Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Stephan Harbarth, betrachtet die Veränderung des gesellschaftlichen Diskurses durch neue Medien mit Sorge. „Auch wenn sie in mancher Hinsicht unser Leben bereichern, begünstigen sie das Spontane, Vorläufige, Verkürzende, auch das Verletzende“, sagte der 50-Jährige am Mittwochabend in seiner Rede „Rechtsstaat in bester Verfassung?“ vor dem Übersee-Club in Hamburg.
Die Anonymität des Internets befördere Verrohung. Der Erfolg eines Beitrags verhalte sich nicht selten proportional zum Ausmaß der durch ihn bewirkten Emotionalisierung, betonte Harbarth und fügte hinzu: „Der Algorithmus eröffnet Filterblasen und Echokammern und erzeugt so geschlossene Weltbilder, die zur kommunikativen Radikalisierung beitragen.“
Träfen Mitglieder unterschiedlicher Kammern und Blasen dann online oder in der analogen Welt aufeinander, zeige sich das Ausmaß der Polarisierung und Spaltung. Das lasse das Ansehen demokratischer Institutionen nicht unberührt, so der Verfassungsgerichtspräsident. Und dennoch biete das Grundgesetz einen „stabilen Ordnungsrahmen für kommende Herausforderungen“.
Umstrittenes Dinner im Kanzleramt
Harbarth, der von 2009 bis 2018 für die Union im Deutschen Bundestag saß, war vor zwei Jahren zum Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts ernannt worden. In die Kritik geriet der Jurist nach einem Abendessen am 30. Juni 2021 im Bundeskanzleramt mit der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU).
Daran teilgenommen hatten alle 16 Verfassungsrichterinnen und -richter sowie die meisten Bundesministerinnen und -minister. Thema dabei war unter anderem die Corona-Politik mit der sogenannten Bundesnotbremse – trotz laufender Verfahren am Bundesverfassungsgericht.
Einen daraufhin folgenden Befangenheitsantrag gegen Harbarth und eine weitere Verfassungsrichterin lehnte das Bundesverfassungsgericht später ab, da Treffen mit der Bundesregierung kein Grund für den Vorwurf der Befangenheit seien. Dies hatten die Kläger anders gesehen.
„Das Gericht nimmt keine Befehle entgegen“
Auf die Frage aus dem Publikum, ob Treffen dieser Art noch zeitgemäß seien, antworte Harbarth vor dem Übersee-Club, dass es sich dabei um einen regelmäßigen Austausch zwischen den Verfassungsorganen handele. Dies halte er für wichtig und nötig, weil sich sonst die Sicht des Bundesverfassungsgericht verenge. Die Vorstellung, dass solche Treffen die Unabhängigkeit und Unvoreingenommenheit des Bundesverfassungsgerichts gefährdeten, hält er für „abwegig“. Das Gericht nehme keine Befehle entgegen.
Harbarth verwies zudem darauf, dass „das Grundgesetz alle staatliche Gewalt an die Vorgaben der Verfassung bindet“. Dabei sei es nicht die Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, politische Entscheidungen in einen Verfassungstext zu gießen. Stattdessen stecke das Gericht den äußeren Rahmen ab, den Politik nicht überschreiten dürfe, sonst agiere sie verfassungswidrig.
In seiner Rede erklärte der Jurist zuvor ferner, dass der Gebrauch der Freiheitsrechte dazu geeignet sein könne, die Verfassungsordnung zu delegitimieren. Er betonte: „Der wehrhafte Verfassungsstaat muss sich den Feinden von Recht und Rechtsstaatlichkeit konsequent entgegenstellen.“ Das Bundesverfassungsgericht habe zuletzt in seinem Urteil zum bayerischen Verfassungsschutzgesetz ausgeführt, dass dem Staat die Aufgabe zukomme, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu sichern. Eine Beschränkung von Freiheitsrechten könne darum legitim sein.
Am 26. April dieses Jahres hatte das Gericht geurteilt, dass die weitreichenden Befugnisse des bayerischen Verfassungsschutzes teilweise gegen Grundrechte verstoßen (Az. 1 BvR 1619/17). Damit hatten die Richter einer Klage von drei Mitgliedern der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) stattgegeben.
Dohnanyi und Neubauer treffen aufeinander
Der Übersee-Club Hamburg bietet seit seiner Gründung 1922 eigenen Angaben zufolge „bedeutenden Persönlichkeiten die Freiheit, ihren Gedanken weiten Raum zu geben, wie sich die Welt zukünftig entwickeln wird“. In diesem Jahr feiert das „Forum der Aussprache zwischen Wirtschaft, Politik, Kultur und Wissenschaft“ sein 100. Jubiläum und lud kürzlich Redner wie Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und die Präsidentin des Deutschen Bundestages, Bärbel Bas, zum Vortrag.
Demnächst werden Rainer Dulger (4.10.), Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeigeberverbände, und WDR-Intendant Tom Buhrow (2.11.) erwartet sowie Hamburgs Altbürgermeister Klaus von Dohnanyi und Klimaaktivistin Luisa Neubauer zu einer Diskussion (12.12.).