Die Menschenrechte, so forderte es die UN-Generalversammlung 1948, müssten durch Arrangements einer „Herrschaft des Rechts“ geschützt werden, damit Menschen sich nicht gezwungen sähen, „als letztes Mittel zum Aufstand (rebellion) zu greifen“. Wenn nun aber eine Herrschaft des Rechts gewaltsam verweigert oder umgestürzt wird, darf ein Widerstand gegen dieses Defizit dann darin gipfeln, einen „Tyrannenmord“ zu begehen?
Die Frage kann wohl kaum erschöpfend diskutiert werden, und so bietet sie sich für den Welttag der Philosophie an, den die Unesco 2005 ausgerufen hat, jeweils für den dritten Donnerstag im November.
Das Problem ist so alt wie die in der Geschichte allmählich entwickelten Ideen von einer Ordnung des Rechts, die einer bloßen Gewaltherrschaft entgegenzustellen sei. Es geht um die Abwägung von Menschenleben in einer Grenzsituation. Die philosophische Diskussion darüber muss den negativ besetzten Begriff des Mordes vermeiden; sie sollte es ferner unterlassen, lebende politische Akteure, die als Ziel einer Tyrannentötung infrage zu kommen scheinen, beim Namen zu nennen; dadurch würde die Gefahr vergrößert, dass an die Stelle von Argumenten ganz unvermittelt Gefühle treten.
Philosophie erwägt Logik und Ethik des Problems, aber daraus Entscheidungen und Handlungsanleitungen abzuleiten, steht auf einem anderen Blatt. Die Diskussion muss drittens Abstand gewinnen von den seit dem 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung immer erneut als Statue präsentierten Verschwörern Harmodius und Aristogeiton, denn deren Beweggründe erscheinen zumindest als unklar.
Ein geeigneter Attentäter (nicht Täter!) müsste ein individuell und unabhängig herausgebildetes politisches Motiv vorweisen können – frei von eigennützigem Streben nach Geld, Macht und Ruhm. Allzumal scheidet ein gedungener Killer aus. Muss ein würdiger Attentäter genau der Gesellschaft angehören, die von dem ins Visier genommenen Autokraten ganz oder teilweise unterdrückt wird? Oder kommt auch ein Angehöriger eines anderen Landes in Betracht, das der Autokrat mit Krieg überzieht und dabei Verbrechen gegen die Menschlichkeit zulässt oder gar befiehlt?
Wie dem auch sei – der Attentäter muss damit rechnen, dass er, in einer Art übergesetzlichen Notstands handelnd, hernach nicht gerechtfertigt und auch nicht entschuldigt wird, vielmehr gefoltert und am Ende exekutiert. Für sein unbedingtes Engagement bekommt er – im Sinne des Existenzphilosophen Jean–Paul Sartres – das Resultat, das er verdient. Je nach Umständen wird er der Mit– und Nachwelt als feiger Verräter oder als mutiger Held erscheinen.
Das Pendant zum geeigneten Attentäter ist die geeignete Zielperson (nicht Opfer!) – ein Autokrat, der totalitär herrscht, aggressiv nach innen, möglicherweise auch nach außen. Ein im wahrsten Sinn des Wortes absoluter Herrscher, der durch eine Clique von Gefolgsleuten gegen jegliche Kontrolle abgeschirmt wird und auch gegenüber Teilen der Realität.
Das Grundgesetz verleiht „allen Deutschen“ ein Widerstandsrecht, seit 1968, in Artikel 20 – „gegen jeden“, der es unternehme, die demokratische und rechtsstaatliche Ordnung zu beseitigen, „wenn andere Abhilfe nicht möglich“ sei; ob eine solche Rechtfertigung im alleräußersten Falle auch von Attentätern beansprucht werden darf?
