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Mythos Trümmerfrauen Als Deutschland ohne Männer war

Ihre Väter, Gatten, Söhne waren tot oder in Gefangenschaft - also waren es die Trümmerfrauen, die das Land nach Kriegsende aufbauten. So das Klischee. Entspricht es der Wirklichkeit?
Der polnische Fotograf David Seymour dokumentierte das Nachkriegselend von Kindern und Frauen in Europa, unter anderem 1947 in Essen. Diese Frau hauste mit ihrem Töchterchen in einem Keller.

Der polnische Fotograf David Seymour dokumentierte das Nachkriegselend von Kindern und Frauen in Europa, unter anderem 1947 in Essen. Diese Frau hauste mit ihrem Töchterchen in einem Keller.

Foto: David Seymour / Magnum Photos / Agentur Focus

Margarete M. hatte während des Krieges zwei Ehemänner verloren. Ihr erstes Kind war als Säugling an einem grippalen Infekt gestorben. 1944 wurde sie, wieder schwanger, aus Berlin evakuiert, wo sie als Büroangestellte gearbeitet hatte.

Vom Tod Adolf Hitlers erfuhr sie aus dem Radio. "Mir sind an diesem Tage alle meine Ideale zerbrochen, denn jetzt musste ich mich endlich mit dem Gedanken abfinden, dass der Krieg verloren war und alle Opfer vergeblich waren."

Mit ihrer einjährigen Tochter schlug sie sich wieder nach Berlin durch, teils in Güterwagen, teils zu Fuß. In ihr früheres Zuhause konnte sie allerdings nicht mehr.

Aus SPIEGEL GESCHICHTE 1/2018

Die Nachkriegszeit: Als Deutschland sich neu erfand

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Die Notquartierstelle wies sie in die Küche eines Hinterhauses ein, das Dach war fast vollständig zerstört, es gab kein Licht, kein Wasser, keine Toilette. Der Unterschlupf war nicht nur kümmerlich, sondern eine Gefahr für Leib und Leben von Mutter und Kind: "Als starkes Regenwetter einsetzte, musste ich überall gefundene Gegenstände aufstellen und bin selbst auf meinem Bett, das nur ein Gestell war, ohne Matratze und Zudecke, klitschnass geworden, während ich Hella mit ihrem Kinderwagen unter dem Dachsegment unterbrachte", so ihre Erinnerungen, wie sie die Historikerin Margarete Dörr in einem Sammelband über Frauenschicksale der Nachkriegszeit wiedergibt.

Unweit der teilweise zerstörten KruppWerke bot eine Prostituierte ihren Körper feil.

Unweit der teilweise zerstörten KruppWerke bot eine Prostituierte ihren Körper feil.

Foto: David Seymour / Magnum Photos / Agentur Focus

Nach dem Krieg war Deutschland zu einem Land der Frauen geworden: 5,3 Millionen deutsche Soldaten waren tot, fast 11 Millionen in Kriegsgefangenschaft. Von Millionen Männern wusste niemand, wo genau sie waren und ob sie je heimkehren würden. Und von denen, die zu Hause lebten, waren viele alt, krank oder verwundet. So litten insbesondere Frauen und Kinder in den verwüsteten Städten und mussten um ihr Überleben kämpfen.

Die Frauen hatten während der Bombenangriffe in den Schutzräumen ausgeharrt und die Kinder beruhigt, hatten das verbliebene Hab und Gut aus den Trümmern gerettet, waren mit leerem Magen zum Hamstern aufs Land gefahren. Nun waren rund 60 Prozent der Deutschen zwischen Kiel und München weiblich. In Hamburg kamen 1946 auf 160 Frauen im Alter zwischen 20 und 25 Jahren gerade einmal 100 Männer.

"Meine Mutter arbeitet seit einiger Zeit in einer Wäscherei. Während des Krieges war sie bei der Post, aber für diese Tätigkeit gibt es nur die Angestellten-Lebensmittelkarte. Mit der Arbeiter-Lebensmittelkarte sind die Rationen höher, und darauf kommt es bei der jetzt herrschenden Mangelsituation an. Eine Kollegin aus der Wäscherei lädt uns ab und zu nach Hause ein, sie hat zwei kleine Mädchen, auch ein männerloser Haushalt. Meine Mutter muss häufig nachts zur Arbeit, weil tagsüber der Strom gesperrt ist", erinnert sich Gerd Wahlens, geboren 1933, der die Nachkriegszeit in Berlin verbracht hat.

Frauen wie seine Mutter mussten den Alltag ohne Männer bestehen. Sie hatten sich um die Kinder zu kümmern und Schutt beiseitezuräumen, sie mussten kochen und putzen und waschen, aber auch Lastwagen fahren und Baukräne steuern. Sie wurden zu Dachdeckerinnen, Maurerinnen und Schaffnerinnen.

Es gab keinen Unterschied mehr zwischen Männer- und Frauenarbeit - die Frauen erledigten alles. Der Historiker Heinrich August Winkler schrieb 2005: "Die Trümmerfrauen wurden zur Verkörperung eines radikalen Tausches der Geschlechterrollen."

