Millionen Menschen auf der Flucht, die Aktivierung der „Massenzustromrichtlinie“ und die zahlreichen Folgefragen mit Blick auf die in Deutschland ankommenden Opfer der russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine

Es fehlen einem die Worte für das, was wir seit dem Einmarsch der russischen Streitmacht im Nachbarland Ukraine vor gerade einmal etwas mehr als einer Woche erleben müssen. So viel Leid und Tod. Und so viel Elend, das als Folge der russischen Kriegsverbrechen produziert wird. Schon nach wenigen Tagen haben sich Hunderttausende, vor allem bzw. fast ausschließlich Frauen und Kinder, auf die Flucht begeben müssen und sind in Polen und teilweise in anderen europäischen Nachbarstaaten angekommen – wo sie mit einer überwältigenden Welle der Hilfsbereitschaft aufgenommen wurden und werden.

Für den 3. März 2022 meldet das UNHCR, das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, bereits die Ankunft von mehr als 1,2 Millionen Flüchtlingen aus der Ukraine – und es werden stündlich mehr.

Was auf die Welt und vor allem die EU-Staaten als das Fluchtziel schlechthin zukommen kann/wird, verdeutlicht diese eine (geschätzte) Zahl: »In the first week, more than a million refugees from Ukraine crossed borders into neighbouring countries, and many more are on the move both inside and outside the country … As the situation continues to unfold, an estimated 4 million people may flee Ukraine«, berichtet das UNHCR. Die Vereinten Nationen haben davor gewarnt, dass wir die größte Flüchtlingskrise seit einem Jahrhundert erleben (Ukrainians head west as UN warns refugee crisis is only just beginning). Und auch diese erschreckend hohe Zahl von 4 Millionen Flüchtlingen könnte eine Unterschätzung dessen sein, was auf uns in Europa zukommen wird.

»Wegen der aktuellen Dynamik geht Migrationsforscher Gerald Knaus von bis zu zehn Millionen Flüchtlingen aus der Ukraine aus. Er glaubt, dass Europa vor der „schnellsten und größten Flüchtlingskatastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg“ steht«, so diese Meldung: Migrationsforscher Knaus rechnet mit bis zu zehn Millionen Flüchtlingen. Wie kommt der Vorsitzende der Denkfabrik „Europäische Stabilitätsinitiative“ – European Stability Initiative (ESI) – zu dieser Einschätzung? Er argumentiert so: »Die Kriegsführung des russischen Präsidenten Wladimir Putin in Tschetschenien habe dazu geführt, dass ein Viertel der Tschetschenen vertrieben worden seien … „Ein Viertel der Ukrainer entspräche zehn Millionen Menschen.“ Bei der aktuellen Dynamik sei dies möglich, sollte der Krieg so weitergehen.« Gerald Knaus: „In einer Woche haben schon so viele Menschen die EU erreicht wie im gesamten Bosnienkrieg. Diese Geschwindigkeit zeigt, dass wir in Europa vor der schnellsten und größten Flüchtlingskatastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg stehen.“

Auch wenn wir derzeit erst am Anfang einer unfassbaren Entwicklung stehen – viele der betroffenen Menschen werden in den kommenden Tagen, Wochen und Monaten auch und gerade in Deutschland stranden. Dies nicht nur vor diesem Hintergrund: „Eine große Zahl wird nach Deutschland kommen, weil Deutschland 2015 bereits Erfahrung mit vielen Flüchtlingsaufnahmen gemacht hat“, so Knaus. Deutschland hat auch schon in den 1990er Jahren bittere Erfahrungen mit einer großen Zahl an Bürgerkriegsflüchtlingen machen müssen. Gemeint sind die Menschen, die damals vor den Schrecken der Kriegswirren im ehemaligen Jugoslawien geflohen sind. Knaus hat darauf in seinem Vergleich mit dem, was diese Tage innerhalb einer Woche passiert ist, hingewiesen. Das wird auch an anderer Stelle aufgegriffen und dort wird übergeleitet zu den vielen Fragen, die sich auch Deutschland stellen werden in der kommenden Zeit:

