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Bis zu 2400 unerkannte Morde: Rechtsmediziner fordern Zweite Leichenschau für Bayern

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Coronavirus - Krematorium Celle
Ein Mann schiebt einen Sarg in den Einäscherungsofen. Das Symbolbild zeigt das Krematorium Celle, das während der Pandemie einen starken Anstieg an Einäscherungen verzeichnet hat. © picture alliance/Julian Stratenschulte

In allen Bundesländern gibt es sie, nur nicht in Bayern: die Zweite Leichenschau vor der Einäscherung. Rechtsmediziner fordern ihre Einführung schon lange – denn ohne sie bleiben Tötungsdelikte unentdeckt. Millionen haben die 23 Krematorien im Freistaat schon in den dafür nötigen Umbau investiert – doch der Starttermin verschiebt sich permanent.

Wenn jeder Tote, der eines unnatürlichen Todes gestorben ist, einen Finger aus seinem Grab strecken könnte, würden Friedhöfe aussehen wie Spargelfelder. So lautet ein bekannter Spruch unter Rechtsmedizinern. Und, dass der nicht an den Haaren herbeigezogen ist, bestätigt Oliver Peschel, Rechtsmediziner an der Ludwigs-Maximilians-Universität München. „700 bis 800 Tötungsdelikte werden pro Jahr in Deutschland erkannt“, sagt er. „Rund 1200 bis 2400 bleiben aber unerkannt. Und das ist bitter.“

In Bayern könnte diese Statistik mehr als andernorts der Realität entsprechen. Als einziges Bundesland verzichtet der Freistaat auf die sogenannte Zweite Leichenschau. Das heißt: Nur hier wird ein Leichnam vor der Einäscherung kein zweites Mal von einem Arzt auf die Todesursache hin untersucht. Das ist ein Problem. Denn ist die Leiche eines Opfers einer mutmaßlichen Gewalttat erstmal verbrannt, sind alle Beweise dahin.

Wird ein toter Körper verbrannt, sind Mordspuren für immer verloren

„Dass die Zweite Leichenschau in Bayern nicht Pflicht ist, ist kriminalistisch ein unhaltbarer Zustand“, sagt Peschel, der jährlich 2000 Obduktionen durchführt – darunter immer mal wieder exhumierte Körper, um eventuell nachtäglich Tötungsdelikte aufzudecken. Bei Erdbestattungen ist das möglich, bei Feuerbestattungen nicht. „Deshalb ist es ein Unding, dass die Einführung immer wieder verschoben wird.“

 „700 bis 800 Tötungsdelikte werden pro Jahr in Deutschland erkannt. Rund 1200 bis 2400 bleiben aber unerkannt. Und das ist bitter.“ 

Rechtsmediziner Oliver Peschel

In der Tat, seit 2016 wird diskutiert. Vor fünf Jahren, im November 2019, hatte der Landtag dann die entsprechende Änderung in der Bestattungsverordnung beschlossen. Sie sollte zum 1. Januar 2023 in Kraft treten, der Termin wurde verschoben. Bis 1. Juli 2024. Dann wieder verschoben. Jetzt soll die Zweite Leichenschau ab dem 1. April 2025 Pflicht sein.

Krematorien bauen um: Zweite Leichenschau soll ab 1. April 2025 Pflicht sein

Als Gründe für die Verzögerung nennt das Gesundheitsministerium „erhebliche organisatorische Anforderun­gen“, etwa weil Krematorien umgebaut und genug Ärzte dafür gewonnen werden müssten: „Die Gesundheitsämter verfügten nicht über die Personalkapazität zur Durchführung sämtlicher Leichenschauen in den 23 bayerischen Krematorien. Daher ist eine Beleihung von Ärzten notwendig, die die Durchführung eines komplexen Vergabeverfahrens voraussetzt. Dieses dauert derzeit noch an.“

Thomas Engmann, Geschäftsführer der Feuerbestattung Südostbayern in Traunstein, ist für den höheren logistischen Aufwand, den die Zweite Leichenschau mit sich bringen wird, schon lange gewappnet. Für 250 000 Euro hat er seine Kühlräume um ein Drittel vergrößert. „Nach dem Landtagsbeschluss Ende 2019 hieß es, dass die Zweite Leichenschau schnell, vielleicht sogar schon 2021 kommt“, sagt Engmann. „Also haben, soweit ich weiß, alle 23 Krematorien auch sehr schnell reagiert. Einige haben über eine Million Euro in Neubauten investiert.“

Einige Krematorien haben für die Einführung der Zweiten Leichenschau über eine Million Euro in Neubauten investiert.

