Der «Weihnachtsfrieden» war keiner

In dieser Woche wird vielfach an die Verbrüderung von deutschen und alliierten Soldaten während der Weihnachtstage 1914 erinnert. Doch Versöhnung über die Gräber hinweg hatte eher profane Gründe.

Markus Pöhlmann
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Soldaten an der Westfront feiern 1914 Weihnachten. (Bild: Rallandier / Rue des Archives / SZ)

Soldaten an der Westfront feiern 1914 Weihnachten. (Bild: Rallandier / Rue des Archives / SZ)

Am 28. Dezember 1914 schrieb der bayrische Soldat Josef Wenzl von der Front in Flandern im Norden Belgiens an seine Eltern: «Zwischen den Schützengräben stehen die verhasstesten und erbittertsten Gegner um den Christbaum und singen Weihnachtslieder. Diesen Anblick werde ich mein Leben lang nicht vergessen.» Wenzl, der noch 1917 fallen sollte, war Zeuge eines Ereignisses geworden, das in der Geschichte des Ersten Weltkrieges als der «Weihnachtsfrieden» bekannt werden sollte. Wie jeder Kriegsmythos ist auch dieser über mittlerweile 100 Jahre in unzähligen Varianten erzählt und ausgeschmückt worden.

Versöhnung trotz Krieg

Im Kern lautet die Geschichte wie folgt: Vom blutigen Gemetzel des ersten Kriegshalbjahrs und vom einbrechenden Winter erschöpft, stellten die Soldaten an Heiligabend vielerorts von sich aus das Kämpfen ein. Bewegt von den aus den Gräben ertönenden Weihnachtsliedern, entzündeten sie Kerzen und nahmen Kontakt zu den gegenüberliegenden Soldaten auf. Vielerorts stiegen die frierenden Männer ins Niemandsland heraus. Dort reichten sie ihren Feinden die Hände, sangen mit diesen und tauschten Waren. In einer säkularen Variante dieses Weihnachtsmärchens sollen die Soldaten sogar Fussball gegeneinander gespielt haben. Ein «kleiner Frieden im Grossen Krieg», wie ihn zuletzt 2003 der Publizist Michael Jürgs auf der Basis akribischer Recherchen beschrieben hat. Bald schon waren die Soldaten von ihren Vorgesetzten aber in die Gräben zurück getrieben, hatten die Militärführungen und die gelenkten Medien das Ereignis zunächst totgeschwiegen.

Aber die Geschichte hat eine bemerkenswerte Resistenz bewiesen. Sie hat in der europäischen Erinnerung an den Ersten Weltkrieg – soweit es eine solche überhaupt gibt – ihren festen Platz. Soldaten, die sich über die Gräben hinweg die Hände reichen, sind ein starkes Bild. Im Weltkriegsmuseum «In Flanders Fields» in Ypern steht eine Skulptur, die an das Ereignis erinnert. Dokumentar- und Spielfilme behandeln die Episode. Die britische Supermarktkette Sainsbury erinnert gerade in diesen Tagen mit einem herzzerreissenden Werbeclip an den «Christmas Truce» – und ihr Schokoladenangebot.

Der Krieg friert ein

Tatsächlich taugen die Ereignisse vom Dezember 1914 aber nur wenig als Beispiel für die Rückbesinnung auf Menschlichkeit und Verständigung. Um das zu verstehen, muss man allerdings den Blick auf die Realitäten des Kampfes im Stellungskrieg werfen: Warum verliessen die Soldaten überhaupt ihre Gräben? Es kann zunächst kein Zweifel daran bestehen, dass die religiöse Prägung eine wichtige Rolle spielte.

Weihnachten war für sie in Friedenszeiten nicht bloss die schulfreie Zeit zwischen Halloween und Winterschlussverkauf, sondern ein zentraler Bezugspunkt in ihrem spirituellen Koordinatensystem. Aus diesem waren sie seit dem August 1914 in brutaler Art und Weise herausgeschleudert worden. Dessen wurden sich die Soldaten umso bewusster, je mehr sie unter den Bedingungen des Grabenkrieges die Normalität des Christfestes zu imitieren suchten. Der entscheidende Grund dafür, dass die Soldaten mit dem Kämpfen aufhörten, war aber nicht die Rückbesinnung auf Spiritualität. Es war der Umstand, dass ihnen bis Jahresende die individuelle körperliche und geistige Kraft und die militärischen Mittel zum Kämpfen schlicht ausgegangen waren. Nach vier sehr blutigen und chaotischen Monaten im Bewegungskrieg war der Krieg bis November zum Stellungskrieg geworden. Darauf waren die Armeen nicht eingestellt. Mit dem Einbruch des Winters lagen die Soldaten ohne ausreichende Winterkleidung, bei schlechter Verpflegung, ohne ausreichend Munition und Brennstoff in notdürftigen Erdlöchern im kalten Schlamm. Der Krieg war ganz einfach eingefroren. In dieser Lage hatten sich die Militärführungen lediglich entschlossen, die Front zu halten, die Versorgung zu reorganisieren und das Frühjahr abzuwarten.

