Innere Emigration

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Innere Emigration bezeichnet die Haltung von Menschen, die unter einem Polizeistaat leben, aber als politische Dissidenten heimlich gegen die damit einhergehende Zensur von Literatur, Musik und Kunst verstoßen. Ursprünglich wird er für Künstler, Schriftsteller und Gelehrte verwendet, die in der Zeit des Nationalsozialismus in Opposition zum NS-Regime standen, jedoch nicht auswanderten. Der Begriff wird manchmal auch für Künstler in der Zeit nach 1945 verwendet; dieser erweiterte Gebrauch ist jedoch umstritten.

Vorgeschichte[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Am 18. Mai 1945 veröffentlichte die Bayerische Landeszeitung unter dem Titel Thomas Mann über die deutsche Schuld die am 8. Mai 1945 ausgestrahlte Rundfunkrede des Nobelpreisträgers. Walter von Molo (wie Mann vor 1933 Mitglied der Sektion Dichtkunst der Preußischen Akademie) forderte ihn daraufhin in einem Offenen Brief – der am 8. August 1945 in der Berliner Allgemeinen Zeitung gedruckt wurde – zur Rückkehr auf. In seiner am 18. August 1945 in der Münchener Zeitung gedruckten Antwort Die innere Emigration warf Frank Thiess dem Exilschriftsteller vor, aus dem fernen Ausland in Sicherheit und Luxus der „deutschen Tragödie“ zugesehen zu haben. Am 12. Oktober 1945 erschien im Augsburger Anzeiger schließlich Manns Artikel Warum ich nicht nach Deutschland zurückkehre!, worin er die gesamte deutsche Literatur der letzten zwölf Jahre als wertlos bezeichnete.

Der Begriff wurde von Frank Thiess geprägt,[1] der mit der Inneren Emigration die Entscheidung von Persönlichkeiten (insbesondere von Künstlern und Intellektuellen oder Wissenschaftlern) beschrieb,

  • die ihrer Gesinnung nach dem Nationalsozialismus kritisch bis ablehnend gegenüberstanden,
  • die mit Berufsverboten beruflich „kaltgestellt“ oder deren Werke von offizieller oder parteiamtlicher Seite zu „entarteter Kunst“ erklärt wurden,
  • die aber an einer Auswanderung bzw. Flucht gehindert waren (z. B. durch persönliche und familiäre Verpflichtungen) oder sich aus Verantwortung ihren Mitmenschen gegenüber zum Bleiben bewogen fühlten und
  • die sich nicht von den Nationalsozialisten vereinnahmen lassen wollten.

Einige von ihnen arbeiteten (zuweilen oder kontinuierlich) in Widerstandszirkeln mit und wirkten durch Verbreitung ihrer Werke im Untergrund der NS-Propaganda entgegen. Beispielsweise malte der Bauhaus-Künstler Emil Bartoschek für die Öffentlichkeit naturalistische Bilder, während er für einen kleinen Kreis weiterhin die abstrakte Kunst pflegte.

In gewisser Weise war auch „beredtes Schweigen“ eine Form von Kritik an den Nazis, speziell dann, wenn viele andere Persönlichkeiten sich den Nationalsozialisten aktiv anschlossen oder deren Standpunkte aktiv lobten und vertraten (siehe Passiver Widerstand, ziviler Ungehorsam, Widerstand (Politik)).

Nach dem Ende des Nationalsozialismus kam es zu Plädoyers der „inneren“ Emigranten gegenüber den „äußeren“ (Frank Thiess in der Münchener Zeitung vom 18. August 1945). Thomas Mann wurde übelgenommen, aus dem US-amerikanischen Exil nicht ins Nachkriegsdeutschland zurückgekehrt zu sein. Im Tagebuch notierte er am 20. September 1945:

„Beunruhigung und Ermüdung durch die deutschen Angriffe dauern an. Nenne die ‚treu‘ in Deutschland Sitzengebliebenen ‚Ofenhocker des Unglücks‘.“

Autoren und Künstler der Inneren Emigration[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Zu den Autoren und Bildenden Künstlern der Inneren Emigration gehörten u. a.:

Andere Autoren wie Gottfried Benn[3], Ernst Jünger[3], Walter von Molo oder Frank Thiess[2] verstanden sich nach dem Zweiten Weltkrieg gerne als Repräsentanten der Inneren Emigration; ihre seinerzeitige Tätigkeit wie auch ihre Schriften lassen sich jedoch nicht eindeutig als oppositionell bzw. regimekritisch einschätzen. So lässt sich beispielsweise Thiess’ Reich der Dämonen (1934) laut Ralf Schnell „ebenso gut als Apologie geschichtlich-gesellschaftlicher ‚Katastrophen‘ lesen“.[2]

Die Frage nach der Zugehörigkeit einer Person zur Inneren Emigration ist oft schwierig zu beantworten und häufig auch umstritten. Vor allem im Zuge der Entnazifizierung erhoben zahlreiche Schriftsteller oder Künstler den Anspruch, zur Inneren Emigration gehört zu haben; häufig beschafften sie sich Persilscheine, die dies zu bestätigen schienen. Meist ist eine genaue Beschäftigung mit der betreffenden Person und ihrem Werk notwendig, um dies beurteilen zu können.

