"Se acabó", "es reicht": Am Montagabend skandieren wieder Hunderte den Slogan. Manche haben sich den Hashtag mit lila Lippenstift auf die Wangen gepinselt. Andere halten ihn auf Plakaten oder roten Karten in die Höhe, daneben die Aufschrift: "Es war kein Kuss, sondern Missbrauch". Oder: "Jenni, wir stehen auf deiner Seite". Auf der Plaça Sant Jaume in Barcelona haben sich etwa 300 Menschen versammelt – Frauen, Männer, Teenager, Pensionäre. Es ist heiß und schwül. Manche nutzen die roten Karten, um sich etwas Luft zuzufächeln. 

Der Protest, zu dem eine Plattform gegen geschlechtsspezifische Gewalt aufgerufen hat, ist nicht der erste und auch nicht der größte seiner Art. Bereits am Freitag hatte es landesweite Demonstrationen gegeben, organisiert von der linken, feministischen Gruppierung Libres y combativas ("Frei und kämpferisch"). Hinter dem Protest in Madrid am Montag zuvor stand die Kommission 8M.

Seit Luis Rubiales bei der Siegerehrung der Fußball-WM in Sydney der Mannschaftskapitänin Jenny Hermoso ungefragt einen Kuss auf die Lippen drückte und anschließend mit Schuldzuweisungen an die Spielerin und Schimpftiraden über einen "falschen Feminismus" Schlagzeilen machte, kommt Spanien nicht zur Ruhe. Landauf, landab wird demonstriert. Der Kuss-Skandal ist immer noch Talkshow-Thema. 

Und mit Ausnahme der rechtsextremen Partei Vox hat inzwischen das gesamte politische Lager den Vorfall verurteilt. Die Wertungen reichten dabei von "beschämend" (Spaniens amtierender Premier Pedro Sánchez), "inakzeptabel" (Sport- und Kulturminister Miquel Iceta) über "unangemessen" (Borja Sémper, Vizesekretär der konservativen Volkspartei PP) bis hin zum Vorwurf "sexueller Gewalt" (Gleichstellungsministerin Irene Montero). Vom spanischen MeToo-Moment schreiben internationale Medien.

Die Toleranz für Machogehabe im öffentlichen Raum ist gering

Dabei zeigt der Protest gegen Rubiales vor allem eines: Feministische Grundsätze sind in Spaniens Gesellschaft verankert und die Toleranz für Machogehabe im öffentlichen Raum ist gering. Das kommt nicht von ungefähr.

Denn die aktuelle feministische Protestwelle ist nicht die erste, die durch das Land rollt. Tagelange Demonstrationen von Zehntausenden Frauen gab es zuletzt 2018. Hintergrund war damals die landesweite Empörung über das Urteil im Vergewaltigungsfall La Manada ("Das Rudel"). Eine Gruppe Männer hatte eine 18-Jährige während des Stiertreibens in Pamplona in einem Hauseingang mehrfach penetriert, die Tat gefilmt. Weil die Frau keinen erkennbaren Widerstand geleistet habe, sahen die Richter zunächst keine Vergewaltigung, sondern lediglich sexuellen Missbrauch – und lösten damit einen Sturm der Entrüstung aus.

Die Weichen wurden neu gestellt: Im vergangenen Jahr verabschiedete die Linkskoalition das sogenannte Nur-Ja-heißt-Ja-Gesetz. Fehlt die eindeutige Zustimmung der Frau, sind sexuelle Handlungen strafbar. Darunter fällt auch der Schraubstockgriff, mit dem Rubiales den Hinterkopf der frisch gekürten Weltmeisterin Jennifer Hermoso festhielt, um ihr – ungefragt, wie die Fußballerin mehrfach erklärt hat – einen Kuss auf die Lippen zu drücken.

Bereits zwanzig Jahre zuvor hatte ein anderer gesellschaftlicher Protest zu einem politischen Umdenken in Sachen Frauenrechte geführt: Die Gesetze zum Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt, die europaweit als vorbildlich gelten, gehen zurück auf einen Mord, der Spanien zutiefst erschütterte. Nachdem die 60-jährige Ana Orantes 1997 in einer Fernsehtalkshow von Misshandlungen durch ihren Ex-Mann berichtet hat, überschüttete der sie mit Benzin und zündete sie an. Orantes verbrannte bei lebendigem Leib. "Ana somos todas", "wir alle sind Ana", skandierten die Spanierinnen damals. Der Kampf gegen Gewalt gegen Frauen rückte auf der politischen Tagesordnung nach ganz weit oben.

Ähnlich vehement mobilisierten Spaniens Frauen seit den Achtzigerjahren für das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche. Seit 2010 darf in den ersten 14 Wochen straffrei und ohne Angabe von Gründen eine Schwangerschaft beendet werden. Eine geplante Verschärfung musste 2014 wegen massiver Proteste zurückgenommen werden.

"Die Gesellschaft ist immer noch zutiefst machistisch"

Mobilisierungen für Frauenrechte gibt es in Spanien durchaus schon länger. Dennoch ist der Protest diesmal anders gelagert. Während es bisher darum ging, Gesetze zu ändern, gewissermaßen die Hardware des Landes, geht es jetzt um die Software: Um das Verhalten, den Macho-Habitus, den viele Männer immer noch an den Tag legen und viele Frauen mit einem augenrollenden "so sind sie eben" abtun.

Dazu gehört der triumphale Griff ans Gemächt, mit dem Rubiales das 1:0 über England feierte, ebenso wie sexistische Witze bei Geschäftsessen oder langes In-den-Ausschnitt-Starren in der U-Bahn. "Wir sind umgeben von patriarchalischen Verhaltensweisen", sagt Paula, eine 39-jährige Sozialarbeiterin, die mit Freunden zum Protest in Barcelonas Stadtzentrum gekommen ist. "Die systematische Unterdrückung, die Frauen durch die Diktatur und die katholische Kirche erlitten haben, wirkt in vielen Köpfen bis heute nach."