»Deutschland muss aus der Erfahrung der Geflüchteten der Kriege der 90er Jahre lernen. Fehler beim Bleiberecht dürfen sich nicht wiederholen«, so Jan Sternberg in seinem Artikel Krieg in der Ukraine: Geflüchtete langfristig aufnehmen. »Beispiellos mag die aktuelle Situation zwar sein, unvergleichbar ist sie nicht. Vor 30 Jahren gab es schon einmal Kriege vor unserer Haustür. Heute sind es 1.000 Kilometer von Berlin bis in die Ukraine, damals waren es 800 Kilometer von München bis in den Bosnienkrieg. Mehr als 300.000 Geflüchtete aus Bosnien-Herzegowina gab es 1994 in der Bundesrepublik. Viele der Hochqualifizierten wanderten nach Amerika weiter, einige der Jüngeren und der Härtefälle durften bleiben, Zehntausende lebten in ständiger Angst vor Abschiebung in ein Land, das politisch und wirtschaftlich bis heute vom Krieg gezeichnet ist.«

Die EU hat schnell reagiert – mit der Aktivierung einer auf Vorrat beschlossenen Richtlinie

Einige werden in diesen turbulenten Tagen daran denken, wie sich die EU in den vergangenen Jahren gegen „normale“ Flüchtlinge abgeschottet hat, die versuchen, die Festung Europa von See oder über Land zu erreichen. Wie also ist der rechtliche Stand der Dinge, was die unglaubliche Zahl an schutzsuchenden Menschen im Gefolge des Krieges in der Ukraine betrifft?

Zur aufenthaltsrechtlichen Frage schreibt Jan Sternberg: »90 Tage visafrei können Ukrainerinnen und Ukrainer ohnehin in Deutschland bleiben. Daraus können jetzt bis zu drei Jahre werden, mit Anspruch auf Sozialleistungen wie Asylbewerber. Die EU hat erstmals die „Massenzustromrichtlinie“ aktiviert, die das möglich macht.«

„Massenzustromrichtlinie“? Was ist das denn?

➔ Konkret handelt es sich um die „Richtlinie 2001/55/EG des Rates vom 20. Juli 2001 über Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen und Maßnahmen zur Förderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen, die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen dieser Aufnahme verbunden sind, auf die Mitgliedstaaten.“

Dazu ausführlicher der Beitrag Ukrainer dürfen in die EU von Daniel Thym, der Öffentliches Recht, Europarecht und Völkerrecht an der Universität Konstanz lehrt. Die Innenminister der EU-Staaten haben einstimmig dafür votiert, erstmals die Richtlinie 2001/55/EG zu aktivieren. Diese Richtlinie stammt bereits vom 20. Juli 2001. Sie wurde als Folge des Jugoslawien-Krieges erarbeitet – und niemals angewendet. Für Thym ist diese Entscheidung trotz vieler offener Fragen richtig, denn: »Größter Vorteil ist der Verzicht auf langwierige Asylverfahren. Das verhindert eine Überlastung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) wie vor sechs Jahren. Stattdessen können sich die Behörden darauf konzentrieren, die Menschen zu versorgen – in Deutschland ebenso wie in den Ländern Osteuropas, die gar nicht genügend Ressourcen hätten, um hunderttausende Asylverfahren durchzuführen.«

Zur Bedeutung dieses Beschlusses (und zugleich zur Einordnung, dass man die Nicht-Aktivierung dieser gleichsam im Vorratsschrank der EU abgelegten Richtlinie im Jahr 2015, als es um die Flüchtlinge aus Syrien ging, nicht vergleichen kann mit der heutigen Situation):

»Mit dem Ratsbeschluss sichert die EU all diesen Menschen eine sichere Aufnahme zu, ohne dass es eine Höchstgrenze gäbe. Die EU heißt alle Ukrainerinnen und Ukrainer willkommen. Das ist ein wichtiger Unterschied zu 2015. Damals hatte man die Richtlinie auch deshalb nicht aktiviert, weil kein Konsens bestand, dass alle Syrerinnen und Syrer nach Europa kommen sollen. Vielmehr sollten viele in der Türkei bleiben. Beim Ukrainekrieg ist das nicht möglich, denn nun sind die EU-Staaten selbst die Erstaufnahmeländer.«

