Rezensionen
Kommentare 1

Die Spinne

Wenn eine junge Frau in einem Comic von Michael Mikolajczak allein durch die Nacht läuft, bedeutet das in der Regel nichts Gutes. In Die Spinne wird eine junge Frau namens Melanie auf der Flucht mit voller Tötungsabsicht überfahren – der reißerische Auftakt einer sleazigen Thriller-Erzählung, die 1972 irgendwo in einem Wüstenkaff in Amerika verortet ist. Death Proof lässt grüßen.

Alle Abbildungen © Kult Comics

Sleazy war bereits Mikolajczaks Erzählung Paradies (Kult Comics), ebenfalls von 2019. In der von Holger Klein gezeichneten Story stolperte eine somnambule Thailänderin nächtens durch ein kandisches Kaff. Beinahe vergeht sich ein Vietnam-Veteran an ihr, doch sie wird rechtzeitig von ihrem Ehemann, einen jungen Polizisten gerettet, was nur der Auftakt zu einer pittoresken Psycho-Horror-Story im thailändischen Urwald ist, die stark den Geist vergessener B-Movies der 1970er und 80er atmet. Auch wenn die Dialoge in Paradies teils hölzern und das Lettering primitiv war: Viele Passagen waren großartig komponiert in ihrer Bildsprache und vermittelten eine gewisse Musikalität. Man konnte sich gut das Easy Listening schlüpfriger Splattermovies und Softpornos der 1970er dazu vorstellen (so in etwa) – sicher eine Referenz, gegen die Mikolajczak wenig einzuwenden hat.

Der Soundtrack in Die Spinne ist anders. Tagesaktuelle Rockmusik (von 1972) wird ausgiebig zitiert (Neil Young, Arthur Brown), von den Bewohnern besagten Wüstenkaffs namens Tinkerville abschätzig als „Affenmusik“ bezeichnet. In Tinkerville ist man eher konservativ, was dort dummerweise als Synonym für kleinbürgerlich, rassistisch und homophob verstanden werden kann und zudem mit sich bringt, dass dunkle Familiengeheimnisse niemals ausgesprochen werden. Wenn über Sexualität gesprochen wird, dann über die stadtbekannte Pornosammlung des Friseurs, ansonsten ist das Thema weggesperrt wie die Frauen, die der irre Jimmy in seinem ausgebauten Kellerverlies gefangen hält, bis diese perverse Konstellation sich immer wieder aufs Neue in einem Mord entlädt.

Amber im Kellerverlies. Andreas Möller beherrscht sowohl Dialogsequenzen als auch ausgedehnte wortlose Sequenzen. Blickführung und Timing sind großartig.

Die hoffnungsvolle junge Frau Amber ist einst im Streit weggegangen aus diesem Nest. Fast hätte sie eine sorglose Zukunft gehabt, doch sie will sich mit ihrem Vater versöhnen und bringt gleich noch ihren neuen Freund mit, einen Afro-Amerikaner im Jimi-Hendrix-Look. Ein progressives Hippie-Pärchen im rassistischen und verklemmt-perversen Tinkerville – das kann nicht gutgehen. Bereits an anderer Stelle hat unser Autor Gerrit Lungershausen 2019 in einer Besprechung zu Mikolajczaks Paradies 2019 moniert, dass Mikolajczak seine Story gerne mal überfrachtet, ein Vorwurf, der durchaus auch bei Die Spinne möglich scheint. Andererseits gelingt es dem Autor, die vielen Plot-Elemente ineinandergreifen zu lassen: Der Rassismus und die Spießigkeit sind es, die der offensichtlich verrohten Gesellschaft ein viel zu einfaches Ventil bieten, wodurch die Perversion des Mädchenfängers unentdeckt bleibt. Das Kaleidoskop entfaltet eine schlüssige innere Logik: Sobald etwas schiefläuft, waren es eben die verdammten Hippies, die Schwarzen und die Drogen.

