Mutige Denkansätze, vielversprechende Praxis-Innovationen und konkrete Handlungsaufforderungen erklangen beim 19. contec forum am 18. und 19. Januar in Berlin im Austausch zwischen Verantwortlichen der Pflegebranche, Leistungsträgern und Referent*innen aus Politik, Wissenschaft und Praxis. Unter dem Titel „Mut zu neuen Strukturen“ zeigte sich bei konstruktiven Diskussionen vor allem eines: Der gemeinsame Wille zur aktiven Gestaltung der Pflege von morgen – und die Überzeugung, dass es höchste Zeit für echten Wandel ist.

„Die notwendige Kernsanierung der Strukturen, wie ich sie schon in der Vergangenheit hier gefordert habe, ist noch immer nicht da. Wir wissen sehr viel, wir haben gute Ansatzpunkte, einiges ist bereits geschafft, aber wir kommen noch nicht genug ins Handeln. Das gilt für die Verantwortlichen in der Politik, aber auch für die Akteur*innen der Branche selbst. Was wir jetzt brauchen, ist eine klare gemeinsame Vision, ein konzertiertes Vorgehen und genug Mut, um Innovation schnell in die Praxis zu bringen.“ Denn, so Friedrich: „Innovationen liest man nicht in Büchern. Sie entstehen im Vordenken und Vorangehen, im Hinfallen und Wiederaufstehen.“

Detlef Friedrich, contec-Geschäftsführer

Wie mutig ist die Bundespolitik?
 
In einem Videostatement gab Sabine Dittmar, Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für Gesundheit (BMG), einen Überblick über den Stand der Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag im Bereich Gesundheit und Pflege. Neue Eckpunkte einer geplanten großangelegten Reform oder eine klar erkennbare Vision für die Pflegepolitik vermissten die Teilnehmenden jedoch in dem Statement. Dittmar verwies dabei auf verengte Rahmenbedingungen aus der Pandemie heraus sowie durch den laufenden Angriffskrieg gegen die Ukraine. Zudem betonte sie die besonders dynamische Entwicklung der Zahl der Pflegebedürftigen. Positiven Anklang fand das von Dr. Martin Schölkopf, Leiter der Unterabteilung Pflegesicherung im BMG, vor Ort ausgesprochene Ziel, Rahmenbedingungen so zu ändern, dass mehr Innovationen in das System kommen können.
 
Noch verstärkt zu erschließende Potenziale, u. a. im Bereich internationaler Pflegefachpersonen und -assistenzen, Digitalisierung sowie auch Prävention und Gesundheitsförderung kamen in der Podiumsdiskussion mit pflege- und gesundheitspolitischen Sprecher*innen und Expert*innen der Koalitionsparteien zur Sprache. Die offenen Vorhaben des Koalitionsvertrags würden mindestens angepackt werden, so das Versprechen der Runde. In konkreter Vorbereitung seien u. a. die Themen Community Health Nurse zur Sicherung der Primärversorgung sowie die bundeseinheitliche Regelung der Pflegeassistenzausbildung. Die anwesenden Politiker*innen nahmen sich selbst in die Pflicht, warben aber auch für das Engagement der Branche in der Umsetzung gesetzlicher Neuerungen und in der Zusammenarbeit der Akteur*innen, gerade im regionalen Kontext. 
 
Pflegearbeitsplatz der Zukunft und Stärkung der Fachpflege
 
„Mit welchem Personal stellen wir morgen die Versorgung sicher?“, so formulierte bpa-Geschäftsführer  Dr. Sven Halldorn in seiner kritischen Bilanz zur Tariftreueregelung die für ihn derzeit entscheidende Frage. Ansätze dazu präsentierte u. a. Benjamin Herten, Leiter des IEGUS – Instituts für europäische Gesundheits- und Sozialwirtschaft, mit Handlungsnotwendigkeiten für den Pflegearbeitsplatz der Zukunft. Konkret gab er Einblicke in die Befragungsergebnisse der vom BMG beauftragten Studie zur Arbeitsplatzsituation in der Akut- und Langzeitpflege im Rahmen der KAP. „Wir haben ein Spannungsfeld zwischen zwei Strömungen feststellen können – zwischen dem Bewusstsein beruflich Pflegender für ihre eigene Gestaltungsmacht und gleichzeitig einer kollektiv empfundenen Ohnmacht“, so Herten. „Die Handlungsnotwendigkeiten sind alle in dem Dreiklang aus Professionalisierung der Pflege, öffentlicher Wahrnehmung und Arbeitsalltag zu verorten.“ Herten stellte u. a. die Bedeutung von gestaltender Personalarbeit und guter Führung, von niedrigschwelligen Berührungs- und Einstiegspunkten sowie von flexibleren Arbeitsbedingungen im Sinne der beruflich Pflegenden heraus.
 