Derzeit überwiegt noch eine beispiellose Hilfswelle vor Ort, an den Grenzen zur Ukraine, aber die europäische Verteilungsfrage wird angesichts der hohen Zahlen schon bald auf die politische Agenda gesetzt werden müssen. »Quoten oder Aufnahmezusagen einzelner Länder sucht man im Durchführungsbeschluss vergebens. Stattdessen läuft alles darauf hinaus, dass sich die Menschen selbst auf die EU-Länder verteilen. Aus geographischen, sprachlichen und familiären Gründen sind das zuerst einmal die Länder in Osteuropa. Doch angesichts der Zahl von 150.000 bis 200.000 Grenzübertritten pro Tag, dürfte es nur eine Frage von Tagen sein, bis auch in Deutschland deutlich mehr Menschen ankommen«, so Thym in seinem Beitrag. Man müsse ausgehen von einer freien Wahl des Ziellandes: »Ukrainerinnen und Ukrainer mit biometrischen Pässen besitzen Visafreiheit in der gesamten EU, und bei Menschen ohne Pass empfiehlt die Kommission eine Ausnahme aus humanitären Gründen. Offiziell gelten solche Ausnahmen zwar nur für die Einreise in und die Aufnahme durch ein EU-Land, aber aktuell nimmt das niemand so genau.«

Was beutet das praktisch, wenn Menschen aus der Ukraine nach Deutschland kommen?

»Nach der Ankunft in Deutschland soll alles ganz schnell gehen. Nach § 24 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) wird allen Personen, die der Richtlinie unterfallen, eine Aufenthaltserlaubnis ausgestellt. Geprüft wird nur, ob die betroffenen Menschen die ukrainische Staatsangehörigkeit haben oder als Ausländer in der Ukraine lebten und nicht in die Heimat zurückkehren können.« Eine bekanntlich in Deutschland überaus bedeutsame Frage: Wer ist zuständig?

»Zuständig sind die Ausländerbehörden der Länder, nicht das BAMF. Eventuelle Asylanträge von Ukrainerinnen und Ukrainern ändern daran nichts, denn das Verfahren wird für die Dauer des temporären Schutzes nach § 32a Asylverfahrensgesetz (AsylVfG)1 ausgesetzt.«

Dürfen die geflüchteten Menschen aus der Ukraine in Deutschland und anderen EU-Ländern arbeiten?

Schaut man in den so bedeutsamen § 24 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG), der überschrieben ist mit „Aufenthaltsgewährung zum vorübergehenden Schutz“, dann findet man hinsichtlich der Frage, ob die Menschen arbeiten dürfen, den Absatz 6 dieses Paragrafen: »Die Ausübung einer selbständigen Tätigkeit darf nicht ausgeschlossen werden. Die Aufenthaltserlaubnis berechtigt nicht zur Ausübung einer Beschäftigung; sie kann nach § 4a Absatz 2 erlaubt werden.« Die Juristen immer mit ihren Verweisungen. Also schauen wir in den genannten Paragrafen und finden dort diesen Passus: »Sofern die Ausübung einer Beschäftigung gesetzlich verboten oder beschränkt ist, bedarf die Ausübung einer Beschäftigung oder einer über die Beschränkung hinausgehenden Beschäftigung der Erlaubnis; diese kann dem Vorbehalt der Zustimmung durch die Bundesagentur für Arbeit nach § 39 unterliegen. Die Zustimmung der Bundesagentur für Arbeit kann beschränkt erteilt werden.« Anders formuliert: Offensichtlich gibt es ein Beschäftigungsverbot mit einer begrenzten Öffnungsklausel. Hört sich kompliziert an.

Keine Sorge, bevor sich jetzt die ersten Kopfschmerzen Bahn brechen, lesen wir bei Thym weiter, denn der wischt das vom Tisch:

»Gemäß Art. 12 Massenzustromsrichtlinie dürfen die Menschen aus der Ukraine in der EU arbeiten, Fortbildungen machen oder Praktika absolvieren. § 24 Abs. 6 AufenthG spricht zwar davon, dass die Behörden frei darüber entscheiden, ob eine Erwerbstätigkeit erlaubt wird oder nicht. Diese Norm widerspricht jedoch der Richtlinie und darf daher nicht angewandt werden.«

➞ Die einzige theoretische Option, die man bei einer restriktiven Auslegung hätte, wenn man die denn anwenden wollte, wird von Thym so beschrieben: »Deutschland könnte lediglich eine Vorrangprüfung durchführen, also prüfen, ob für den konkreten Arbeitsplatz bevorrechtigte inländische oder ihnen gleichgestellte Arbeitskräfte zur Verfügung stehen. Ist dies nicht der Fall, müssen die Ausländerbehörden die Erwerbstätigkeit erlauben.« Allerdings wird das nicht passieren, denn die Bundesagentur für Arbeit soll in einem Rundschreiben bereits ausgeführt haben: „Eine BA-Zustimmung ist für Beschäftigungen nicht einzuholen.“

