Surreale Halbtraumlandschaften – „Bezimena“

„Bezimena“ schildert den Lebensweg von Benedikt (Benny), dessen Kindheit von äußerlichem Wohlstand und innerer Unrast geprägt ist. Er gerät durch seine öffentliche Onanie-Obsession zum Schandfleck seiner angesehenen Familie: Sogar in der Schule, in Gesellschaft seiner Mitschüler*innen und unter einem Christus-Kreuz sitzend, onaniert er, während er seine Klassenfreundin Becky anstarrt. Wer sich zuerst von wem abwendet – die Gesellschaft von ihm oder er von der Gesellschaft – bleibt offen. Fazit: Er wird ein Einzelgänger, Schulabbrecher, Zoohausmeister. Letzteres könnte ein Lichtblick in einer belasteten Biografie sein, entwickelt sich aber zum Ausgangspunkt einer echten Tragödie.

Nina Bunjevac (Autorin und Zeichnerin): „Bezimena“.
Avant-Verlag, Berlin 2020. 224 Seiten. 30 Euro

Seine Leidenschaften lebt er im Stillen aus, bis er die inzwischen erwachsene Becky bei einem Zoobesuch beobachtet und von ihr völlig fasziniert ist. Sie lässt ein Skizzenbuch am Eisbärengehege zurück, in dem Benny erotische Zeichnungen von sich und Becky entdeckt. Sie zeigen, und spätestens nun beginnt der Comic seinen herrlichen, paradox erscheinenden Sog zu entwickeln, im Detail, was erst noch geschehen wird, nämlich die erotische Annäherung Bennys an drei Frauen, eine davon ist die Zeichnerin Becky. Benny interpretiert die Skizzen als Einladung, als Aufforderung, die Fiktion in die Realität zu überführen, aber es wird einen Twist am Ende geben, der den Leser einigermaßen erschüttern wird. Er ist ebenso überzeugend wie überraschend und daher so gelungen.

Die Zeichnungen, dichte Schwarz-Weiß-Schraffuren mit starken Konturen, sind stets ganzseitige Illustrationen, die anders als etwa in Bunjevacs „Fatherland“ (dt. „Vaterland“) ohne in die Bilder integrierte Texte auskommen – diese sind auf die gegenüberliegenden Seiten ausgelagert.

In der Halbtraumlandschaft von „Bezimena“ wandelt der Leser in einem ständigen Taumel, zwischen halbwach und schlaftrunken. Es geht ähnlich surreal zu wie in den Bildromanen von Max Ernst, wenngleich Bunjevac am Ende eine Auflösung bietet und der Comic die Hermetik von Ernsts „Semaine de bonté“ (1934) nicht erreicht. Dass die Augen ein Lieblingsthema sowohl in „Bezimena“ als auch im Werk von Max Ernst sind, dessen Bildroman übrigens auch ohne Texte in den Illustrationen auskam, mag man als zufällige Anekdote abtun – oder auch nicht.

„Bezimena“ ist eine grausame Geschichte von Gewalt, ohne in Klischees zu verfallen, es ist allerdings keine Analyse von Schuld. Nur in einer kurzen Passage, in der wir anonyme Silhouetten in einem Wald agieren sehen, ahnen wir, dass diese Schuld eine viel längere Geschichte hat.

Ein kurzer Prolog von 21 Seiten bettet die ohnehin komplexe Geschichte zudem in einen mythologischen Kontext ein: Der Untertitel bezeichnet die Geschichte als eine moderne Adaption des Mythos von Artemis und Siproites. Wie Aktaion hat Siproites die Jagdgöttin Artemis beim Baden beobachtet und ist zur Strafe verwandelt worden, Aktaion in einen Hirsch, Siproites in eine Frau. So erklären sich die vielen Geweihe in „Bezimena“.

Seite aus „Bezimena“ (Avant-Verlag)

Bunjevac hat mit ihren drei bislang publizierten Comics bei den kanadischen Doug Wright Awards mit erstaunlicher Regelmäßigkeit die Jurys begeistert: Für ihr Debüt „Heartless“ (2012) erhielt sie 2013 den Spotlight Award, 2015 verlieh die Jury ihr für „Fatherland“ (2014) den Hauptpreis „Best Book“. Und für „Bezimena“ (2019) wurde Nina Bunjevac am 10. Mai in einer corona-kompatiblen Zeremonie erneut der Hauptpreis in der Kategorie „Best Book“ verliehen. Die Doug Wright Awards gelten trotz des geringen Preisgeldes (erst seit 2020: 100 Dollar) als prestigeträchtig: Seth und Jeff Lemire gehören zu den Preisträgern.

Die Nominierungen für den kanadischen Joe Shuster Award, für den Grand Prix in Angoulême und weitere Preise für „Bezimena“ aufzuzählen, sprengt den Rahmen – kurz: Es läuft. „Bezimena“ ist bereits (bzw. wird derzeit) ins Französische, Italienische, Englische, Serbische, Kroatische, Slowenische, Tschechiche, Spanische und Schwedische übersetzt.

Hierzulande erscheint der Comic im Rahmen eines kanadischen Schwerpunkts, den der Avant-Verlag in diesem Jahr gesetzt hat – passend zur Wahl Kanadas zum Gastland bei der Frankfurter Buchmesse. Ob und wie diese überhaupt stattfinden wird, soll Ende Mai bekanntgegeben werden. Unabhängig davon hat Avant mit diesem Schwerpunkt einen kleinen Schatz gehoben: Neben Bunjevacs Titel hat nämlich auch Shane Simmons‘ „Das lange ungelernte Leben des Roland Gethers“ seinen Weg nach Deutschland gefunden.

Wem diese Melange aus Surrealismus und Onanie in „Bezimena“ zu abgehoben klingt, dem sei das Nachwort der Autorin empfohlen. Wer bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht erschüttert war von der beeindruckenden Bildsprache und der brillanten Erzählung, wird es dann aus anderen Gründen sein – oder sollte Comics generell beiseitelegen. Es ist keine waghalsige Prognose, zu spekulieren, dass „Bezimena“ zu den interessantesten Comics dieses Jahres gehören wird.

Gerrit Lungershausen, geboren 1979 als Gerrit Lembke, hat in Kiel Literatur- und Medienwissenschaften studiert und wurde 2016 promoviert. Er hat Bücher über Walter Moers, Actionkino und den Deutschen Buchpreis herausgegeben. 2014 hat er zusammen mit anderen das e-Journal Closure gegründet und ist bis heute Mitherausgeber. Derzeit lebt er in Mainz und schreibt für Comicgate und die Comixene. An der TU Hamburg-Harburg unterrichtet er Comic-Forschung.

Seite aus „Bezimena“ (Avant-Verlag)