„Massen verlassen Russland. Ein solches Ausmaß gab es wahrscheinlich noch nie“
Die Entscheidung für den Einmarsch in die Ukraine soll der russische Präsident Wladimir Putin praktisch alleine getroffen haben. Ist Putin überhaupt noch für andere Ansichten offen? Darüber spricht der Russland-Experte Prof. Eberhard Schneider.
Mehr als 200.000 Menschen sollen in den vergangenen Wochen aus Russland geflohen sein – weil sie mit dem Krieg gegen die Ukraine nicht einverstanden sind oder neue schwere Repressionen fürchten. Der russische Soziologe Igor Eidman prognostiziert Massenunterdrückungen.
Der russische Soziologe Igor Eidman ging selbst vor mehr als zehn Jahren aus Russland fort, nachdem er bedroht wurde. Er hatte zuvor Korruption zugunsten des Kreml aufgedeckt. Inzwischen leitet er die Initiative Deutsch-Russischer Menschenrechte Dialog, die auf die Menschenrechtslage in Russland und Belarus aufmerksam machen will.
WELT: Herr Eidman, der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Konstantin Sonin schätzt, dass in den vergangenen Wochen Hunderttausende Russen ihr Heimatland verlassen haben. Der Krieg treibt neben Millionen Ukrainern auch Russen in die Flucht?
Igor Eidman: Ja, viele oppositionelle Bürger fliehen jetzt aus Russland in die Europäische Union – Journalisten, Menschenrechtsverteidiger und Aktivisten. Darunter sind beispielsweise Mitarbeiter des von den Behörden geschlossenen Fernsehsenders Dozhd und des verbotenen Menschenrechtszentrums Memorial. Diese Menschen laufen Gefahr, Repressalien zu erleiden, ganz zu schweigen vom Verlust ihres Arbeitsplatzes.
WELT: Politische Verfolgungen sind in Russland nicht neu. Warum spielt der Ukraine-Krieg zusätzlich eine Rolle?
Eidman: Viele Menschen fürchten, dass der Krieg zu massiven Repressionen gegen die Unzufriedenen führen wird. Es ist bekannt, dass Kriege in Diktaturen immer auch zu Unterdrückungen im Land führen. Die Schlagkraft nach außen und innen wird synchronisiert. Die rechtliche Grundlage für solche Repressionen ist bereits vorhanden. Es wurde ein Gesetz zur Verfolgung von vermeintlichen Fälschungen über die Aktionen der russischen Armee verabschiedet. Aktivisten, Blogger und Journalisten werden nach diesem Gesetz strafrechtlich verfolgt.
WELT: Führen die Gesetze bereits zu Massenverhaftungen?
Eidman: Die Repressionen sind verstärkt worden, Demonstranten werden geschlagen, kurzzeitig festgenommen. Anfang März wurde die Wohnung eines Politikers der oppositionellen Partei Jabloko, Lev Schlossberg, durchsucht. Sicherlich ist er in großer Gefahr. Man kann noch keine direkten Parallelen mit dem Jahr 1937 ziehen, dem Höhepunkt der stalinistischen Unterdrückungen. Aber eine Atmosphäre der Angst ist vorhanden.
Intellektuelle, Wissenschaftler, Künstler, einfache Menschen spüren das. Sie sind überzeugt: Repressionen wie unter Stalin kommen. Deswegen verlassen Massen das Land. Ein solches Ausmaß gab es wahrscheinlich noch nie.
WELT: Sie sagen, dass man „noch“ keine Parallelen zu Stalins „Säuberungen“ im Jahr 1937 ziehen könne. Künftig womöglich schon?
Eidman: Die Voraussetzungen sind alle da. Die Sicherheitskräfte sind sehr gut trainiert und stehen parat. Der Beamtenapparat ist vorbereitet, die Massenrepressionen durchzuführen. Es ist bekannt, dass viele Nachbarn und Verwandte bereit sind, ihre Nächsten zu denunzieren. Diese Atmosphäre deutet sehr klar auf die Parallele mit dem Jahr 1937 hin. Das einzige, was fehlt, ist die politische Entscheidung einer einzigen Persönlichkeit. Wenn Putin sagt: „Los“, dann werden alle sofort handeln.
WELT: Stalins „Große Säuberung“ hat Millionen Menschenleben gefordert. Befürchten die Menschen tatsächlich, dass es erneut zu einem solchen Terror kommen könnte?
Eidman: Ja, das tun sie. Ich hoffe, dass die Repressionen nicht das Ausmaß des Großen Terrors erreichen, aber eine deutliche Zunahme ist unvermeidlich. Unter den in Russland verbliebenen Aktivisten macht sich die beunruhigende Erwartung breit, dass die Verhaftungen dramatisch zunehmen und sie nicht mehr ausreisen können.
WELT: Wenn nun immer mehr Oppositionelle das Land verlassen: Was bleibt noch von der Zivilgesellschaft?
Eidman: Von der aktiven Opposition sind noch zwei Drittel im Land, ein Drittel ist schon raus. Aber auch die, die geblieben sind, sind auf dem Sprung. Bis Ende des Jahres dürfte noch ein weiteres Drittel abhauen. Es besteht die Gefahr, dass die Gebliebenen endgültig mundtot gemacht werden. Alle verstehen, dass die einzige Hoffnung ist, dass das Regime zusammenstürzt. Eine andere Entwicklung für Oppositionelle gibt es nicht.
WELT: Haben Oppositionelle Angst, im Exil von russischen Behörden aufgespürt zu werden?
Eidman: Wir fühlen uns in Deutschland sicher. Allerdings können viele Oppositionelle nicht in die Heimat zurück, weil sie auf Listen stehen. Das ist ein riesiges Problem für diejenigen, die sich zum Beispiel um Kinder oder alte Verwandte kümmern müssen.
WELT: Welche Erwartungen haben Sie an die Bundesregierung?
Eidman: Russische Oppositionelle erwarten von den deutschen und anderen europäischen Behörden politisches Asyl und die Gewährung von Bedingungen, unter denen sie ihre Menschenrechts- und journalistische Arbeit für ein russisches Publikum fortsetzen können. Die Frage ist, wie sich gefährdete Russen von nicht-gefährdeten Russen unterscheiden lassen. Es steht ja nicht im Pass, ob jemand verfolgt wird oder nicht. Die Behörden könnten mit Oppositionellen-Organisationen zusammenarbeiten. Sie könnten dabei helfen, bedrohte Russen zu identifizieren.