Seine Einschätzung geht so: »Schon mit dem Krimkrieg kamen viele Ukrainerinnen und Ukrainer nach Polen und in andere Nachbarländer. Sehr viele erhielten dort zwar nie einen asylrechtlichen Schutzstatus, arbeiteten aber dennoch in verschiedenen Berufen. So könnte es auch in Deutschland kommen. Für viele dürfte der temporäre Schutz nur ein Durchgangsstadium sein, bevor eine reguläre Aufenthaltserlaubnis zur Erwerbstätigkeit erteilt wird.« Und dann kommt ein interessanter Punkt: »Der Arbeitsmarkt und die Ausbildungsstandards in der Ukraine sind viel eher mit der hiesigen Situation vergleichbar als bei den klassischen Asylherkunftsländern. Das dürfte dazu führen, dass mehr Personen schnell auf dem deutschen Arbeitsmarkt unterkommen. Rechtliche Hindernisse hierfür gibt es nicht.«

Eine großzügige Richtlinie – aber auch „rechtspolitisch heikle“ Folgefragen

Wie ist das mit der Verteilung der geflüchteten Menschen? »Ebenso wie Asylbewerber werden auch temporär Schutzberechtigte nach dem Königsteiner Schlüssel auf die Bundesländer verteilt. In den Ländern erfolgt dann eine weitere Verteilung auf die Kommunen, die nach § 24 Abs. 5 AufenthG mit einer Wohnsitzauflage verbunden ist. Im Rahmen der Möglichkeiten kann dort sofort eine Privatwohnung bezogen werden, weil keine Pflicht besteht, in einer zentralen Aufnahmeeinrichtung zu wohnen. Das ist vor allem für diejenigen wichtig, die hier Freunde und Familie haben. Bei allen anderen wird man mit steigenden Zahlen über jede verfügbare Unterkunft froh sein.«

»Großzügig sind die Richtlinie und das deutsche Recht beim Familiennachzug. Alle Mitglieder der Kernfamilie dürfen ohne Einschränkung nachziehen, und selbst sonstige enge Verwandte können berücksichtigt werden, wenn sie finanziell von jemandem abhängig sind, der schon hier lebt. Die gesamte Familie bekommt dann Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG), das nach § 1 Abs. 3 Buchst. a für temporär Schutzberechtigte gilt.«

Der Hinweis auf die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz ist nicht trivial, wie Thym in seinem Beitrag ausführt: »Rechtspolitisch ist das durchaus heikel, denn damit bekommen Ukrainerinnen und Ukrainer weniger als Syrerinnen und Syrer, deren Asylverfahren erfolgreich abgeschlossen wurde. Neben Geldleistungen bedeutet das vor allem eine Krankenversorgung, die jedoch prinzipiell auf eine Notfallversorgung beschränkt ist. Die Ampelkoalition sollte hier eine Gesetzesänderung erwägen, um die regulären Sozialleistungen anzuwenden.«

In seinem Beitrag Wie der deutsche Sozialstaat mit Ukrainern umgeht weist Dietrich Creutzburg darauf hin: »Flüchtlinge aus der Ukraine müssen kein Asyl beantragen, um ein Aufenthaltsrecht mit Zugang zu Sozialleistungen zu erhalten. Bei den Hilfen wird es sich dennoch zunächst um Asylbewerberleistungen handeln – und nicht etwa direkt Hartz IV.« Der bereits erwähnte § 24 AufenthG sei mit dem Asylbewerberleistungsgesetz verknüpft: »Damit erhalten Betroffene zunächst vorrangig Sachleistungen, falls sie in Erstaufnahmeeinrichtungen einquartiert werden; bei dezentraler Unterbringung sind es vorrangig Geldleistungen. Diese sind ein Stück geringer als die Hartz-Sätze: Für eine Einzelperson gibt es derzeit 367 Euro statt 449 Euro im Monat, da einige Positionen herausgerechnet sind.«

Und als Ausblick der Blick auf mögliche Baustellen in der vor uns liegenden Zeit

Auch wenn sich die Umrisse der rechtlichen Grundlagen und der Möglichkeiten, sozialstaatlich zu unterstützen, abzeichnen und klarer werden – man kann und muss sicher davon ausgehen, dass in den kommenden Monaten, möglicherweise Jahren zahlreiche Folgeprobleme auftauchen und diskutiert werden. Gerade wenn man mit guten Gründen den Menschen direkt einen nicht-regulierten Arbeitsmarktzugang eröffnet, dann muss man hoffen, dass Regulierungen an anderer Stelle funktionieren, man denke hier an die Mindestlohnpflicht und deren Einhaltung.