Berufliche Pflege als tragende Säule der Daseinsversorgung wertschätzend im System verankern: Dieses Ziel verfolgt das Institut für Pflege, Altern und Gesundheit (IPAG) als Think-Tank. Dafür müsse man Komplexität aufschlüsseln und neu strukturieren, erläuterte IPAG-Vorsitzende Melanie Philip in Berlin. Gemeinsam mit ihrer Kollegin Annemarie Fajardo stellte sie dafür einen 8-Punkte-Plan für eine Aufbaudekade zur Professionalisierung der Fachpflege vor. Teil des strukturierten Programms sind, in der Sache nicht unbekannte, Ansätze wie die Verlagerung der beruflichen Pflege in ein eigenes „SGB XIII“ sowie eine Stärkung der Selbstverwaltungsstruktur mit Kammern, Berufsordnung und politischer Vertretung im GB-A.
 
Pflegeorganisation neu denken und gestalten
 
Prof. Dr. Heinz Rothgang vom SOCIUM Forschungszentrum, Universität Bremen, unterstrich mit Blick auf die neue Personalbemessung erneut die Notwendigkeit von Organisations- und Personalentwicklung. Er warb dafür, schnell umzudenken und aktiv zu werden für eine kompetenzorientierte Arbeitsorganisation, um die Mehrpersonalisierung rechtzeitig vorzubereiten und die benötigten Stellen ausfüllen zu können – „allein auf die Politik zu warten wird hier nicht reichen.“
 
Auf Ebene der Bundespolitik sei gleichzeitig die verbindliche Festlegung mindestens einer dritten Stufe der Personalmehrung, statt eines erneuten Prüfungsauftrags, notwendig. Neue Erkenntnisse verspreche das nun angelaufene Modellprogramm der Universität Bremen gemeinsam mit contec, das u. a. einen verbesserten Algorithmus 2.0 hervorbringen könnte. Claus Bölicke, AWO Bundesverband, konnte in seinem Beitrag Klarheit zu den ausstehenden Bundesempfehlungen zur Anpassung und Ergänzung der Landesrahmenverträge mit dem Ziel der einheitlichen Umsetzung der Personalbemessung bringen, die im Februar 2023 veröffentlicht werden sollen.
 
Christine Vogler, Präsidentin des Deutschen Pflegerats, betonte die Bedeutung der Pflegewissenschaft als Grundlage des pflegerischen Handelns und forderte konkret: „Wir wollen 10.000 neue Studienplätze für die Pflege in Deutschland!“ Es gelte jetzt, das jahrzehntelang liegengelassene Potenzial der Pflege für die Gesundheitsforschung aufzuholen und zu nutzen. Außerdem müsse das Pflegeberufegesetz endlich bundesweit vollumfänglich alle Bildungsebenen und Qualifikationsniveaus erfassen. Ihr Appell: „Wenn wir im heute bleiben, werden wir nie irgendwo ankommen.“
 
Mutig, innovativ, hoffnungsvoll vorangehen – und zwar gemeinsam
 
Patrick Weiss, Leiter Geschäftsbereich Pflegewirtschaft bei contec, gab anschauliche Beispiele innovativer Ansätze in der Pflegelandschaft wie den Einsatz eines/einer Pflegeteamcoach*in mit dem konkreten Fokus auf Personalentwicklung im Team – eine Rolle, die viel Zuspruch fand, und für die im nächsten Schritt Möglichkeiten der Refinanzierung geschaffen werden müssten. Er ermutigte Pflegeunternehmen auch, aktuell bestehende, offene Potenziale auszuschöpfen – von neuen Softwarelösungen über Organisationsentwicklung bis zur modernen Führungskultur. Weiss ergänzte: „Während einige wünschenswerte und überfällige Änderungen wie die Entwicklung der Pflegeversicherung zu einer Vollversicherung und die Überwindung der Sektorengrenzen noch auf sich warten lassen, ist mit der neuen Personalbemessung eine wichtige Innovation konkret geworden. Nutzen wir Chancen wie diese!“
 
Zu einem hoffnungsvollen, mutmachenden Verbleib der Veranstaltung trugen schließlich auch David-Ruben Thies, Geschäftsführer der nach ‚Hotel-Vorbild‘ innovativ konzipierten Waldkliniken Eisenberg sowie Theologin Prof. Dr. Margot Käßmann mit ihrer gesamtgesellschaftlichen Betrachtung von mutigem Handeln und dem Aufruf zu klarer Haltung bei. Detlef Friedrich resümiert: „Wir freuen uns über eine rundum gelungene Veranstaltung, die uns einmal mehr den Wert von Austausch und persönlicher Begegnung gezeigt hat – mit dem ganz besonderen Spirit, für den wir unseren traditionellen Branchentreff schätzen. Im Jahr 2024 steht mit dem 20. contec forum ein besonderes Jubiläum an, zu dem wir Sie jetzt schon ganz herzlich einladen!

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