Geschichte

Nach oben buckeln, nach unten treten

War das vor 150 Jahren proklamierte deutsche Kaiserreich besser als sein Ruf? Wer den Roman „Der Untertan“ des Zeitzeugen Heinrich Mann liest, glaubt das nicht.

27.03.2021

Von JÜRGEN KANOLD

Der Schriftsteller Heinrich Mann (1871-1950). Foto: akg-images

Der Schriftsteller Heinrich Mann (1871-1950). Foto: akg-images

Ulm. Vor 150 Jahren wurde im Spiegelsaal von Versailles das deutsche Kaiserreich ausgerufen: Bismarck hatte die nationale Einheit für Preußen „mit Blut und Eisen“ durchgesetzt, zuletzt mit einem Krieg 1870/1871 gegen Frankreich. Es war ein Fürstenbund – die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger spielte keine Rolle. Und mit seinem „Griff nach der Weltmacht“ trage das Kaiserreich eine Mitschuld am Ersten Weltkrieg, resümierte etwa der Historiker Fritz Fischer. Ein militärischer, zutiefst antidemokratischer Geist, Nationalismus, Antisemitismus, ein Imperialismus, der im Völkermord an den Herero und Nama in den Kolonien gipfelte – ohne das Erbe des Kaiserreichs unter Wilhelm II. wäre zweifellos das „Dritte Reich“ Hitlers nicht denkbar gewesen.

Oder war das Wilhelminische Kaiserreich besser als sein Ruf? In diesem Jubiläumsjahr hat sich ein kleiner Historikerstreit entfesselt. Im Mittelpunkt: Hedwig Richter von der Münchner Bundeswehr-Universität, die dem Kaiserreich soziale und gesellschaftliche Fortschritte attestiert, den Aufstieg der Sozialdemokratie, die Anfänge der deutschen Massendemokratie. Das führt sie in ihrem jüngst bei Suhrkamp erschienenen Essay „Aufbruch in die Moderne“ ausführlich aus: Das Kaiserreich habe eine kluge Verfassung gehabt, ambitionierte Reformen wurden auf den Weg gebracht, einer der größten Umbrüche überhaupt nahm an Fahrt auf – die Frauenemanzipation.

Abgesehen davon, dass das natürlich alles nicht vom Kaiserreich gefördert, sondern gegen den Obrigkeitsstaat erkämpft wurde – man könnte aus gegebenem Anlass mal wieder einen Zeitzeugen dazu befragen. Und zwar den vor 150 Jahren, am 27. März 1871 in Lübeck geborenen Heinrich Mann. Der nahm in seinem 1905 erschienenen (und 1930 als „Der blaue Engel“ mit Marlene Dietrich verfilmten) Roman „Professor Unrat“ die verkommene Moral seiner Epoche ins Visier. Und er gehörte zu den eher seltenen deutschen Schriftstellern, die entschieden gegen den Ersten Weltkrieg anschrieben. Vor allem aber legte er mit dem satirischen, aber fundiert recherchierten, mit originalen Zitaten Wilhelms II. gefütterten Roman „Der Untertan“ ein brisantes Panorama des Kaiserreichs vor.

Das Manuskript war 1914 noch vor Beginn des Krieges abgeschlossen, das komplette Buch wurde erst 1918 veröffentlicht – und löste sofort heftige Reaktionen aus. Die Nazis zählten Heinrich Mann später zu ihren intellektuellen Hauptfeinden: verbrannten seine Bücher, bürgerten ihn aus. Als Wolfgang Staudte den „Untertan“ 1951 für die DDR-Defa verfilmte, zeigte er am Ende Bilder aus dem zerbombten Deutschland nach 1945: Aus dem Untertanengeist resultierten die Katastrophen des Faschismus und des Krieges. Heinrich Mann selbst hatte in seinen Memoiren „Ein Zeitalter wird besichtigt“ (1943/1944 im kalifornischen Exil verfasst) auf diese Kausalität hingewiesen. Ihm habe damals beim Schreiben des Romans vom Faschismus noch der Begriff, aber nicht die Anschauung gefehlt.