Innere Emigration in der DDR[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der Begriff wurde teils in Selbstbeschreibungen von Schriftstellern und Künstlern auf ihre Lage in der Literaturszene und Gesellschaft in der Deutschen Demokratischen Republik angewendet. Galionsfiguren der Inneren Emigration wurden entweder wie Wolf Biermann ausgewiesen oder ihrer Publikationsmöglichkeiten beraubt. Der Begriff wurde vielfach kritisiert, insofern die Analogie zuerst von westdeutschen Akteuren wie dem Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki gegen eine breite Ablehnung durchgesetzt wurde. Im August 1961 hatten westdeutsche Autoren wie Wolfdietrich Schnurre und Günter Grass in ihrem Offenen Brief an die Mitglieder des Schriftstellerverbandes[8] jede Möglichkeit einer inneren Emigration verneint.

Die Gruppe der Inneren Emigration reicht von christlichen Autoren und Vertretern einer bürgerlichen Literatur, die den Sozialistischen Realismus ablehnten, bis zu jenen Erfolgsautoren, die sich von den staatlichen Vorgaben an die Literatur abwandten und gerade in der BRD dem Verdacht der Anpassung ausgesetzt waren. Zur ersteren Gruppe zählten neben dem Theologen Johannes Hamel auch die Dichter Peter Huchel und Johannes Bobrowski. Letzterer sah sich stets als Christ und Sozialist zugleich. In dem Roman Der Turm thematisiert der Schriftsteller Uwe Tellkamp das Überleben von Bildungsbürgern in der DDR durch „innere Emigration“.

2008 veröffentlichte der Soziologe Carsten Heinze eine forschende Vergleichsstudie, in der er sich mit dem Zusammenhang von autobiografischen Identitäts- und Geschichtskonstruktionen im zeitgeschichtlichen Kontext nach dem Fall der Mauer vor dem Hintergrund deutsch-deutscher bzw. deutsch-jüdischer Vergangenheitsbearbeitungen beschäftigte.

Er untersuchte,

  • wie im Kontext deutscher Vergangenheitsauseinandersetzungen historische Identitäten durch die argumentative Integration und Funktionalisierung von Geschichte gebildet werden und
  • auf welchen kulturellen, sozialen und politischen Hintergründen sie basieren.

Hierzu analysiert er exemplarisch die autobiografischen Lebenskonstruktionen von Marcel Reich-Ranicki, Wolf Jobst Siedler, Helmut Eschwege und Fritz Klein.

Andere Beispiele für „innere Emigration“ zur DDR-Zeit:

