Zum Inhalt springen

In eigener Sache Der Fall Maria – die Aufarbeitung

Im Sommer hat der SPIEGEL mehrere Beiträge über Geflüchtete am Grenzfluss Evros veröffentlicht. Wir berichteten, ein syrisches Kind sei gestorben, weil Griechenland keine Hilfe geleistet habe. Nachdem Zweifel aufkamen, sind wir noch einmal tief in die Recherche eingestiegen.
Flüchtlingsgruppe um Baidaa S. am Evros

Flüchtlingsgruppe um Baidaa S. am Evros

Foto: privat

Im Sommer 2022 veröffentlichte DER SPIEGEL auf seiner Website drei Beiträge, die vom Schicksal einer Flüchtlingsgruppe am griechisch-türkischen Grenzfluss Evros handelten. Dazu gab es auch einen Podcast. Der Vorwurf, der in diesen Berichten erhoben wurde: Die griechische Regierung habe den gestrandeten Flüchtlingen nicht geholfen, obwohl dies ihre Pflicht gewesen wäre. Infolge der unterlassenen Hilfeleistung sei sogar ein fünfjähriges syrisches Mädchen gestorben. Der SPIEGEL sah in dem Kind eine Symbolfigur für das Leiden der Geflüchteten an den EU-Außengrenzen und stellte dies in seiner Berichterstattung entsprechend dar.

Der angebliche Tod von Maria, über den auch andere Medien berichteten, führte in der griechischen Öffentlichkeit zu einer breiten Debatte. Viele sahen Unstimmigkeiten. Ein Leser kontaktierte direkt ein Mitglied unserer Ombudsstelle und auch der griechische Migrationsminister Notis Mitarachi hat der Chefredaktion des SPIEGEL aufgrund dieser Beiträge am 19. September einen Brief zukommen lassen, in dem er schreibt: Die Migranten seien nicht auf griechischem Boden gewesen, es habe nie ein totes Kind gegeben. 

Wir nehmen kritische Zuschriften ernst, unsere Ombudsstelle schaute sich die Beiträge noch einmal genauer an. Als auch bei ihr die Zweifel an der bisherigen Schilderung der damaligen Geschehnisse größer wurden, haben wir die Artikel und den Podcast vorläufig von unserer Website entfernt. Mit dem Vermerk, dass wir unsere Berichterstattung überprüfen und nach Abschluss der Recherchen entscheiden, ob wir die Beiträge gegebenenfalls in korrigierter und aktualisierter Form erneut veröffentlichen.

Diese Art, mit Fehlerhinweisen umzugehen, haben wir in unseren Standards verankert, und daran halten wir uns auch. Die Ombudsstelle wertete zahlreiche interne Dokumente, Videos und Fotos mit Metadaten, Chatprotokolle, E-Mails, Audiodateien, Satellitenaufnahmen und andere Unterlagen aus, sprach mit vielen Beteiligten und kam zum Ergebnis, dass wir tatsächlich Fehler gemacht haben. Ein Team von SPIEGEL-Journalisten stieg zudem noch einmal in die Recherche ein, um die Geschichte der Flüchtlinge zu rekonstruieren. Da die Grundsätze des Informanten- und Quellenschutzes für uns nicht verhandelbar sind und wir unseren Mitarbeitern gegenüber auch eine Fürsorgepflicht haben, können wir die Ergebnisse unserer Untersuchung und der Nachrecherche, die zum Teil auf der Auswertung interner Kommunikation zwischen Autoren und Informanten beruht, im Rahmen des folgenden Beitrags nur begrenzt öffentlich machen. Sie sind aber Gegenstand einer internen Aufarbeitung.

Teil I

Waren die Geflüchteten auf griechischem oder türkischem Boden?

Diese Frage ist deshalb so relevant, weil davon abhängt, welcher Staat den Schutzsuchenden, die auf einer Insel im Fluss ausharrten, hätte helfen müssen. Außerdem ist Griechenland, wie alle EU-Staaten, nach internationalem Recht verpflichtet, ein Asylverfahren zu ermöglichen, wenn Migrantinnen und Migranten hier erstmals die EU betreten und um Schutz bitten. Es geht im konkreten Fall also darum, ob das Land Geflüchteten ihr Grundrecht verweigerte. Dies ist entlang der griechisch-türkischen Grenze in der jüngeren Vergangenheit immer wieder geschehen.