„Der Untertan“ war immer auch bundesrepublikanischer Schulpflichtstoff. Spannend, erkenntnisreich, lohnend fällt ein Wiederlesen aus. Heinrich Mann veranschaulicht etwa den Antisemitismus im Kaiserreich. „Diederich Heßling war ein weiches Kind, das am liebsten träumte, sich vor allem fürchtete und viel an den Ohren litt“, lautet der berühmte böse erste Satz des Romans. Und was ist der größte Erfolg des Schülers? Als er „zum siegestrunkenen Unterdrücker ward“, indem er den einzigen Juden der Klasse nicht nur hänselte, „wie es üblich und geboten war“, sondern auf dem Katheder ein Kreuz aus Klötzen baute, vor dem der Mitschüler in die Knie gehen musste. Großer Beifall der überwältigenden Mehrheit. „Wie wohl man sich fühlte bei geteilter Verantwortlichkeit und einem Schuldbewusstsein, das kollektiv war!“, formuliert es der Erzähler.

Die Handlung spielt dann vor allem in den 1890er Jahren in einer preußischen Kleinstadt namens Netzig. Diederich Heßling erbt die Papierfabrik des übermächtigen Vaters und tritt als Abziehbild des Kaisers national großmäulig auf, sucht den „Platz an der Sonne“ in der Provinz, kriegt aber schon sein Familienleben kaum geregelt. Das absolut durchschnittliche, feige Weichei buckelt nach oben und tritt nach unten. Seine eigentlich „undeutsche Unmännlichkeit“, seine Identitätsschwäche kompensiert Diederich über seine Faszination für die Macht; geradezu sadomasochistisch unterwirft er sich Autoritäten. Mut gewinnt er nur mitmarschierend.

Er studiert Chemie in Berlin, bringt es zum Doktor, hat ein Verhältnis zu einer jungen Frau, die er dann sitzen lässt, als es ernst werden könnte. Was er als Erfolg verbucht. „Diederich empfand stolze Freude, wie gut er nun schon erzogen war“, heißt es in schneidig spöttischem Erzählton: „Die Korporation, der Waffendienst und die Luft des Imperialismus hatten ihn erzogen und tauglich gemacht.“ Weshalb er zum Hoffriseur ging und sich, kaisermodisch den Schnurrbart „in zwei rechten Winkeln hinaufführen“ ließ. Alles Lüge: Bei der Burschenschaft der Neuteutonia wurde nur gesoffen, von der Armee entzog er sich schnell wehleidig fußkrank mit Gefälligkeitsattest.

„Lohengrin“ und Pralinees

Heinrich Mann schrieb ein politisches Sittengemälde des Kaiserreichs, einen Anti-Bildungsroman?– sein Bruder Thomas, der spätere Literaturnobelpreisträger („Buddenbrooks“), kriegte indirekt auch sein Fett ab. Thomas Mann war der beflissene Großschriftsteller und Wagnerianer, im Kaiserreich noch deutschnational gesinnt; den „Untertan“ kanzelte er als banal ab. Was vielleicht mit der köstlichen Szene zu tun haben könnte, in der Diederich und seine Frau Guste in die Oper gehen, weil man das so macht in diesen Kreisen.

Sie schauen sich den „Lohengrin“ an. Die Gattin verzehrt Pralinees, Diederich versteht auch nicht viel, aber jedes nationale Wort. Und die „markige“ Musik, die hätte er gut als Stadtverordneter in seiner Rede über die Kanalisation gebrauchen können! Unter den Künsten sei halt die Musik die höchste. „Und der Roman?“, fragt Guste. „Der ist keine Kunst. Wenigstens Gott sei Dank keine deutsche: das sagt schon der Name.“ Der „Untertan“ jedenfalls ist ein großes deutsches Geschichtsbuch.

Untertanengeist mit Kaiser-Wilhelm-Bart: Werner Peters spielt die Titelrolle in Wolfgang Staudtes Romanverfilmung (1951). Foto: © ZDF/Defa

Untertanengeist mit Kaiser-Wilhelm-Bart: Werner Peters spielt die Titelrolle in Wolfgang Staudtes Romanverfilmung (1951). Foto: © ZDF/Defa

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Erstellt:
27.03.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 51sec
zuletzt aktualisiert: 27.03.2021, 06:00 Uhr

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