Vielleicht wird der eine oder andere aber auch an Bereiche denken, wo Menschen aus der Ukraine schon lange vor der Katastrophe dieser Tage in Deutschland unterwegs waren. Beispielsweise als Erntehelfer in der Landwirtschaft. Oder in der unmöglichen „24-Stunden-Betreuung in unzähligen Privathaushalten unseres Landes. Und dieser Bereich wird nun offensichtlich kritisch vom Politikmagazin „Report Mainz“ unter die Lupe genommen:

»Nach dem russischen Angriff sind viele Ukrainer auf der Flucht – auch nach Deutschland. Der Bundesverband für häusliche Betreuung und Pflege befürchtet, dass die Not der Flüchtlinge ausgenutzt werden könnte«, so Gottlob Schober und Claudia Kaffanke in ihrem Beitrag Neues Pflegepersonal zum Dumpingpreis? Es sind heftige Vorwürfe, die da vorgetragen werden:

»Der Bundesverband für häusliche Betreuung und Pflege (VHBP) geht nach Recherchen von Report Mainz davon aus, dass ukrainische Betreuungskräfte … für einen Bruchteil des Lohnes arbeiten werden, den Osteuropäerinnen aus der EU derzeit in Deutschland vergütet bekommen. „Bis zu 300.000 Ukrainerinnen werden schätzungsweise für die Hälfte des Honorars arbeiten und alle Bedingungen ertragen, um ihre Familien zu ernähren“, sagt der Vorstandsvorsitzende des Verbandes, Daniel Schlör. Betreuerinnen aus Polen und Rumänien, die bislang vorwiegend in der 24-Stunden-Versorgung gearbeitet hätten, würden durch Ukrainerinnen vom Markt gedrängt. Kriegsflüchtlinge seien aufgrund ihrer Notlage bereit, auch für Niedrigstlöhne zu arbeiten.«

In dem Beitrag wird an einem Beispiel verdeutlicht, dass das in Aussicht gestellte Lohndumping und die Ausbeutung ukrainischer Arbeitskräfte bereits vor dem Ukraine-Krieg betrieben wurde und wird:

»Report Mainz hat den Fall einer Ukrainerin recherchiert, die ihr Zuhause aus Verzweiflung schon Monate vor dem Krieg verlassen hat. In der Ukraine habe sie 150 Euro im Monat verdient. „Ich hatte keine Wahl. In der Ukraine gibt es keine Arbeit. Höchstens noch für junge Menschen, die gut ausgebildet sind und Fremdsprachen sprechen“, sagt sie. „Aber für Menschen, die älter als 35 sind, ist es kaum möglich. Dann verdient man dort rund 150 Euro im Monat. Wie soll man davon leben?“ In der Ukraine habe sie drei Jobs gleichzeitig gemacht, ohne Feiertag, immer auf der Suche nach einem weiteren Nebenjob. „In Deutschland kann ich wenigstens mehr Geld verdienen.“ Die Menschen, bei denen sie arbeite, sind schwer pflegebedürftig: „Das ist Schwerstarbeit, ich weine fast jeden Tag. Aber ich beiße auf die Zähne. Ich vermisse meine Familie, meinen Sohn.“ Als Lohn habe sie dafür nur 900 Euro netto bekommen. Diese Summe bestätigt auch die Familie, in der die Ukrainerin gearbeitet hat. Sie habe dort den pflegebedürftigen Vater versorgt. 2.370 Euro habe die Familie für die Dienste der ukrainischen Betreuerin jeden Monat bezahlt. „Als sie uns dann aber später erzählte, dass davon nur 900 Euro netto bei ihr ankommen, war das schon ein Schock für uns“, sagt ein Angehöriger, der lieber anonym bleiben möchte.«

1 Das im Zitat von Thym hinsichtlich des § 32a genannte Asylverfahrensgesetz bekam mit dem Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz mit Wirkung vom 24. Oktober 2015 seine heutige Bezeichnung Asylgesetz.