Grausame Form der Arbeit

Dass Soldaten informelle Absprachen treffen, die auch den Austausch von Waren, die Bestattung von Gefallenen oder eben lokale Waffenstillstände umfassten, ist ohnehin im Ersten Weltkrieg gang und gäbe gewesen. Kein Soldat, keine Truppe konnte sieben Tage die Woche 24 Stunden kämpfen. Gerade in diesen Winterwochen entwickelte sich der Krieg zu einer existenziellen und grausamen Form der Arbeit, die immer mehr dem industriellen Regelwerk unterworfen wurde. Dazu gehörten Zeitpläne, Schichten und eben auch Pausen. Wenn die Führung diese nicht ermöglichte, nahmen sich die Soldaten diese bisweilen auch selbst.

Bei der Erinnerung an den «Weihnachtsfrieden» werden deshalb in der Regel Ursache und Wirkung vertauscht. Nicht der Eigensinn der Soldaten beendete im Dezember 1914 die militärischen Operationen an der Westfront, sondern das faktische Ende der Kämpfe schuf erst den Freiraum für die kurzen Verbrüderungen. Das ist der grosse Unterschied zu den späteren Meutereien im italienischen und französischen Heer 1917 und in der deutschen Marine 1918. Diese verhinderten tatsächlich die Aufnahme oder die Fortsetzung von Offensiven. Hier stellten die Soldaten auch konkrete Forderungen an ihre eigenen Führungen.

Auch gilt es, die Dimension des «Weihnachtsfriedens» im Auge behalten. Denn dieser war im Wesentlichen eine deutsch-britische Überraschungsparty, die auf einen kleinen Abschnitt der Front in Flandern beschränkt blieb. In dieser Phase des Krieges war die British Expeditionary Force eine militärische Grösse von nachrangiger Ordnung; der Krieg im Westen fand zwischen Deutschen und Franzosen statt. Und Letztere, wie im Übrigen auch die belgischen Soldaten, verspürten angesichts der Besetzung und Zerstörung ihrer Länder weit weniger weihnachtliche Gefühle gegenüber den deutschen Soldaten.

Sterben und Töten als Alltag

Weder die im erschreckenden Masse auf sich selbst bezogene, patriotische Kriegskitschkultur in Grossbritannien, noch der Fokus der kulturhistorischen Forschung auf die devianten und exotischen Randphänomene des Krieges helfen uns, die Vorgänge der wenigen Tage im Dezember 1914 in das Gesamtgeschehen des «grossen Krieges» einzuordnen. Wirkliche Forderungen nach Frieden hat damals niemand gestellt. Vielmehr können wir nur einen Moment der militärischen und moralischen Ratlosigkeit beobachten – was interessant genug ist. Doch dieser Moment war bald vorüber. Die Vorgesetzten und die eigene Artillerie mögen die Soldaten an Weihnachten schnell wieder in ihre Gräben getrieben haben. Dort sind sie dann aber auch geblieben, weil die meisten noch einen Sinn im Krieg sahen. Das konnte der Glaube an den Verteidigungscharakter des eigenen Kampfes sein, das konnte die Kraft der Kameradschaft oder einfach die Gewöhnung sein.

Sobald den Soldaten die Mittel des Krieges wieder an die Hand gegeben waren, sobald das grosse Abschlachten wieder organisiert worden war, haben sie den Krieg weitergeführt – über das Weihnachtsfest von 1915, von 1916, von 1917 und im Innern Deutschlands oder im Baltikum auch noch über das Fest von 1918 hinaus. Sie haben Liebesgaben erhalten und Briefe geschrieben, Tannenbäume geschlagen und in schlechtem Englisch einen Gruss über den Graben geschickt. Sie haben Lieder gesungen, gebetet und sich anschliessend betrunken. Am nächsten Tag haben sie sich dann wieder verstümmelt und getötet. Man sollte Schluss machen mit dem kitschigen Genrebild, das der «Weihnachtsfrieden» von 1914 zeichnet. Denn was die Episode tatsächlich zeigt, ist eigentlich sehr beunruhigend. Dass sich die Menschen nämlich an das Kriegmachen gewöhnen können, dass es ihre Arbeit und ihre zweite Natur werden kann.

Markus Pöhlmann ist Militärhistoriker und lehrt an der Universität Potsdam.

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