Was auf SPIEGEL.de stand: Am 10.08.2022 berichteten wir, die Geflüchteten seien am 14. Juli zum ersten Mal Richtung Evros aufgebrochen: »Bei ihrem ersten Anlauf bleiben sie auf dem Eiland hängen, das sich mitten im Fluss befindet, rechtlich aber bereits zu Griechenland gehört.« Zwölf Tage hätten die Schutzsuchenden bei extremer Hitze ausgeharrt. Später hätten griechische Uniformierte die Migranten zurück in die Türkei »gepushed«. Die Türken hätten sie dann aber zurück an den Evros gezwungen, wo sie wieder auf der griechischen Insel gelandet seien. Am 27.08.2022 hieß es in einem weiteren Beitrag: Die Familie von Maria hätte »gemeinsam mit mehreren Dutzend Geflüchteten Mitte Juli versucht, nach Griechenland zu gelangen. Sie blieben auf einem Eiland im Grenzfluss Evros hängen. Griechische Sicherheitskräfte versperrten ihnen den Weg. Fast zwei Wochen lang saßen die Schutzsuchenden auf der Insel fest … Nach europäischem Recht wären die griechischen Behörden verpflichtet gewesen, die Geflüchteten aufzunehmen …«  Und auch am 23.09.2022 schrieben wir: »Wochenlang saßen Geflüchtete auf einer Insel im türkisch-griechischen Grenzfluss fest.«

Ergebnis der vertieften Recherche und Aufarbeitung

Chronologie – Verwirrung um die Inseln

20. Juli 2022

Die Nichtregierungsorganisation (NGO) »HumanRights360« wendet sich an die griechischen Behörden und fordert sie auf, eine Gruppe mehrheitlich syrischer Geflüchteter vom Evros zu retten. Die NGO schickt die Koordinaten einer Insel, auf der sich die Migrantinnen und Migranten befinden sollen. Laut dem griechischen Grundbuchamt gehört die kleine Insel zu Griechenland. Das Verteidigungsministerium in Athen wird hingegen später bekunden, es gebe auf dem Flecken Land – gut 700 Meter lang und 100 breit – sowohl einen türkischen als auch einen griechischen Teil. Die Insel, die östlich des kleinen griechischen Ortes Kissari liegt, sei im Folgenden die Kissari-Insel genannt.

»HumanRights360« kontaktiert am 20. Juli nicht nur die griechischen Behörden, sondern auch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (ECHR). Gemeinsam mit dem Griechischen Flüchtlingsrat (GCR) erwirkt die NGO dort eine Eilentscheidung: Das Gericht verfügt, dass die Regierung die Menschen nicht zurückschicken dürfe und sie versorgen müsse. Gleichzeitig fordert es die NGOs und die Behörden auf, zu klären, wo sich die Gruppe aufhält. Dafür gibt das Gericht ihnen eine Woche Zeit.

Auch ein Journalist des SPIEGEL in Griechenland hat inzwischen von dem Vorgang erfahren und beginnt zu recherchieren. Über »HumanRights360« erhält er Kontakt zu der Syrerin Baidaa S. Sie gehört zu der Gruppe der Geflüchteten und spricht Englisch. Da es sich um militärisches Sperrgebiet handelt, dürfen Medienvertreter oder andere Unbefugte nicht bis zum Flussufer fahren, um sich selbst ein Bild zu machen. Wer es trotzdem tut, läuft Gefahr, festgenommen zu werden. Rote Warnschilder markieren den Beginn des Sperrgebiets. Eine Grenzmauer, wie sie auf den Fotos der SPIEGEL-Artikel zu sehen ist, gibt es am Flussabschnitt, an dem sich die Geflüchteten befinden, nicht.

22. Juli

In einem Videocall zwischen »HumanRights360«, dem SPIEGEL-Mann und Baidaa S., von dem es Screenshots gibt, zeigt die Syrerin über ihre Handykamera den langen Strand der Insel, auf der sie festsitzt. Dieser passt – wie unsere nachträgliche Auswertung ergab – nicht zu den Geodaten, die die NGOs an den ECHR durchgegeben haben. Auch die Metadaten mehrerer Selfies von Baidaa S. zeigen, dass die Syrerin nicht auf der Kissari-Insel sein kann, deren Koordinaten dem Europäischen Gerichtshof durchgegeben worden sind. Der tatsächliche Standort liegt knapp vier Kilometer südwestlich auf einer Insel, die laut Googlemaps, aber auch dem türkischen und griechischen Grundbuchamt zufolge, türkisch ist. Aktuellen Satellitenbildern zufolge weist sie einen großen Sandstrand auf, wie ihn Baidaa S. im Videocall zeigt – anders als die Kissari-Insel. Es gibt zudem Videos und weitere Hinweise, dass sich Baidaa S. seit mehreren Tagen auf der südlichen Insel befindet, von der alle Beteiligten annehmen müssen, dass sie türkisch ist.

