Das Videospiel „Sea Of Solitude“ : Die Seele ist ein langer, unruhiger Fluss
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Kay war einmal ein Mädchen. Sie hat sich in ein gefiedertes, schwarzes Wesen verwandelt. So geht sie durch die überflutete Welt in „Sea of Solitude“. Bild: Jo-Mei/EA
Ein Videospiel wie das von Cornelia Geppert haben wir noch nicht gesehen: „Sea of Solitude“ handelt von Ängsten und Schuld und vom Leben der Erfinderin.
Kunst und Einsamkeit gehen Hand in Hand. Im Werk bricht sich der Wille des Einsamen Bahn, sich mitzuteilen, und glaubt ein Hörer, Leser, Zuschauer dann, zu verstehen, gar zu fühlen, was gemeint ist, wähnt auch er sich plötzlich zugehörig. Bei Computerspielen, mit denen sich Spieler viele Stunden allein vor dem Bildschirm beschäftigen, rätseln, versunken in die Spielfigur und deren Geschichte, ist das in besonderer Weise gegeben. Der Sog, der dabei entsteht, kann inspirieren und befreien, aber auch gefährlich sein, wie zuletzt die Weltgesundheitsorganisation feststellte. Die WHO hat exzessives Spielen jüngst offiziell als Krankheit anerkannt, genannt „Gaming Disorder“: Das lange Sitzen vor dem Monitor mit geringer körperlicher Beteiligung könne nachhaltige Schäden im Gehirn verursachen.
Vieles deutet darauf hin, dass die Sorge begründet ist. Aber es geht auch anders. Denn einige Spiele widmen sich dem Thema mentale Gesundheit inhaltlich. In „Hellblade: Senuas Sacrifice“ kämpft der Spieler mit den Stimmen im Kopf seiner schizophrenen Heldin, in „What remains of Edith Finch“ driftet man als Fließbandarbeiter langsam in Welten jenseits der Zurechnungsfähigkeit ab. Nun reiht sich ein Titel aus Deutschland ein, „Sea of Solitude“ des Berliner Studios Jo-Mei.
Monster, die der Protagonistin nicht ganz unähnlich sind
Man erwacht als dunkle Kreatur, in ein kleines Boot gekauert, bei stürmischem Seegang. „Ich bin es so satt, ich muss raus hier!“, ruft die zerzauste Heldin und kneift die rot glühenden Augen zusammen. Dass Kay mal ein junges Mädchen war, lässt sich erahnen, doch mittlerweile ist ihr Körper von einem schwarzen Federkleid überzogen. In ihrem Boot muss sie sich einen Weg durch eine überflutete Welt bahnen, die mal hell erleuchtet Erinnerungen an frohere Tage weckt und dann wieder in trostloser Düsternis versinkt, in der Monster lauern, die der Protagonistin nicht ganz unähnlich sind.
Eines kreist stets hungrig unter der Wasseroberfläche, ein anderes versperrt zornig einen Durchgang auf der Suche nach dem Ausweg aus der Misere. „Du wertloses Stück Dreck“, zischt es die verzweifelte Heldin an, der die Kreatur unerwartet bekannt vorkommt. „Du tust nie etwas, du bist eine Betrügerin!“, schimpft es und bewegt sich nicht vom Fleck. Um es aus dem Weg zu räumen, muss Kay einen mächtigen Lichtstrahl finden und darauf ausrichten. Das ist nicht gerade subtil, aber sehr schön anzusehen. Und worum es hier eigentlich geht, verrät ohnehin eine Texttafel, bevor der erste Klick getan ist: „Dieses Spiel behandelt Themen wie die seelische und emotionale Gesundheit, die für einige Spieler belastend sein könnten. Es ist nicht als persönliche Beratung oder Hilfestellung gedacht. ,Sea of Solitude‘ ist ein persönliches Projekt über das Thema Einsamkeit.“ Selbstverständlich stört der Hinweis. Er bevormundet, nimmt vorweg, verhindert künstlerische Einstimmung und vermittelt den Eindruck von Misstrauen gegenüber dem eigenen Werk, was sich als völlig unbegründet entpuppt. „Sea of Solitude“ ist ein Spielerlebnis, das seinesgleichen sucht.
Seit der Veröffentlichung haben die Entwicklerin Cornelia Geppert Tausende Nachrichten erreicht: „Leute schreiben mir, dass sie beim Spielen vor Rührung in Tränen ausgebrochen sind. Dass sie nicht fassen konnten, wie sehr sie sich plötzlich verstanden gefühlt haben.“ Das liegt am Spiel selbst, aber wohl auch an Cornelia Geppert, die als Typus in der Branche eine Seltenheit ist: eine Künstlerin, die offen private Erfahrungen in ihren Spielen verarbeitet und kreativ in alle Bereiche eingreift. Cornelia Geppert hatte die Idee zum Spiel, schrieb Skript und Dialoge und verantwortete das Design. Man kann „Sea of Solitude“ wohl als Autorenspiel bezeichnen. In den Bildern zeigen sich Einflüsse aus Gepperts Kindheit in einer Greifswalder Fischerfamilie und von japanischen Mangas, mit denen sie aufwuchs, bevor sie mit siebzehn als Comiczeichnerin für den Mosaik Verlag nach Berlin kam.
