Hamburger Abendblatt: Warum war es Ihnen persönlich so wichtig, die Deutsche Nationalstiftung 1993 in Weimar zu gründen.

Helmut Schmidt: Weil ich seit 1960 gewusst habe, dass, wenn die politische Vereinigung zu Stande kommen würde, es anschließend lange Jahre der Arbeit bedarf, bis das Volk wieder zusammenwächst. Ich habe damals als junger Abgeordneter einer Arbeitsgruppe von Ökonomen vorgesessen, die die Regeln entworfen hat, wie sich die Bundesregierung im Falle einer politischen Vereinigung verhalten sollte. Ich habe nicht damit gerechnet, dass diese Vereinigung zu meinen Lebzeiten stattfinden würde, aber wohl, dass sie eines Tages möglich sein wird.

Eines Ihrer Hauptziele ist das Zusammenwachsen unseres Volkes. Kann man zehn Jahre nach dem Mauerfall schon von einer deutschen Nation reden? Wie weit sind wir wirklich geeinigt?

Ich habe auch lange vor der Vereinigung immer von einer deutschen Nation gesprochen. Ich glaube nicht, dass die Teilung Deutschlands nach 1945 die Nation ausgelöscht hat. Aber das Bewusstsein, zur deutschen Nation zu gehören, war in beiden Teilen Deutschlands verschieden. Jetzt wächst es langsam zusammen, auch wenn die seelische Vereinigung noch 30 Jahre braucht. Wir von der Nationalstiftung tragen dazu bei, insbesondere durch die nicht öffentlichen Diskussionen im Senat der Stiftung, der aus Menschen von Ost- und Westdeutschland zusammengesetzt ist. Die Ergebnisse davon wirken natürlich nur indirekt nach außen.

Warum ist die Unzufriedenheit bei manchen Ostdeutschen so groß?

Die Ostdeutschen haben zum Teil sehr übertriebene Erwartungen an die Vereinigung gehabt. Es ist ihnen auch zu viel versprochen worden. Der damalige Bundeskanzler hat ihnen damals gesagt, dass binnen vier Jahren blühende Landschaften entstehen. Ein Irrtum, der große Illusionen ausgelöst hat, die in Enttäuschung umgeschlagen sind. Die Ostdeutschen müssten ihren materiellen Status nicht mit dem der Hamburger, sondern mit dem Status der Bürger Prags, Warschaus oder Danzigs vergleichen. Dann würden sie sehen, wie unendlich viel besser es ihnen heute im Vergleich zu denjenigen geht, die auch das Joch einer kommunistischen Zwangsherrschaft abgestreift haben und nun sehr kämpfen müssen, sich in einer Weltmarktwirtschaft zu behaupten.

Die Gefahr ist, dass der Beitritt Polens, Ungarns oder der Tschechischen Republik zur EU nun ähnliche Illusionen unter den Bürgern auslöst und später genauso zu Enttäuschungen führt wie bei den Ostdeutschen.

Empfinden Sie persönlich auch Trennendes beim Umgang mit Ostdeutschen wie so viele Westdeutsche?

Ich bin nach meinem Ausscheiden aus Regierungsämtern im Bund jedes Jahr einmal zu einem großen Vortrag in Ostdeutschland gewesen. Ich habe nie Trennendes empfunden, aber es ist richtig, dass es auch heute viele Ostdeutsche gibt, die sich noch nicht ganz wohl fühlen in dem gemeinsamen Staat. Genauso wie es viele Westdeutsche gibt, die sich nicht vorstellen können, was es bedeutet hat, nur unter einer Diktatur gelebt zu haben, erst unter den Nazis und dann unter derjenigen der Kommunisten. 1989/90, als die Wiedervereinigung zu Stande kam, war ich 70 Jahre alt. Jemand, der in meinem Jahrgang geboren ist und die ganze Zeit in Ostdeutschland gelebt hat, der war genau wie ich 14 Jahre alt, als die Nazis ans Ruder kamen und hat dann bis Anfang der 90er-Jahre nur das gelesen, was die jeweiligen Diktatoren ihm zu lesen ermöglicht haben. Nie im Leben hat er als Erwachsener ein gutes Wort über die Demokratie, über die Marktwirtschaft oder die Menschenrechte gehört. Jetzt war er 70 Jahre alt, und alles stürzte auf ihn ein, und das war etwas viel auf einmal. Die Westdeutschen verstehen das nicht. Für sie ist alles Genannte selbstverständlich, damit sind sie groß geworden. Sie sind im Wohlstand aufgewachsen.