Ein Sinnspruch an der nackten Wand machte einer Essenerin und ihrer Tochter 1947 Hoffnung auf "bessere Tage".

Ein Sinnspruch an der nackten Wand machte einer Essenerin und ihrer Tochter 1947 Hoffnung auf "bessere Tage".

Foto: David Seymour / Magnum Photos / Agentur Focus

Vor dem Krieg hatte Magda Andre aus Köln als Schauspielerin gearbeitet, nun aber gab es keine Engagements. Die Amerikaner hatten nach dem Einmarsch das unbeschädigte und gepflegte Haus der Familie requiriert und sie von einem Tag auf den anderen auf die Straße gesetzt. Erst hatte Andre mit Dutzenden anderen Obdachlosen in einer Notunterkunft in einem Keller gehaust, bevor sie mit ihrem Bruder, dessen Familie und ihrem Vater in einer kleinen Wohnung unterkam. Im September 1946, sie war 42 Jahre alt, fing sie als Bauhilfsarbeiterin an.

"Als ich dann so über die Trümmerberge sah, wurde mir ganz anders. Ich glaubte damals nicht, dass Köln jemals aufgebaut werden könnte. Schon gar nicht mit mir", so schildert sie es in einem Zeitzeugenbuch der Journalistin Gabriele Jenk.

"Die zeigten mir dann, wie man Steine richtig und schnell abklopft. Aber irgendwie war das nichts für mich, und ich fragte, ob ich nicht lieber Loren schieben konnte. Diese Dinger waren vollgepackt mit Steinen. Zwei Frauen hatten solche Riemen, die sie sich über die Schulter zogen, und zwei Frauen schoben von hinten nach. Eine Sauarbeit war das."

Zwischen den Ruinen und Schuttbergen wuchs eine neue Generation heran - oft versorgt und betreut von den Großmüttern (Essen 1947).

Zwischen den Ruinen und Schuttbergen wuchs eine neue Generation heran - oft versorgt und betreut von den Großmüttern (Essen 1947).

Foto: David Seymour / Magnum Photos / Agentur Focus

Bis heute gelten die "Trümmerfrauen" als Sinnbild für die nach Kriegsende zupackenden deutschen Frauen, die keinen Blick zurückwarfen und ohne zu klagen Deutschland mit ihren Händen wieder aufbauten. Der Krieg war kaum zu Ende, schon machten sich diese Kämpferinnen scheinbar selbstbewusst und frohgemut ans Werk.

Der Historiker Eckart Conze betonte 2009: "Die 'Trümmerfrauen' haben ihren Platz im kollektiven Gedächtnis der Deutschen gefunden. Da die Männer erst allmählich aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrten, viele erst nach Jahren, war es Frauen, Kindern und Alten überlassen, die Trümmer zu beseitigen."

Doch so schwer es Frauen nach 1945 hatten und so viel sie auch leisteten, um sich und ihre Familien irgendwie durchzubringen: Von den Trümmerbergen - rund 400 Millionen Kubikmeter Schutt türmten sich in den Straßen deutscher Städte - schafften sie nur sehr wenig weg.

"Dass vor allem Frauen die immense Menge an Kriegstrümmern mit Händen und Eimerketten geräumt haben sollen, war angesichts der Massen der Trümmer gar nicht möglich", analysierte die Historikerin Leonie Treber. Sie hat die bisher umfassendste Studie über Trümmerfrauen verfasst und hält das bis heute weitverbreitete "klischeehafte Bild der Trümmerfrau" für einen Mythos, der nur wenig der damaligen Realität entspricht.

Entgegen der Legende wurden die meisten Schutthalden mit schweren Maschinen beseitigt, mit Baggern und Lastwagen. Und viele Frauen und Männer, die dabei halfen, taten dies nicht freiwillig. Während des Krieges hatten die Nationalsozialisten Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge zur Trümmerräumung gezwungen, nach der deutschen Kapitulation setzten die Besatzungsmächte ehemalige NSDAP-Mitglieder und deutsche Kriegsgefangene dafür ein.

Die amerikanische und auch die französische Militärverwaltung lehnte es strikt ab, Frauen zum Wegräumen des Bauschutts heranzuziehen. In der britischen Zone machten nur sehr wenige Frauen mit, gerade einmal 0,3 Prozent der weiblichen Bevölkerung.

In Berlin und in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) hingegen schufteten Tausende Frauen bei der Trümmerräumung. In einem Behördenvermerk vom November 1945 heißt es, sie arbeiteten teilweise "mit mittelalterlichen Methoden, mit Marmeladeneimern und dergleichen".