Thomas Engmann, Geschäftsführer der Feuerbestattung Südostbayern in Traunstein

8000 Tote werden in Traunstein pro Jahr eingeäschert. Ist die Zweite Leichenschau Pflicht, wird jeder einzelne vorab nochmal von einem qualifizierten Arzt untersucht. „Wir bräuchten zwei Termine pro Tag, zehn bis 30 Leichenschauen müssten jeweils durchgeführt werden“, erklärt Engmann. „Deshalb haben wir Bestatter uns auch dagegen ausgesprochen, dass die Zuständigkeit allein bei den Behörden liegt, und für Dienstleister plädiert. Damit Angehörige nicht mit Wartezeiten von sechs bis zwölf Wochen leben müssen, bis eine Urne bestattet wird.“

Immer mehr Feuerbestattungen in Bayern

Der Trend geht in Deutschland klar weg von der Erdbestattung, hin zur – preislich meist günstigeren – Einäscherung. Im bundesweiten Durchschnitt werden inzwischen 75 Prozent der toten Menschen verbrannt. In katholisch geprägten Bundesländern ist die Einäscherungsquote noch niedriger. In Bayern liegt sie zwischen 60 und 65 Prozent. Als das Krematorium in Traunstein 2001 als dritte private Feuerbestattungsanlage in Deutschland in Betrieb gegangen ist, lag die Einäscherungsquote in der Region nur bei 20 Prozent, in München aber schon bei 60 Prozent. Heute liegt sie in Städten wie München, Rosenheim und Traunstein bei über 70 Prozent. (sco)

Seit viereinhalb Jahren ist das Gesundheitsministerium nun damit beschäftigt, die „hoheitliche Aufgabe“ der Zweiten Leichenschau an „externe“ Personen, etwa Rechtsmediziner, Pathologen oder andere qualifizierte Ärzte zu übertragen. Allein seit die Änderung der Bestattungsverordnung 2019 beschlossen ist, könnte laut Rechtsmedizinern im Freistaat eine drei-bis vierstellige Zahl an Tötungsdelikten unerkannt geblieben sein.

Die Pflicht zur Zweiten Leichenschau wird immerhin auch im Ministerium als wichtiges „Kontrollinstrument“ angesehen. „Die Ärzte der ersten Leichenschau sollen durch die generelle Möglichkeit einer zweiten Leichenschau – und damit auch einer Überprüfung der ersten Leichenschau – angehalten werden, die erste Leichenschau besonders sorgfältig durchzuführen“, erklärt ein Sprecher.

Erste Leichenschau: Ärzte könnten Anzeichen auf Mord und Totschlag übersehen

Bei der ersten Leichenschau werden nämlich häufig schwere Verbrechen übersehen. Mord, Totschlag, Tötung durch Unterlassen, Körperverletzung mit Todesfolge oder Tötung auf Verlangen. „Es ist selten, aber es gab schon Hausärzte, die Schussverletzungen oder steckende Messer übersehen haben. Ansonsten sind es natürlich spurenarme Tötungsdelikte, die nicht erkannt werden“, erklärt Rechtsmediziner Oliver Peschel. Die Opfer: Kinder, Alte, Pflegebedürftige. „Ich hatte auch mal einen Fall, bei dem die Schwiegertöchter einem älteren Mann Rohrfrei ins Bier gekippt hat. Der Hausarzt hatte einen Herzinfarkt bescheinigt. Von außen hat man dem Toten die unnatürliche Todesursache nicht angesehen. Wer aber seine Lippen umgeklappt hätte, hätte Verätzungen bis in die Speiseröhre festgestellt.“

„Ich hatte auch mal einen Fall, bei dem die Schwiegertöchter einem älteren Mann Rohrfrei ins Bier gekippt hat. Der Hausarzt hatte einen Herzinfarkt bescheinigt. Von außen hat man dem Toten die unnatürliche Todesursache nicht angesehen. Wer aber seine Lippen umgeklappt hätte, hätte Verätzungen bis in die Speiseröhre festgestellt.“ 

Rechtsmediziner Oliver Peschel

Wie kann so ein Fehler passieren? Die erste Leichenschau führen Ärzte oft unter erschwerten Bedingungen durch. Daheim, im Wohn- oder Schlafzimmer des Toten. Oft ist der Hausarzt einer ganzen Familie von mehreren Angehörigen umringt, die weinen, unter Schock stehen.

Nur ein Bruchteil der Ärzte entkleidet die tote Person dann für eine Untersuchung, die eigentlich kriminalistischen Argwohn erfordert und keine Körperöffnung auslassen dürfte. Immerhin kreuzt der Arzt – egal ob er viel oder wenig Routine in der Leichenschau hatte – am Ende „natürlich“, „nicht natürlich“ oder „ungeklärt“ auf dem Totenschein an. Genau diese Einschätzung kontrolliert seit Jahren niemand mehr nach. Solange der Freistaat die Gesetzeslücke nicht endlich schließt. (sco)

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