Sehen Sie es denn als Aufgabe der Stiftung an, genau dieses Unverständnis aufzuheben?

Ja, wir wollen dazu beitragen, dass man sich gegenseitig versteht. Dazu muss man sich gegenseitig die Lebensgeschichte erzählen. Und dazu muss zum Beispiel ein Wessi wissen, dass die Lebensgeschichte eines 70 Jahre alten Ossis genauso zur deutschen Geschichte gehört wie die des Wessis. Und es muss der Ossi sich mit seiner Geschichte in die Gesamtgeschichte der deutschen Nation eingebunden fühlen dürfen. Da ist noch sehr viel Erziehungsarbeit zu leisten.

Ihre Ziele sind sehr abstrakt formuliert, so wollen Sie die kulturelle Identität der Deutschen erlebbar machen. Was heißt das?

Wir haben zum Beispiel einmal unseren ersten Nationalpreis 1997 an eine Gruppe von Bürgern vergeben, die die zerstörte Frauenkirche in Dresden wieder aufbaut. Und damit haben wir viele Bürger erreicht und dazu beigetragen, dass andere zusätzlich Geld spendeten.

Was versteht man denn überhaupt unter der kulturellen Identität der Deutschen?

Kultur ist ein deutsches Wort. Engländer oder die Franzosen würden stattdessen Zivilisation benutzen. Die Deutschen haben den Kulturbegriff traditionell sehr eingeengt. Sie fassen darunter die Literatur, Theater und Musik. Die Deutschen haben leider nicht begriffen, dass ein Teil der Kultur auch die politische, wirtschaftliche und rechtsstaatliche Kultur der Gesellschaft ist. Dies alles zusammen macht die Identität einer Gesellschaft aus.

Die Nationen Europas, die sich in der EU vereinigt haben, haben alle über Jahrhunderte an dem kulturellen Mosaik Europas mitgewirkt. An der gemeinsamen europäischen Musik, Literatur und auch Politik. Insofern gibt es ein gemeinsames europäisches Kulturerbe, das es fortzusetzen und auf neue Anforderungen anzupassen gilt.

Man kann das nicht, wenn man seine eigenen Wurzeln abschneidet, dann endet man im Chaos. Die Deutschen müssen lernen, dass die eigenen Beiträge im Guten wie im Schlechten zu unserer Geschichte dazugehören. Genauso wie die Franzosen lernen müssen, dass nicht nur die französische Aufklärung, sondern auch Napoleon zum europäischen Kulturerbe gehört. Die Deutschen schwelgen derzeit in der Hervorhebung der negativen Seiten der deutschen Geschichte. Die dürfen auch nicht vergessen werden, aber die deutsche Geschichte besteht nicht nur aus einem Verbrecheralbum. Das ist der Irrtum einiger Wichtigtuer.

Aber wir werden oft auch von außen auf die Nazi-Zeit reduziert.

Das ist ganz sicher so, dass der Holocaust an den Juden Europas noch Jahrtausende im Bewusstsein der Menschen aufgehoben sein wird. Aber gleichwohl wäre es zerstörerisch, den Holocaust und den von Hitler inszenierten Zweiten Weltkrieg zum allerheiligen moralischen Maßstab der Deutschen zu machen.

Ist es also gut, wenn ich ähnlich wie die Franzosen sage, ich bin stolz, eine Deutsche zu sein? Sollten wir dahin kommen?

Von mir aus habe ich nichts dagegen, wenn Sie sagen, dass Sie stolz sind, eine Deutsche zu sein. Ich würde es jedoch nicht zum allgemeinen Erziehungsziel erklären. Es ist wichtig, stolz auf die eigene Zugehörigkeit und auf die unerhörte und einmalige Vereinigung von Völkern zu sein, die sich jahrhundertelang bekriegt haben. Dass Völker in größere Reiche eingegliedert wurden, hat es immer gegeben, aber immer mit Gewalt. Dass die Völker freiwillig und aus eigenem Entschluss Teile ihrer Souveränität zu Gunsten einer Union aufgegeben haben, ist in der Weltgeschichte einmalig.