Diese Widerstands-Legitimation erwächst jedenfalls aus der Leitidee der deutschen Verfassung, nicht unbedingt dagegen aus dem Ergebnis demokratisch durchgeführter Wahlen: Besteht doch die Gefahr, dass die real existierende Grundgesetzordnung sich nicht als wehrhaft erweist und deshalb abgewählt wird.
Warum eine prinzipielle Ablehnung der Tyrannentötung inhuman wäre
Nicht für jede Gesellschaft darf demokratische Legitimation zur Voraussetzung für politischen Widerstand gemacht werden. An pluralistischen Systemen mangelt es allenthalben, während die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte universelle Geltung beansprucht. Auch darin wird freilich nicht aufgezählt, zu welchen Mitteln rebellierende Akteure greifen dürften.
Ein Grund dafür: Selbst in dem Fall, dass der Tyrann den ihm zugedachten Tod findet, kann der Anschlag das betreffende Terrorregime in noch gesteigerter Grausamkeit zurückschlagen lassen. Dann hat das Attentat sich möglicherweise als unverhältnismäßig erwiesen, nicht in Relation zum Ausmaß der Tyrannei, sondern in Relation zu seinen Folgen. Deren Prognose ist so gut wie unmöglich. Trotzdem wäre eine prinzipielle Ablehnung der Tyrannentötung inhuman. Sie verstieße gegen den Grundsatz der Menschenwürde. Ihn zu stärken, sind sämtliche Optionen in Betracht zu ziehen.
Wenn ein Autokrat sich entschlossen zeigt, mit Gewalt so lange zu herrschen, wie es ihm als nützlich erscheint, im Zweifel dann bis zum Ende seines Lebens, und wenn ihm die Macht dazu nicht genommen werden kann, dann sollte dieser Extremist aber darauf gefasst sein müssen, dass ihm stattdessen sein Leben genommen wird – durch eine entsprechend extreme Not- und Ausnahmeaktion, als eine allerletzte Form informeller Gewaltenteilung.
Einer der höchsten Werte: kritisches und unabhängiges Denken
Die Unesco will mit dem Welttag der Philosophie einem der höchsten Werte Vorschub geben, die die Menschheit entwickelt hat, dem „kritischen und unabhängigen Denken“. In Ländern, wo es gewaltsam unterdrückt wird, ist ein wichtiges Merkmal der Tyrannei gegeben. Schnell und oft nimmt sie entsetzlichere Formen an. Dann können selbst solche Menschen, denen das nackte Leben wichtiger erscheint als ein freier öffentlicher Diskurs, gleichwohl verfolgt, gequält und umgebracht werden, etwa weil der Tyrann sie als von vornherein minderwertig brandmarkt oder schlicht als fremd.
Der philosophische Diskurs kennt keinen endgültigen Abschluss und kein Rechthaben. Es kreist unter anderem um Begriffe, die immer erneut definiert werden müssen, hier um Demokratie, Freiheit und Humanität, um Legitimation und Menschenrechte, um übergesetzlichen Notstand und Tyrannei. Argumente und Definitionen verlangen Kreativität. Der Welttag der Philosophie lädt dazu ein, sich schöpferisch zu beteiligen.
Der Autor lehrt als Privatdozent Neuere und Neueste Geschichte an der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr. Welttag der Philosophie in der Helmut-Schmidt-Universität: 16. November, 18 Uhr: Sven Felix Kellerhoff (WELT): „Kampf den Tyrannen! Das Widerstandsrecht als philosophische Frage und praktisches Problem“; 17. November, 18 Uhr: Philosophisches Werkstattgespräch: „‚Tod dem Tyrannen!‘ – um die Herrschaft des Rechts wiederherzustellen?“ mit Tanja Trede-Schicker (Philosophische Werkstatt Hamburg), Jan Sikora (Giordano-Bruno-Stiftung), Helmut Stubbe da Luz in der Bibliothek der Helmut-Schmidt-Universität / Universität der Bundeswehr Hamburg, Holstenhofweg 85.