Arbeitslose wurden hier zum Aufräumen verpflichtet, und auch Hunger trieb die Frauen in die Schuttberge: "Viel Lohn haben wir nicht gekriegt. Aber wir haben eine höhere Karte gekriegt, eine Arbeiterkarte, das war das Attraktive daran. Denn die Hausfrauenkarte, die ich zuerst bekam, das war wirklich zum Leben zu wenig", erinnert sich eine Frau Erhard aus Berlin bei einer Zeitzeugenbefragung Mitte der 1980er-Jahre. Denjenigen, die schwere Arbeit verrichteten, standen monatlich 450 Gramm Fett zu statt der üblichen 210 Gramm.

Die Alliierten gaben Lebensmittelkarten in mehreren Kategorien aus, je nach Arbeitsbelastung. Selbst brave Hausfrauen, wie diese in Essen 1947, nutzten die Marken auch als Tauschmittel auf dem Schwarzmarkt. In der Bundesrepublik wurden die Karten 1950 abgeschafft, in der DDR erst 1958.

Die Alliierten gaben Lebensmittelkarten in mehreren Kategorien aus, je nach Arbeitsbelastung. Selbst brave Hausfrauen, wie diese in Essen 1947, nutzten die Marken auch als Tauschmittel auf dem Schwarzmarkt. In der Bundesrepublik wurden die Karten 1950 abgeschafft, in der DDR erst 1958.

Foto: David Seymour / Magnum Photos / Agentur Focus

Ein Massenphänomen aber war die "Trümmerfrau" auch in Berlin nicht: Nur etwa 60.000 Frauen packten hier mit an, um den Kriegsschutt zu beseitigen. Das entsprach nicht mehr als rund fünf Prozent der weiblichen Bevölkerung. Doch die sowjetische Besatzungsregierung feierte die "Trümmerfrau" gezielt als Vorbild für eine neue, sozialistische Frauenrolle. Im neuen Staat sollte die Frau nicht nur Mutter sein, sondern auch erwerbstätig, sie sollte in den Fabriken und auf dem Land das sozialistische Gemeinwesen mit aufbauen - die hart anpackende Frau zwischen den Trümmern war die perfekte Identifikationsfigur dafür.

In Berlin und der SBZ wurden die "Trümmerfrauen", wie man sie nun nannte, zu wahren Medienstars gemacht. In den gerade erst wieder erscheinenden Zeitungen waren Fotografien zu sehen, auf denen Frauen in - für die Notzeit - flotter Arbeitskleidung scheinbar gut gelaunt schufteten. Viele der Fotos waren gestellt, wie man inzwischen weiß, doch sie prägen bis heute unser Bild jener Zeit.

Fast in Vergessenheit gerieten daneben jene Frauen, die schon ab 1945 auch und gerade im Westen am politischen Wiederaufbau des Landes mitgewirkt haben. In überparteilichen Frauenausschüssen forderten sie ein, dass Frauenrechte in der künftigen Demokratie berücksichtigt werden sollten. Der größte Erfolg dieser Frauenbewegung der Nachkriegszeit hat bis heute Bestand, es ist Artikel 3, Absatz 2 im 1949 verabschiedeten Grundgesetz, wo es heißt: "Männer und Frauen sind gleichberechtigt."

In der Zeit unmittelbar nach 1945 entsprach das der Wirklichkeit. Egal ob sie Trümmer räumten oder ihre Familien durch Hungerzeiten und Kältewinter manövrierten: Anfangs waren es vor allem die Frauen, die den Alltag bewältigten, das Land am Laufen hielten. "Meine Schwester und ich haben unserer Großmutter und Mutter unglaublich viel zu verdanken. Wie haben diese beiden alleinstehenden Frauen ohne ein Zuhause all das geschafft? Warum sind sie nicht verzweifelt? Wie schafften sie es, immer wieder neue Kraft zu entwickeln und positiv als unsere Vorbilder zu agieren? Später fragte ich meine Mutter, woher sie die Kraft genommen hatte. Sie antwortete: 'Wenn ich rechts und links je eine Hand meiner Kinder spürte, dann war ich beruhigt und konnte kämpfen'", erinnert sich Helga Kreikenbohm, Jahrgang 1940, deren Vater im Krieg gefallen ist.


Im Video: Eine Zeitzeugin über starke Frauen

DER SPIEGEL - Alexandra Frank / Ralph Sondermann


Mit der Selbstständigkeit der Frauen aber war es meistens vorbei, als sich die Lage im Land zu normalisieren begann. Mitunter forderten die Männer, wenn sie aus der Kriegsgefangenschaft heimkehrten, sogar ihre Jobs von den Frauen zurück - und fast immer die Hoheit über die Familie.

Von "Trümmerfrauen" sprach in der frühen Bundesrepublik niemand mehr, hier war die Hausfrau das Ideal, die dem Mann den Rücken freihalten sollte. Erst mit dem Aufkommen der neuen Frauenbewegung in den rückten die Frauen der Nachkriegszeit und ihre Leistungen wieder ins Bewusstsein. Und erst in dieser Zeit wurde die "Trümmerfrau" das, als was sie heute in der politischen Analyse gilt: ein Teil des Gründungsmythos der Bundesrepublik Deutschland, irgendwo zwischen Währungsreform, Wirtschaftswunder und dem "Wunder von Bern".