Bereits in Paradies hat Mikolajczak stimmungsvolle, über viele Seiten ausgedehnte Langszenen geskriptet, richtiggehende Plansequenzen auf Papier, denen durch den Künstler der Wahl vibrierendes Leben eingehaucht werden muss. Diesem Stil bleibt er auch in Die Spinne treu, nur dass sich diesmal auch die Dialoge weit authentischer lesen, nicht mehr so offensichtlich verknappt und zugespitzt, bis nur noch hölzernes Aufsagtheater übrigbleibt. Auch das Lettering ist professionell geworden. Was in Paradies noch billig aussah, braucht in Die Spinne den Vergleich mit amerikanischen Lettering-Größen wie Todd Klein nicht mehr zu scheuen. Andi Möller gelingen in Die Spinne nicht nur großartige Panels, sondern immer wieder mehrseitige Panelfolgen mit Sogwirkung. Egal ob nackte Angst, Delirium, mörderische Hitze oder kalte Wüstennächte, Action oder Dialog: Es gibt nichts, was der Künstler nicht mit maximalem Effekt darstellen kann, wobei er nicht nur großes Zeichentalent, sondern auch ein gutes Gespür für Seiteneinteilung und abwechslungsreiche Blickwinkel zeigt. Michael Mikolajczak auf der anderen Seite erzählt mit einer Grausamkeit und Kälte, wie man sie ebenfalls eher von amerikanischen Noir-Autoren gewohnt ist.

Als störend sehe ich dennoch die Klischeehaftigkeit. Mikolajczak schöpft aus einem umfassenden Erfahrungsschatz als Filmkonsument und präsentiert uns eine deftige Neuanordnung von bekannten Motiven, die von Oliver Stones U-Turn über Tobe Hoopers Texas Chainsaw Massacre bis zu Hitchcocks Psycho zurückreichen. Auch die Beschäftigung mit Rassismus dient eher dem Lokal- und Zeitkolorit als einem echten Anliegen, zudem wird dem Afroamerikaner Darnell schlichtweg zu wenig Screentime zugestanden (bei so einem filmischen Comic darf man dieses Filmwort schon mal verwenden). Das macht aus Die Spinne keinen schlechten Comic, denn handwerklich ist er über die ganze lange Strecke von über 200 Seiten hervorragend geraten, trotzdem reduzieren die vielen Klischees den Comic letztlich zu einer stilistischen Fingerübung – wenngleich auf schwindelerregendem Niveau. Bis auf weiteres wollen Michael Mikolajczak und Andreas Möller noch einige Zeit in Tinkerville verweilen und arbeiten bereits fleißig an dem für 2023 angekündigten Sequel. Dank des großen Talents der beiden Künstler sei hiermit versichert, dass ich wieder mit dabei sein möchte.

Wenn Ihnen Die Spinne gefallen hat ….

Die Neuauflage des 2019 erstmals erschienen Comics ist auf seidenmattem Papier gedruckt, was den kontrastreichen Schwarzweißpanels einiges der harten Leuchtkraft nimmt, die den Look der Erstauflage von 2019 prägte. Das lässt die Zeichnungen nicht weniger kraftvoll wirken und passt zur Geschichte, ich empfinde es daher nicht als störend. Schade ist jedoch, dass die Farben des neuen Covers nicht kontrastreicher herausgearbeitet sind. Matte, dunkle Farbtöne in Kombination mit mattem Schwarz ergeben alles andere als einen Blickfang. Das ist schade, denn eigentlich ist die Cover-Illustration sehr reizvoll. Gut möglich, dass dies dem Wunsch nach einem gediegeneren Look geschuldet ist, denn die Erstauflage 2019 hatte ein sehr reißerisches, grelles Cover. So oder so wird Die Spinne sicher ihren Weg in die Herzen der Genrefans finden.

Plansequenzen auf Papier. Mitreißend erzählt.

8von10Die Spinne
Kult Comics, 2022
Text: Michael Mikolajczak
Zeichnungen: Andreas Möller
232 Seiten, Schwarzweiß, Hardcover
Preis: 30,00 Euro
ISBN: 978-3-96430-286-1
Leseprobe

1 Kommentare

  1. Pingback: Topcomics 2022 – Unsere Favoriten des letzten Jahres |

Schreibe einen Kommentar

Mit dem Abschicken dieses Formulars erklärst du dich mit unserer Datenschutzerklärung einverstanden.