Urteil war klar: „Die wilden Cliquen sind Organisationen jugendlicher Verwahrloster, jugendlicher Dissozialer. Zieht man in Betracht, dass in der Psychologie der Terminus dissozial bedeutet: der menschlichen Gemeinschaft, der gesellschaftlichen Einfügung widerstrebend, unfähig zur Einordnung oder bloß ungefügig der Einordnung – so kann man die wilden Cliquen als eine Gemeinschaft Gemeinschaftsunfähiger bezeichnen.“

Manche der Cliquen waren politisch und tendierten zu den Kommunisten oder den Nationalsozialisten. Die meisten aber blieben unpolitisch. Die Experten standen dem Problem der wilden Cliquen weitgehend machtlos gegenüber. Geld zur Abhilfe stand nicht ausreichend zur Verfügung. Oder die Mittel wurden falsch eingesetzt. Justus Erhardt, ein anerkannter Fürsorgeexperte, errechnete, dass 50 jugendliche Serientäter, denn nichts anderes waren viele der Cliquenmitglieder, den Staat für Haft- und Fürsorgemaßnahmen sowie durch ihre Vergehen rund 1,75 Millionen Reichsmark kosteten – Geld, das besser für Erziehungs- und Integrationsmaßnahmen ausgegeben werden könnte.

Doch dazu hätte es zu einem grundlegenden Systemwechsel kommen müssen. Nach Hitlers Machtergreifung Anfang 1933 gingen die NS-Behörden gegen die wilden Cliquen scharf vor. Ein Teil arrangierte sich mit den Nazis und fand sich in den nationalsozialistischen Organisationen wieder.

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