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Isoliert in Europa Gegen den Strom: Deutschlands einsamer Kampf für den Atomausstieg

Greenpeace-Protest gegen Atomkraft erstrahlt auf dem Kernkraftwerk Grohnde.
Eine Greenpeace-Projektion erstrahlt auf dem Atomkraftwerk Grohnde. Nach rund 36 Jahren ist das Kernkraftwerk endgültig vom Netz gegangen.
© Julian Stratenschulte / DPA
Im Kampf gegen die Atomkraft steht Deutschland in Europa derzeit ziemlich allein dar: Die EU-Kommission will sie mit einem grünen Label versehen, andere EU-Länder sind bereits mit dem Bau neuer AKWs zugange.

Das neue Jahr begann für viele Umweltschützer zunächst mit guten Nachrichten. Über die Silvesternacht hatte sich die Zahl der aktiven Atomkraftwerke (AKWs) von sechs auf drei halbiert. Wie geplant gingen die Meiler in Brokdorf (Schleswig-Holstein), Grohnde (Niedersachsen) und Gundremmingen (Bayern) vom Netz. Bis zum Jahresende will Deutschland der Atomkraft endgültig absagen – gut ein Jahrzehnt nach dem Reaktorunfall im japanischen Fukushima.

Doch die Freude währte nicht lange. Während Atomkraftgegner noch ihren über viele Jahre erkämpften Sieg feierten, erreichte die EU-Mitgliedsstaaten eine E-Mail aus Brüssel. Darin schlägt die EU-Kommission vor, im Rahmen der sogenannten Taxonomie die Atomkraft ebenso wie Gas unter bestimmten Bedingungen als grüne Technologien einzustufen. Das klimafreundliche Label soll Investoren motivieren, in nachhaltigere Technologien und Unternehmen zu investieren und so ihren Teil zur Klimaneutralität Europas bis 2050 beizutragen.

Der Vorstoß der EU-Kommission ist jedoch höchst umstritten. Klimaschützer fürchten, dass der Ausbau der erneuerbaren Energien darunter leiden wird, wenn auch Investitionen in Atom- und Gaskraftwerke als nachhaltig gelten. Die Bundesregierung begrüßte zwar die Entscheidung zu Gas als Brückentechnologie, kritisierte jedoch den Atomkraft-Vorschlag scharf. Wirtschafts- und Klimaschutzminister Robert Habeck (Grüne) sprach von "Greenwashing", seine Parteikollegin und Umweltministerin Steffi Lemke bezeichnete die Pläne als "absolut falsch".

Deutschlands Sonderweg

Für die neue Ampel-Koalition ist eine Rückkehr zur Atomkraft ausgeschlossen – vor allem wegen der beträchtlichen Endlagerungsrisiken. Wenn Ende 2022 das letzte deutsche AKW vom Netz geht, wird der angehäufte Atommüll noch über Jahrzehnte weiterstrahlen. Bis 2080 erwarten Experten rund 10.500 Tonnen hoch radioaktiver Abfälle aus Brennelementen. Die Suche nach einem sicheren Endlager dauert bislang an.

Hinzu kommt: Jeder Euro, der in Richtung Kernenergie fließt, fehlt beim Ausbau der erneuerbaren Energien. Laut Koalitionsvertrag will Deutschland bis zum Jahr 2030 "idealerweise" auch aus der Braunkohle aussteigen und stattdessen 80 Prozent seines Stroms aus erneuerbaren Energien beziehen. Im vergangenen Jahr ist deren Anteil an der Stromerzeugung jedoch auf knapp 41 Prozent gefallen. Braun- und Steinkohle decken nach Angaben des Energieverbands BDEW weiterhin mehr als ein Viertel des deutschen Strombedarfs, Atomkraft knapp 12 Prozent.

Mit jedem abgeschalteten AKW stellt sich daher die Frage, wie Deutschland seinen steigenden Strombedarf künftig decken will. Für den neuen Wirtschafts- und Klimaschutzminister liegt die Lösung vor allem in der Förderung der Windkraft – künftig sollen pro Jahr dreimal so viele Windräder gebaut werden, statt wie zuletzt 450.

Europa beim Thema Atomkraft gespalten

Doch während Deutschland der Atomkraft endgültig den Rücken kehrt, wollen die meisten europäischen Länder zur Erreichung der Klimaziele an der Kernenergie festhalten – und teilweise sogar neue AKWs bauen lassen. Argumentiert wird, dass während des Betriebs kaum CO2-Emissionen anfallen, die Kraftwerke wenig Platz benötigen und unabhängig von Wind oder Sonne verlässlich Strom produzieren. Ein Überblick.

Frankreich gilt seit langem als das "Atomland" Europas. Es liegt hinter den USA und China auf Platz drei der größten Kernstrom-Produzenten weltweit. Seine 56 Reaktoren decken den nationalen Stromverbrauch zu rund 70 Prozent, den Gesamtenergiebedarf zu rund 40 Prozent, so viel wie Erdöl und Erdgas zusammen. Angesichts der andauernden Energiepreiskrise hat Präsident Emmanuel Macron bereits den Bau neuer Reaktoren angekündigt und will zudem neuartige, modulare Minireaktoren fördern.