Satellitenbild der südlichen Insel vom August 2022

Wie die nachträgliche Recherche des SPIEGEL ergab, sind die tatsächlichen Gebietsverhältnisse am Evros kaum aufzuklären. Zum Teil widersprechen sich nicht nur die offiziellen Karten von Griechen und Türken, sogar bei den griechischen Behörden selbst gibt es unterschiedliche Angaben darüber, was nun türkisches und griechisches Terrain ist. Ein griechisch-türkischer Ausschuss trete regelmäßig zusammen, um offene Fragen zu klären, heißt es im griechischen Migrationsminsterium.

Dass die südliche Insel laut griechischem Grundbuch türkisch ist, ist ein Problem – auch was die Rettung durch die griechischen Behörden angeht. Das muss dem SPIEGEL-Journalisten genauso klar sein wie den NGOs und den Geflüchteten.

Nur eine gute halbe Stunde nach den letzten Nachrichten mit den Geodaten der südlichen Insel erreicht den SPIEGEL-Journalisten eine Livelocation von der Kissari-Insel.

Es ist schwer vorstellbar, dass sich die Gruppe mit mehreren Kindern, einer alten Frau und einer Schwangeren innerhalb so kurzer Zeit knapp vier Kilometer flussaufwärts bewegt haben kann. Denkbar wäre etwa, dass ein Schlepper von der türkischen Seite zur Hilfe gerufen wurde und zumindest eine Person oder das Handy mit einem Boot zur Kissari-Insel brachte. Oder, dass die Livelocation manipuliert war. Mit einem Handy, wie es die Flüchtlinge bei sich hatten, ist dies durchaus möglich. Endgültig lässt sich der Widerspruch zwischen der Livelocation von der Kissari-Insel und den zahlreichen anderen Belegen, dass die Geflüchteten seit mehreren Tagen auf türkischem Terrain waren, nicht aufklären.

Die Rufe von der Insel

25. Juli

Nachdem Baidaa S. dem SPIEGEL am Vortag bereits ein Selfie von sich und einem Kind von der Kissari-Insel geschickt hatte, kommen an diesem Tag weitere Fotos, die die Gruppe offenbar dort zeigen. Sowohl die Vegetation als auch die Metadaten deuten darauf hin. Demnach sind die Menschen spätestens jetzt auf der »richtigen«, nämlich der Kissari-Insel, die die NGOs dem Europäischen Gerichtshof gemeldet hatten.

Wann und wie die Migranten dorthin gelangt sind, ob sie ein Schlauchboot hatten oder womöglich ans türkische Festland gewatet und Richtung Nordosten gezogen sind und ob sie dabei Hilfe hatten, ist unklar.
Um einen endgültigen Beweis dafür zu haben, dass die Gruppe auf der Kissari-Insel ist, bittet der SPIEGEL zwei griechische Zeugen um kurz nach 14 Uhr, Rufe der Geflüchteten vom Festland aus aufzuzeichnen. Die Audioaufnahme wie auch Fotos von der Rufaktion liegen dem SPIEGEL vor. Auf Youtube ist zudem ein Video abrufbar, das die Geflüchteten gemacht haben.

Empfohlener externer Inhalt
An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt von YouTube, der den Artikel ergänzt und von der Redaktion empfohlen wird. Sie können Ihre Zustimmung jederzeit wieder zurücknehmen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Auf eine Parlamentsanfrage wird das Ministerium für Bürgerschutz im August antworten, die örtliche Polizei sei von einer NGO und Frontex informiert worden, habe aber im Zeitraum 20.-26. Juli trotz des Einsatzes technischer Mittel niemanden finden können.

Besonders glaubhaft ist das nicht. Laut Geodaten der Fotos der Geflüchteten waren die Migrantinnen und Migranten mindestens am 25. Juli 2022 auf der Kissari-Insel, deren Standortkoordinaten sowohl den Behörden als auch dem ECHR vorlagen. Die Insel ist nicht einmal einen Kilometer lang und an manchen Stellen nur wenige Meter vom griechischen Festland entfernt. Ein Wachturm der griechischen Grenzschützer steht in der Nähe.

Das Argument der griechischen Regierung, man hätte die Geflüchteten sowieso nicht retten können, weil die Kissari-Insal ohnehin teils türkisch sei, wirkt zynisch.

Die Pushbacks

26. Juli 

Baidaa S. berichtet, dass sie wieder in der Türkei seien. Laut »HumanRights360« und dem Griechischen Flüchtlingsrat haben die Griechen die Migrantinnen und Migranten zurückgedrängt.