Was die Entwicklerin 2016 bewog, ihre Firma, die bis dahin mit Online-Spielen großen Erfolg hatte, neu auszurichten und mit „Sea of Solitude“ ein finanzielles Risiko einzugehen, war eine Liebesgeschichte. „Am Anfang war die Beziehung der absolute Wahnsinn. Das Schönste, was ich je erlebt habe. Nach wenigen Monaten fing es dann aber an, eigenartig zu werden. Der Mann fing an zu verschwinden, einfach so. Anfangs nur für Stunden, dann wurden Tage daraus“, erzählt sie. Genauso erlebt es Kay im Spiel. Es ist eines der Schlüsselerlebnisse, die das Mädchen zum Monster werden lassen. Bald stellt sich heraus: Der Mann leidet unter einer klinischen Depression, die keine romantische Liebe zu heilen vermag.
Kay will vermitteln, trösten, aufarbeiten
Die Einsamkeit, die Kay erlebt, ist der traurige Höhepunkt ihrer Reise durch die Vergangenheit. Vorher bekommt sie es mit weiteren Ungeheuern zu tun: Ihr kleiner Bruder, der in der Schule terrorisiert wurde und bei seiner verliebten Schwester auf taube Ohren stieß, hat sich in einen zerrupften Riesenvogel verwandelt. Ihre Mutter macht als Krake ihrer Enttäuschung über den verantwortungslosen Vater Luft, der wiederum stapft als Chamäleon durch die Ruinen seiner Lebensträume. Kay will vermitteln, trösten, aufarbeiten, immer mehr Schatten saugt sie in ihren Rucksack, auf der Suche nach Hoffnung.
Neben dem Schattensammeln bleiben die Herausforderungen für den Spieler überschaubar. Hin und wieder kann man Flaschen mit Nachrichten auflesen, die weitere Facetten der Hintergrundgeschichten offenbaren. In regelmäßigen Abständen warten Möwen darauf, aufgeschreckt zu werden, um die grobe Richtung zu weisen. Die gelegentlichen Rätsel sind nicht anspruchsvoll, auch spielerische Geschicklichkeit ist selten gefragt. Das stört nicht, weil „Sea of Solitude“ nie den Eindruck vermittelt, es wolle dem Spieler in dieser Hinsicht etwas abverlangen. Dem Spielfluss kommt das sehr zugute. Man muss sich keine Sorgen machen, etwas zu verpassen, wenn man nicht hinter jede Ecke schaut, und man muss Wege nicht mehrmals gehen, weil ein Sprung nicht gelingt. Gameplay und Erzählung arbeiten einander zu, sie ziehen den Spieler tief unter die Oberfläche dieser überfluteten Stadt. Hier liegt die eigentliche Herausforderung: sich emotional einzulassen auf diese spezielle Reise durch eine oft sehr traurige Welt, in der es keine einfachen Lösungen gibt, keine Endgegner, deren Terrorherrschaft mit den richtigen Strategien ein für alle Mal beendet wird.
Auch Cornelia Gepperts Liebesgeschichte hat kein klassisch schönes Ende genommen. „Ich habe das alles gelebt, während wir entwickelt haben. Und manchmal waren wir mit dem Spiel schneller, als ich privat hinterherkommen konnte. Das hat mich dann ermutigt, Entscheidungen zu treffen.“
Wer „Sea of Solitude“ spielt, läuft nicht Gefahr, psychisch krank zu werden. Es fehlen die klassischen Faktoren, die Spiele zur Droge werden lassen können, und nach grob sechs Stunden nimmt Kays Geschichte ihr Ende. Natürlich kann das Spiel auch nicht den Psychiater ersetzen, wie das auch von Filmen oder Romanen niemand erwarten würde. Aber es ermöglicht eine Erfahrung, die verbindet. Die psychische Probleme besser verstehen lässt und Betroffenen Mut macht. So dass sich am Ende alle etwas weniger einsam fühlen. Auch ganz allein vor dem Bildschirm.
Sea of Solitude ist für Playstation 4, Xbox One und Microsoft Windows erschienen. Freigegeben ist das Spiel ab zwölf Jahren. Entwickelt wurde es bei Jo-Mei Games, vertrieben wird es von Electronic Arts zum Preis ab 19,99 Euro.