  • Zitat: „Herbert Wagner war während der DDR-Diktatur weitgehend in der ‚inneren Emigration‘. Im Umbruchprozess 1989/1990 ergriff er die Chance, den Staat, der nie ‚seiner‘ war, zunächst umzugestalten und dann abzuschaffen. Die Übernahme des Dresdner Oberbürgermeisteramts erwies sich als eine logische Konsequenz seines vorherigen Engagements.“[9]
  • Zitat: „Das Trauma des 1953 niedergeschlagenen Volksaufstandes wirkte nach, … Intellektuelle, die im Land blieben, gingen in die innere Emigration, ließen sich an die Leine legen oder wurden mit Privilegien korrumpiert.“[10]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Friedrich Denk: Die Zensur der Nachgeborenen. Zur regimekritischen Literatur im Dritten Reich. Denk-Verlag, Weilheim 1995, ISBN 3-9800207-6-2.
  • Torben Fischer: Exildebatte. In: Torben Fischer, Matthias N. Lorenz (Hrsg.): Lexikon der „Vergangenheitsbewältigung“ in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945. Transcript, Bielefeld 2007, ISBN 978-3-89942-773-8, S. 48–50.
  • J. F. G. Grosser: Die grosse Kontroverse : ein Briefwechsel um Deutschland. Nagel, Hamburg 1963.
  • Carsten Heinze: Identität und Geschichte in autobiographischen Lebenskonstruktionen. Jüdische und nicht-jüdische Vergangenheitsbearbeitungen in Ost- und Westdeutschland. VS, Wiesbaden 2009, ISBN 978-3-531-15841-9.
  • Frank-Lothar Kroll, Rüdiger von Voss (Hrsg.): Schriftsteller und Widerstand. Facetten und Probleme der Inneren Emigration. Wallstein Verlag, Göttingen 2012, ISBN 978-3-8353-1042-1 (Rezension auf Deutschlandradio Kultur, 15. Juli 2012).
  • Beate Marks-Hanßen: Innere Emigration? „Verfemte“ Künstlerinnen und Künstler in der Zeit des Nationalsozialismus. dissertation.de / Verlag im Internet, Berlin 2006, ISBN 3-86624-169-0 (zugl.: Univ. diss. Trier 2003).
  • Josefine Preißler: Der Topos „Innere Emigration“ in der Kunstgeschichte. Zur neuen Auseinandersetzung mit Künstlerbiografien. In: Christian Fuhrmeister, Monika Hauser-Mair, Felix Steffan (Hrsg.): Vermacht, verfallen, verdrängt – Kunst und Nationalsozialismus : die Sammlung der Städtischen Galerie Rosenheim in der Zeit des Nationalsozialismus und in den Nachkriegsjahren. Michael Imhof Verlage, Petersberg 2017, S. 47–54.
  • H. Rotermund, E. Rotermund: Zwischenreiche und Gegenwelten. Texte und Vorstudien zur ‚Verdeckten Schreibweise‘ im „Dritten Reich“. Wilhelm Fink, München 1999, ISBN 3-7705-3387-9 (Inhaltsverzeichnis).
  • Ralf Schnell: Literarische Innere Emigration. In: Dichtung in finsteren Zeiten. Deutsche Literatur und Faschismus. Rororo, Hamburg 1998, S. 120–160.
  • Nancy Thuleen: Criticism, Complaint, and Controversy: Thomas Mann and the Proponents of Inner Emigration (online).
  • Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur (= Kröners Taschenausgabe. Band 231). 8., verbesserte und erweiterte Auflage. Kröner, Stuttgart 2001, ISBN 3-520-23108-5.
  • Carl Zuckmayer: Geheimreport. Hrsg. Gunther Nickel und Johanna Schrön. Reihe: Zuckmayer-Schriften. Wallstein, Göttingen 2021, ISBN 978-3-8353-3857-9 (Charakterporträts von Schriftstellern, Publizisten, Verlegern, Schauspielern, Regisseuren und Musikern, die während der NS-Zeit in Deutschland geblieben waren).

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Horst Dieter Schlosser (Hrsg.): dtv-Atlas zur deutschen Literatur. Tafeln und Texte. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1994 (6. Auflage; Erstauflage 1983), ISBN 3-423-03219-7, S. 261.
  2. a b c d e f g h i j Ralf Schnell: Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945. 2., überarb. und erw. Aufl. Stuttgart, Metzler, 2003. S. 68.
  3. a b c d Wolfgang Beutin [u. a.]: Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. 5., überarb. Aufl. Stuttgart, Metzler, 1994. S. 394.
  4. Hans Sarkowicz, Alf Mentzer: Literatur in Nazi-Deutschland. Ein biografisches Lexikon. Erweiterte Neuausgabe. Europa-Verlag, Hamburg/Wien 2002, ISBN 3-203-82030-7, S. 252–255.
    Kasack benutzte den Ausdruck „Emigranten im Innern“ bereits am 26. Juni 1933 in seinem Tagebuch (vgl. ebda., S. 253) und kann damit als originärer Vertreter der Inneren Emigration gewertet werden.
  5. Jutta Vinzent: Edlef Köppen – Schriftsteller zwischen den Fronten: Ein literaturhistorischer Beitrag zu Expressionismus, Neuer Sachlichkeit und Innerer Emigration, mit Edition, Werk- und Nachlassverzeichnis. Iudicum Verlag, München 1997, ISBN 978-3891294642.
  6. Jörg Thunecke: ‚Die Jahre des Unheils‘: Der innere Emigrant Oskar Loerke in seinen Tagebüchern und nachgelassenen Gedichten. In: Marcin Gołaszewski, Magdalena Kardach, Leonore Krenzlin (Hrsg.): Zwischen Innerer Emigration und Exil. Deutschsprachige Schriftsteller 1933–1945. De Gruyter, Berlin/Boston 2016, S. 65–82.
  7. Horst Dieter Schlosser (Hrsg.): dtv-Atlas zur deutschen Literatur. Tafeln und Texte. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1994 (6. Auflage; Erstauflage 1983), ISBN 3-423-03219-7, S. 260 f.
  8. Offener Brief von Günter Grass und Wolfdietrich Schnurre an die Mitglieder des Deutschen Schriftstellerverbandes, 16. August 1961, Abschrift, chronik-der-mauer.de, abgerufen am 23. August 2021.
  9. Friedliche Revolution und deutsche Einheit: sächsische Bürgerrechtler ziehen Bilanz. Links, Berlin 2006, ISBN 3-86153-379-0.
  10. Eckart Conze u. a. (Hrsg.): Die demokratische Revolution 1989 in der DDR. Böhlau, 2009.