1. August

Baidaa S. berichtet von weiteren Pushbacks. Die Gruppe sei dabei getrennt worden. Ihre Nachrichten klingen immer verzweifelter: »Sie spielen mit uns wie mit einem Fußball hin und her… Wir sind sehr müde. Bitte helft uns irgendwie… Wir werden hier zwangsläufig sterben…«

Zu den Pushbacks der Gruppe liegen dem SPIEGEL Zeugenaussagen von Betroffenen vor, aber keine Videoaufnahmen oder andere Belege. Derzeit ermittelt die griechische Staatsanwaltschaft, die nach eigener Aussage keine Angaben zum laufenden Verfahren machen darf. Die Erzählungen über Pushbacks decken sich grundsätzlich mit den Berichten des SPIEGEL und anderer Medien zum Vorgehen griechischer Behörden am Evros.

4. August

Baidaa S. schickt die Koordinaten einer Stelle am Ufer, die etwa 40 Kilometer flussaufwärts von der Kissari-Insel entfernt ist. Der neue Standort liegt auf der türkischen Seite des Flusses, das kleine Uferstück zählt laut griechischem Grundbuchamt aber zu Griechenland. Doch niemand von griechischer Seite kommt zu Hilfe.

7. August

Die Syrerin berichtet, dass es eine Schießerei zwischen Griechen und Türken gegeben habe. Durch Pushbacks sei ihre Gruppe auf 70 Personen angewachsen. Später hätten die Türken sie aufgeteilt und einen Teil der Menschen wieder auf eine Insel verfrachtet.

Zurück auf der Kissari-Insel? 

9. August 2022

Wohl mitten in der Nacht nimmt Baidaa S. mehrere Sprachnachrichten auf, in der sie schluchzend vom Tod eines Mädchens berichtet, das von einem Skorpion gestochen worden sei. Ein weiteres Kind sei in Lebensgefahr. Es ist unklar, wer die Audiomessage als Erstes erhielt, irgendwann erreicht sie den SPIEGEL. Der direkte Kontakt des SPIEGEL zu den Flüchtlingen war zu diesem Zeitpunkt abgebrochen.

10. August 

Der griechische SPIEGEL-Kollege vor Ort ist alarmiert und schreibt einen Text, den er in einer englischen Fassung nach Hamburg in die Redaktion schickt.
Um vor anderen Medien über den Fall berichten zu können, soll der Artikel schnell online veröffentlicht werden. Ein Mitglied der Auslandsressortleitung übersetzt, redigiert und ergänzt den Text und wird als Co-Autor über dem Artikel stehen. Während in der englischen Originalfassung an mehreren Stellen vorsichtig im Konjunktiv über den Tod des Kindes berichtet wurde (»She is reported dead«, »the group says, Maria died«), steht in der deutschen Version am Ende alles im Indikativ.

Das Manuskript wie auch die folgenden zum Thema Maria werden nicht durch die SPIEGEL-Dokumentation geprüft, deren Aufgabe es ist, in Texten noch einmal zu hinterfragen, ob alle Informationen so zutreffen. Ein Verzicht auf eine solche Prüfung kommt allerdings bei Texten, die ausschließlich online publiziert werden, häufig vor: Die Dokumentation kann aufgrund der großen Zahl an aktuellen Texten nur einen Teil davon prüfen. Die Verantwortlichen im Auslandsressort hatten im Falle aller drei Artikel keine Prüfung bei der Dokumentation beauftragt.

Am selben Tag berichten auch die griechische Tageszeitung »Efsyn« und der arabische TV-Sender »Al Jazeera«. Zwei Tage darauf folgt ein Fernsehbeitrag des britischen Fernsehsenders »Channel 4«. Doch die Medienaufmerksamkeit hilft den Geflüchteten nicht.

Wo sich die Gruppe in jenen Tagen befindet, ist für den SPIEGEL nicht mit Sicherheit rekonstruierbar. Die NGOs gehen davon aus, dass sie ab dem 8. August wieder auf der Kissari-Insel ist. So melden sie es dem ECHR. Und so twittert es die NGO »Watch the med – Alarm Phone«, an die sich Baidaa S. in jenen Tagen wandte. Vom 11. August stammt zumindest ein Selfie, das nur Baidaa S. zeigt und laut Metadaten auf der Kissari-Insel aufgenommen worden ist.