In den Niederlanden spielte Kernkraft wegen der beträcht­lichen Öl- und Gasreserven in der Nordsee bislang nur eine unter­geordnete Rolle. Ihr Anteil am Energiemix beträgt lediglich drei Prozent. Doch in ihrem Koalitionsvertrag hat die neue Regierung beschlossen, dass fast 50 Jahre alte Kernkraftwerk Borssele länger laufen zu lassen und zwei neue AKWs zu bauen.

In Skandinavien setzen Finnland und Schweden auf Kernenergie. Finnland will den bei knapp 28 Prozent liegenden Atomkraftanteil an der Stromversorgung weiter ausbauen. Nächstes Jahr soll ein weiterer Reaktor im Atomkraftwerk Olkiluoto ans Netz gehen, auch die Errichtung eines neuen Atomkraftwerks ist bis 2028 geplant. Als erstes Land der Welt arbeitet Finnland zudem am Bau eines eigenen Endlagers für Atommüll. In Schweden ist die wichtigste Energiequelle nach wie vor die Wasserkraft. Rund 30 Prozent der Stromerzeugung entfallen derzeit auf die drei Atomkraftwerke in Ringhals, Forsmark und Oskarshamn. Diese sollen teils noch bis 2040 am Netz bleiben.

In Osteuropa ist der Gebrauch von Atomkraft weit verbreitet und gesellschaftlich akzeptiert. Mit knapp 50 Prozent des Elektrizitätsverbrauchs hat Ungarn den höchsten Anteil an Kernenergie. Die meisten Meiler stehen in der Ukraine (15), gefolgt von Tschechien (sechs), jeweils vier in Ungarn und der Slowakei sowie je zwei in Bulgarien und Rumänien. Slowenien und Kroatien teilen sich ein Kernkraftwerk, Belarus hat im Sommer sein erstes in Betrieb genommen.

Eigentlich wollte Belgien bereits 2025 raus aus der Kernenergie sein. Doch die aktuelle Regierung hat das bei ihrem Amtsantritt an die Bedingung geknüpft, dass Versorgung und bezahlbare Strompreise gesichert sind. Schließlich gewinnt Belgien bisher 40 Prozent des Stroms aus AKWs. Bis Frühjahr 2022 soll nun die endgültige Entscheidung fallen.

Auch Italien ist ein altes Anti-Atomkraft-Land. 1990 wurde der einzige nennenswerte Reaktor abgeschaltet, heute bezieht das Land lediglich fünf Prozent des Stroms vom Nachbarn Frankreich. Doch die Debatte bekommt durch den italienischen Umweltminister Roberto Cingolani neuen Aufschwung, der sich für eine Öffnung gegenüber der Kernenergie starkmacht. Auch die rechtspopulistische Partei Lega ist für eine Förderung der Nuklearindus­trie.

Weltweit: China liegt bei Atomkraft vorn

Dies sei wohl die dynamischste Zeit für den Nuklearsektor seit den 1950er- und 60er-Jahren, sagte William Magwood, Generaldirektor der Nuklear-Agentur der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD-NEA) im "Deutschlandfunk": "Wir konnten in den vergangenen Jahren in so ziemlich allen Teilen der Welt ein weit verbreitetes Interesse an Nukleartechnologien feststellen."

Besonders groß ist das Interesse in China, wo die Atomkraft aktuell ein riesiges Comeback erlebt. Nach dem Reaktorunfall im japanischen Fukushima hatte die Regierung in Peking zunächst einen Baustopp für Kernkraftwerke verhängt. Doch seit das Land beim Pariser Klimagipfel zugesagt hat, bis 2060 kohlenstoffneutral zu sein, ist die Kernenergie zurück auf der Agenda. In den kommenden 15 Jahren will die chinesische Regierung mindestens 150 neue Reaktoren bauen lassen. Damit dürfte das Land die USA in ein paar Jahren als größten Produzent von Atomenergie ablösen. Auch Russland und Indien planen neue Reaktoren in Betrieb zu nehmen.

Wohin der nukleare Weg für die Europäische Union und damit auch für Deutschland führt, könnte sich am 12. Januar offenbaren. Bis dahin haben die Mitgliedstaaten Zeit, die Pläne der EU-Kommission zu kommentieren. Deren Umsetzung könnte nur durch eine mindestens 65 prozentige Mehrheit im EU-Parlament verhindert werden. Dies gilt jedoch als unwahrscheinlich: Neben Deutschland sprechen sich bisher nur Österreich, Luxemburg, Dänemark und Portugal gegen ein grünes Label der Atomkraft aus.

Quellen: "FAZ", "Spiegel", "Deutschlandfunk", bundesregierung.de, mit DPA-Material

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