15. August

Baidaa S. und ihre Gruppe werden auf dem griechischen Festland aufgegriffen – auf Höhe der südlichen, »türkischen« Insel, auf der sie bereits am 22. Juli waren. Ein Video zeigt, dass sie offenbar mit einem Schlauchboot übergesetzt sind. Alles deutet darauf hin, dass die Aufnahme von Baidaa S. auf der südlichen Insel aufgenommen wurde. Wie lang sie dort waren, bleibt trotz der nachträglichen Recherchen unklar. Auch, wie sie an das Schlauchboot kamen. Mitglieder der Gruppe sagen, es sei von anderen Flüchtlingen zurückgelassen worden.

Empfohlener externer Inhalt
An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt von X.com, der den Artikel ergänzt und von der Redaktion empfohlen wird. Sie können Ihre Zustimmung jederzeit wieder zurücknehmen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Die Griechen bringen die Geflüchteten schließlich in ein Flüchtlingslager bei dem Dorf Fylakio, wo sie Asyl beantragen.

Fazit

Wir haben die Situation in unserem Artikel nicht korrekt beschrieben. Die SPIEGEL-Beiträge erwecken den Eindruck, die Flüchtlingsgruppe sei fast einen Monat lang immer wieder auf derselben griechischen Insel gestrandet. Doch: Weder waren die Migranten immer auf derselben Insel, noch waren sie immer auf griechischem Boden. Tatsächlich lässt sich nur für wenige Tage belegen, wo sich die Geflüchteten genau aufhielten.

Auch die Darstellung der griechischen Regierung bildet nicht korrekt ab, was passiert ist. Zeitweise waren Geflüchtete aus der Gruppe nach SPIEGEL-Recherchen sehr wohl auf griechischem Terrain – und hätten dort wahrscheinlich problemlos von der griechischen Polizei gefunden werden können.

Einer der Karten der griechischen Regierung aus dem Jahr 2016 zufolge ist sogar die südliche Insel, die unter anderem der SPIEGEL-Journalist für türkisch hielt, griechisch. In ihrer Antwort an den SPIEGEL betont die griechische Regierung zudem, der Geographische Dienst der Armee sei dafür zuständig, den Grenzverlauf zu bestimmen. Dieser bekundete im Oktober 2022 etwa, die Kissari-Insel sei geteilt – aber eine Karte auf der Website weist sie weiterhin als vollständig griechisch aus.

Teil II

Gab es Maria? 

Passagen aus den SPIEGEL-Artikeln: Im ersten Text am 10. August 2022 mit dem Titel »Maria, fünf Jahre, gestorben an der EU-Außengrenze« heißt es: »Noch sind die genauen Umstände von Marias Tod nicht geklärt. Möglicherweise ist sie an den Folgen eines Skorpionstichs gestorben. Sicher ist, dass ihr Tod vermeidbar gewesen wäre, wie so viele Tode am Evros.«   

In einem weiteren Artikel vom 27. August 2022 steht: »Maria hatte einen starken Charakter, war voller Träume, sagen ihre Eltern. Sie liebte Comics und wollte ein Fernsehstar werden. Nun ist Maria tot. Sie ist Anfang August an Europas Außengrenze gestorben, weil ihr griechische Behörden jede Hilfe versagten.« Die Überschrift des Textes: »Wie der Tod der fünfjährigen Maria die Flüchtlingsdebatte in Griechenland verändert«.

In einem SPIEGEL-Podcast vom 19. August sagt einer der Autoren, ihm sei selten ein Fall begegnet, der »so symbolhaft zeigt, was in der europäischen Migrationspolitik alles schiefläuft. Man müsse »ganz klar sagen, sie ist letztlich gestorben, weil ihr Europa, weil ihr die EU, weil ihr Griechenland nicht geholfen hat.« Und weiter: »Griechenland und die griechischen Behörden sehen lieber einem fünfjährigen Mädchen beim Sterben zu, als zwei, drei Dutzend Geflüchtete ins Land zu lassen und aufzunehmen.«

Ergebnis der vertieften Recherche und Aufarbeitung

Vor der Veröffentlichung des ersten Artikels am 10. August 2022 lag dem SPIEGEL ein Foto des angeblich toten Kindes vor, das vermutlich Baidaa S. an NGOs und wohl auch Medienvertreter geschickt hatte: Ein kleines Mädchen, blasses Gesicht, die Augen geschlossen, liegt auf dem Boden. Die schwarze Hose ist ein Stück heruntergezogen, sodass sich deutlich eine hämatomartige Verfärbung am linken Schenkel erkennen lässt. Zudem gibt es die Audioaufnahmen von Baidaa S., die mit tränenerstickter Stimme erzählt, ein Mädchen sei tot, ein anderes in Lebensgefahr.

Der zweite Bericht entstand, nachdem der SPIEGEL Mitglieder der Gruppe im Flüchtlingscamp Fylakio getroffen hatte. Unter ihnen Baidaa S. und die Eltern des angeblich toten Mädchens, Maryam B. und Mohammad A.

Fylakio ist ein Lager, das die Geflüchteten nicht verlassen dürfen. Journalisten ist es nicht erlaubt, die Einrichtung ohne die Genehmigung der Behörden zu betreten. Der SPIEGEL-Korrespondent recherchierte ohne offizielle Erlaubnis trotzdem dort. Die Ressortleitung in Hamburg hatte dafür ihr Okay gegeben. Der Journalist, der auch freier Übersetzer ist, meldete sich für eine NGO in dieser Funktion unter seinem echten Namen an. So konnte er Ende August mit Mitgliedern der Flüchtlingsgruppe sprechen.

Auch in ihren Anhörungen vor der griechischen Asylbehörde Ende August und Anfang September in Fylakio erzählten Baidaa S., die Eltern und weitere Augenzeugen, ein Mädchen sei an einem Skorpionstich gestorben. Trotzdem riss die Debatte in der griechischen Öffentlichkeit darüber, ob es Maria wirklich gab, nicht ab. Manche fragten sich, wie es sein könne, dass die Flüchtlinge nicht wüssten, wo genau Maria begraben sein soll oder warum dem Europäischen Gerichtshof laut griechischer Regierung nur vier und nicht fünf Kinder vom Maryam B. und Mohammad A. durchgegeben worden waren.

Der SPIEGEL reagierte am 23. September mit einem weiteren Artikel darauf und griff die Zweifel auf. Der Tenor: Die griechische Regierung habe versucht, einige der Geflüchteten unter Druck zu setzen und ihre Aussagen zu ändern. Tatsächlich berichteten die NGO-Juristinnen von einer Beschwerde zweier Geflüchteter, sie seien angehalten worden, ihre Aussagen bezüglich Marias Tod zu ändern. Trotz der Zweifel am Wahrheitsgehalt der Geschichte, versäumte es der SPIEGEL, frühzeitig noch einmal selbstkritisch und tief in die Recherche einzusteigen.

Die Augenzeugen 

Der SPIEGEL konnte einige der Männer, die angegeben hatten, dabei gewesen zu sein, als Maria begraben wurde, ausfindig machen und zwei von ihnen im November telefonisch sprechen. Einer lebt inzwischen in Deutschland, der andere wohl in den Niederlanden. Beide bleiben dabei: Ein Kind sei damals am Evros zu Tode gekommen. Zu den Pushbacks mögen sie keine Angaben mehr machen. Zu traumatisierend seien die Erlebnisse gewesen.

Baidaa S., die während der Zeit am Evros den Kontakt zu den Medien und NGOs hielt, lebt inzwischen in Rheinland-Pfalz. Sie soll zwar im September gemeinsam mit anderen aus der Evros-Gruppe in ein Flüchtlingslager bei Drama, einer Stadt im Nordosten Griechenlands, gebracht worden sein. Doch wenig später postete sie ein TikTok-Video von einem Flug, der in Athen startet. Darunter schrieb sie auf Arabisch: »Ich bin in Deutschland angekommen, es war ein langer Kampf.« Das Video wurde inzwischen gelöscht.

Wie Baidaa S. in so kurzer Zeit die nötigen Papiere erhalten konnte, um nach Deutschland zu fliegen, lässt sich nicht aufklären. Einem Social-Media-Post zufolge hat sie inzwischen einen Syrer in Deutschland geheiratet. Sie postet seither viel auf ihren TikTok- und Instagram-Kanälen. Mehr als 24.000 Menschen folgen ihr Ende Dezember auf Instagram. Ein weiteres Gespräch mit dem SPIEGEL lehne sie ab, lässt ihr Mann am Telefon ausrichten.

Maryam B. und Mohammad A. hingegen, die Eltern Marias, sind Mitte November bereit zu einem Treffen in einem Café im Ortszentrum von Drama. Die Familie sitzt noch immer im dortigen Flüchtlingslager fest. Die beiden beantworten Fragen, zitiert werden möchten sie nicht. Vor dem Gesprächstermin waren sie gemeinsam mit den vier Kindern in einem Fotostudio, um Bilder für neue Ausweispapiere machen zu lassen. Noch haben sie ihre Dokumente nicht bekommen. Die Angst und das Misstrauen, dass noch etwas schiefgehen könnte, ist ihnen anzumerken.

Das Flüchtlingslager, in dem die Familie seit Monaten ausharrt, befindet sich einige Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. In der unmittelbaren Umgebung gibt es nichts außer ein paar Industriehallen. Auf einem Innenhof stehen Spielgeräte, an jedem Ausgang sitzt Wachpersonal. Anders als in Fylakio dürfen die Migranten das Heim verlassen, Besuch ist wie in allen anderen griechischen Lagern aber nur mit offizieller Genehmigung möglich. Anfangs noch gefasst, erzählt Maryam B. davon, wie dramatisch die Tage am Evros gewesen seien. Wie schlecht es den Kindern gegangen sei. Dass Maria nun tot sei. Irgendwann beginnt sie zu weinen. Ihr Mann passt draußen auf die beiden jüngeren Kinder auf, die beiden älteren beschäftigen sich mit einem Handy in der Ecke. Über eine Stunde nehmen sich Maryam B. und Mohammad A. Zeit für das Gespräch. Trotzdem sind die Zweifel an ihrer Geschichte am Ende nicht ausgeräumt. Die Eltern können sich nicht mehr genau erinnern, wo das Kind begraben sein soll, und besitzen keine Fotos, die seine Existenz belegen können – auch nicht von früher.

Die Namenslisten

Auf der Liste der 50 Personen, die die NGOs am 20. Juli an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte durchgeben, sind tatsächlich nur vier Kinder von Maryam B. und Mohammad A aufgeführt: Hassan, Ayah, Hanin und Maria. Maya, so der angebliche Name des fünften Kindes, fehlt auf dem Dokument. Nach Angaben der Familie soll sie die Zwillingsschwester Marias sein.

Bei Namenslisten von Geflüchteten kommt es anfangs häufig zu Ungereimtheiten. Auch ein weiterer Name ist laut NGOs im Falle der Evros-Gruppe vergessen worden.

Die ECHR-Liste im Juli ist jedoch nicht die einzige, auf der nur vier Kinder Maryam B.s stehen. Anfang August gaben die Flüchtlinge wiederholt Namenslisten vom Evros an die Helfer durch – ein fünftes Kind der Familie namens Maya wird nie erwähnt.

Fotos von Maria 

Das Bild des angeblich toten Mädchens, das dem SPIEGEL vorlag, ist kein Beweis dafür, dass das Kind wirklich gestorben ist. Das Foto wurde per WhatsApp verschickt und enthält keine Metadaten, denen man entnehmen könnte, wann es wo aufgenommen wurde. Zudem lässt sich nicht sagen, ob das Mädchen darauf nur die Augen geschlossen hat oder tot ist.

Das SPIEGEL-Rechercheteam kam nach einer Analyse der Bilder, die die Geflüchteten am Evros gemacht haben, zum Ergebnis: Maryam B. wurde immer nur mit vier ihrer angeblich fünf Kinder abgelichtet. Zudem ist bisher kein einziges Foto aus der Zeit vor oder während der Flucht aufgetaucht, das beweisen könnte, dass es neben Hanin und Ayah nicht nur eine weitere Tochter, sondern Zwillingsschwestern gab. Die Familie behauptet, alle Erinnerungsfotos seien auf einem Handy gespeichert gewesen, das die Griechen ihnen abgenommen hätten. Verwandte oder Bekannte könnten ebenfalls keine Beweisbilder schicken.

Offizielle syrische Dokumente

Um zu belegen, dass die Zwillingsmädchen Maria und Maya tatsächlich geboren wurden, stellte die Anwältin der Geflüchteten Medienvertretern Fotos von Urkunden zur Verfügung. Außerdem zeigte Maryam B. beim Treffen mit dem SPIEGEL einen Auszug aus ihrem Familienbuch auf dem Handy. Der SPIEGEL ließ die Informationen über eine syrische Anwältin überprüfen. Tatsächlich sind alle fünf Kinder offiziell in Syrien gemeldet. Allerdings ist das Registrierungsdatum der drei Jüngeren, Maria, Maya und Hanin, der 3. November 2022, also fast drei Monate nach dem angeblichen Tod des Kindes.

Weitere Recherchen ergaben, dass es in Syrien möglich ist, auch erst Jahre nach der Geburt Kinder registrieren zu lassen. Das Land wird seit 2011 vom Bürgerkrieg gebeutelt. Dass Babys den Behörden nicht gemeldet werden, ist nicht ungewöhnlich. Informationen des SPIEGEL zufolge wäre es relativ leicht, an offizielle Dokumente zu kommen, ohne dass es tatsächlich ein Kind gab: Mit den richtigen Verbindungen lässt sich dies für rund 50 Dollar pro Person in den Vororten von Homs arrangieren.

Ob die Kinder von Maryam B. überhaupt in Syrien geboren sind, steht ebenfalls nicht zweifelsfrei fest. Eine Person aus dem engeren Umfeld der Familie in Syrien sagt, Maryam B. und Mohammad A. seien bereits vor Jahren in die Türkei geflüchtet. Das Paar habe keine Zwillinge. Unabhängig überprüfen lässt sich aber auch diese Aussage nicht.

Selbst wenn zweifelsfrei belegt wäre, dass Maryam B. die Zwillinge Maria und Maya in Syrien zur Welt brachte, wäre das noch keine Bestätigung dafür, dass eines der Kinder tatsächlich am Evros sein Leben ließ.

Skorpione in Griechenland

Mehr als 30 Skorpion-Arten sind in Griechenland heimisch. Alle verfügen über einen Giftstachel. Aber gefürchtet in der Region ist nur Mesobuthus gibbosus. Im Normalfall dürfte ein Stich sehr schmerzhaft sein, nicht tödlich. Auch größere Blutergüsse sind Medizinern zufolge eher unwahrscheinlich. Dennoch ist es nicht auszuschließen, dass ein fünfjähriges dehydriertes Kind in schlechter gesundheitlicher Verfassung an einem Skorpionstich sterben kann.

Berichten zufolge soll auch die neunjährige Schwester gestochen worden sein und sich in Lebensgefahr befunden haben.

Die griechische Regierung schrieb dem SPIEGEL im Dezember, das Mädchen sei auf Anordnung des Staatsanwalts im August in das Universitätskrankenhaus von Didymoticho verlegt worden. Sie sei in der Kinderklinik des Krankenhauses »einer gründlichen medizinischen Untersuchung« unterzogen worden. Nach Angaben der Ärzte habe es »keine klinischen Befunde im Zusammenhang mit einem Stich durch einen Gliederfüßer (Skorpion)« gegeben. Die medizinische Akte dürfe der SPIEGEL aus Datenschutzgründen nicht ohne Einwilligung der Betroffenen einsehen.

Die Leiche

Es ist unklar, wo auf der Insel das Mädchen begraben worden sein soll. Nach islamischem Ritual ist es eigentlich üblich, einen Grabstein zu setzen. Die Augenzeugen, die der SPIEGEL sprechen konnte, sagen, man habe die Stelle nicht markiert wollen, um zu verhindern, dass andere Migranten darauf aufmerksam werden. Das Risiko, dass jemand die Totenruhe des Kindes störe, weil er verbuddelte Wertgegenstände an der markierten Stelle vermute, sei zu hoch gewesen.

Die griechische Regierung sieht darin einen Beleg dafür, dass nie ein Kind gestorben ist.

Der Migrationsminister schrieb dem SPIEGEL im Dezember auf Anfrage, man habe die Familie nach ihrer Ankunft in Griechenland um Erlaubnis gebeten, das Internationale Rote Kreuz und den Roten Halbmond zu kontaktieren, damit diese die Türkei bitten, auf der Insel nach der Leiche suchen zu dürfen. Die Eltern hätten dies verweigert. Nachdem Indizien aufgetaucht seien, die die Existenz des Kindes infrage stellten, habe dann wiederum die Familie beim örtlichen Staatsanwalt einen Antrag auf Exhumierung der Leiche gestellt – allerdings ohne einen Ort für das provisorische Grab zu nennen. Der Staatsanwalt habe die Familie angewiesen, weitere Informationen zu liefern. Zum aktuellen Stand will sich die Behörde nicht äußern.

Die Inseln werden im Winter teilweise vom Wasser überspült. Je mehr Zeit vergeht, desto unwahrscheinlicher wird es daher, eine mögliche Leiche zu finden. Vermutlich wird sich die Geschichte deshalb niemals zweifelsfrei aufklären lassen.

Fazit

Angesichts der Quellenlage hätte der SPIEGEL die Berichte über den Aufenthaltsort der Geflüchteten und vor allem den Tod des Mädchens deutlich vorsichtiger formulieren müssen. Auch wenn ein letztgültiger Beleg fehlt, deutet doch manches daraufhin, dass einige der Geflüchteten den Todesfall in ihrer Verzweiflung erfunden haben könnten. Möglicherweise dachten sie, dass sie dann endlich gerettet würden.

Die früheren Beiträge zum Fall Maria werden wir nicht mehr auf die Onlineseite stellen – auch nicht in überarbeiteter Fassung. Zu vieles darin müsste korrigiert werden. Stattdessen veröffentlichen wir hier die Ergebnisse unserer vertieften Recherche.