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Zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Eine Seite aus Barbara Yelins Comic „Aber ich lebe“.

© C.H. beck

Holocaust-Anthologie „Aber ich lebe“: Internationales Comic-Projekt für Eisner Award nominiert

In „Aber ich lebe“ erzählen Zeitzeugen, Künstler und Wissenschaftler vom Überleben im Holocaust. Jetzt könnte das Buch die wichtigste Auszeichnung der US-Comicbranche bekommen.

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Dieser eine Löffel. Das ist alles, was Emmie Arbel von ihrer Mutter geblieben ist. Und die traumatischen Erinnerungen, die die Seniorin auch 80 Jahre später nicht loslassen: Die Deportation ihrer Familie, in Holland lebende Juden, als sie vier war; die abrupte Trennung von Vater und Bruder; der mörderische KZ-Alltag in Ravensbrück; der Hungertod der Mutter im Lager; ihr eigenes, knappes Überleben.

Die in München lebende Comiczeichnerin Barbara Yelin („Irmina“) hat Emmie Arbels Schilderungen ihrer Kindheit in vielschichtigen Aquarellbuntstift-Bildern zu Papier gebracht. Die dunklen Farben und die oft nur schemenhaft angedeuteten Details der historischen Sequenzen kontrastieren mit dem hellen, realistischen Strich, mit dem Yelin ihre Begegnung mit Arbel im Israel der Gegenwart festgehalten hat.

Die knapp 40-seitige Comicerzählung ist eines der drei Kernstücke der Anthologie „Aber ich lebe“ (aus dem Englischen von Rita Seuß, Verlag C. H. Beck, 176 Seiten, 25 Euro), eines internationalen Gemeinschaftsprojekts, das 2022 auf Englisch und Deutsch veröffentlicht wurde und in künstlerischer wie geschichtsdidaktischer Sicht neue Maßstäbe gesetzt hat.

Eine Seite aus Barbara Yelins Beitrag, der dem Sammelband auch seinen Titel gab.
Eine Seite aus Barbara Yelins Beitrag, der dem Sammelband auch seinen Titel gab.

© C.H. Beck

An diesem Wochenende könnte das kanadisch-israelisch-deutsche Werk die höchste Auszeichnung der US-Comicbranche bekommen: Den Eisner Award. Diese Ehrung wird in zahlreichen Kategorien jedes Jahr auf der Fachmesse San Diego Comic-Con vergeben, die an diesem Freitag beginnt. Die „Eisners“ gelten als das Äquivalent der Comicszene zum Oscar der Filmbranche. In diesem Jahr ist die englische Ausgabe von „Aber ich lebe“ in der Kategorie der auf realen Ereignissen basierenden Comics nominiert.

Comic-Chronisten. Miriam Libicki (links), Gilad Seliktar und Barbara Yelin 2022 auf dem Internationalen Comic-Salon Erlangen.
Comic-Chronisten. Miriam Libicki (links), Gilad Seliktar und Barbara Yelin 2022 auf dem Internationalen Comic-Salon Erlangen.

© Lars v. Törne

Vier Holocaust-Überlebende, drei Künstler:innen aus Israel, Kanada und Deutschland sowie ein gutes Dutzend Wissenschaftler:innen und andere Fachleute haben an „Aber ich lebe“ rund drei Jahre lang gearbeitet.

Den ersten Anstoß gab ein Teenager in Kanada: Der Sohn von Charlotte Schallié, Professorin an der University of Victoria in British Columbia und Initiatorin des Projekts. „Er hatte Schwierigkeiten mit dem Lesen und erschloss sich viele schwierige Themen mit der Hilfe von Graphic Novels“, erzählte Schallié 2022 bei einem Deutschlandbesuch. Sie ist Germanistin und Expertin für die Geschichte des Holocaust.

Die Zeichner:innen werden zu Handelnden in ihren Geschichten

Ausgehend von den Erfahrungen ihres Sohnes hatte Schallié die Idee, Überlebende und Comiczeichner:innen zusammenzubringen, um gemeinsam lebendige Bilderzählungen zu erarbeiten. Darin soll es um die Vergangenheit gehen, aber ebenso auch um deren Bedeutung für die Gegenwart.

Deswegen war eine Vorgabe, dass die Zeichner:innen selbst zu Handelnden in ihren Geschichten werden. So hat Barbara Yelin, die sich bereits zuvor immer wieder mit dem Holocaust beschäftigt hat, vier Tage gemeinsam mit Emmie Abel in Israel verbracht und auch danach weiter regelmäßig Kontakt mit ihr gehalten.

„Unser künstlerischer Ansatz half den Überlebenden, neue Erinnerungen abzurufen und mit den Zeugnissen, die sie schon viele Male zuvor abgelegt hatten, neu umzugehen“, schreibt Schallié im Nachwort des Buches, das in zeitlicher Nähe zur deutschen Ausgabe auch in Nordamerika erschienen ist.

Anschaulich. Die Wander-Ausstellung zu dem Projekt ist derzeit in Dortmund zu sehen.
Anschaulich. Die Wander-Ausstellung zu dem Projekt ist derzeit in Dortmund zu sehen.

© Lars von Törne

Die für „Aber ich lebe“ erarbeiteten Comics „machen die Wechselbeziehung zwischen Vergangenheit und Gegenwart auf kunstvolle, zärtliche Weise transparent“, sagte die Historikerin Brigitte Korn im Sommer 2022 bei der Präsentation einer Ausstellung zu dem Projekt im Stadtmuseum Erlangen, dessen Leiterin Korn ist. Die Ausstellung wurde im Juni anlässlich des Internationalen Comic-Salons eröffnet und ist derzeit (bis zum 27. August 2023) in Dortmund zu sehen.

Zwei Brüder überlebten in 13 Verstecken

Neben Barbara Yelin, die einige Jahre auch für den Tagesspiegel gearbeitet hat, trafen sich für „Aber ich lebe“ der israelische Zeichner Gilad Seliktar und die in Kanada lebende amerikanisch-israelische Künstlerin Miriam Libicki mit weiteren Zeitzeugen und bereiteten das Erlebte in Comic-Erzählungen auf. Dabei wurden sie durch Historiker:innen, Lehrer:innen, Bibliothekar:innen und Archivar:innen unterstützt, ihre Comics werden im Buch ergänzt durch fundierte Hintergrundtexte, Grafiken und andere Sachinformationen.

Selbstporträt von Gilad Seliktar bei einem seiner Treffen mit Nico und Rolf Kamp.
Selbstporträt von Gilad Seliktar bei einem seiner Treffen mit Nico und Rolf Kamp.

© C.H. Beck

Gilad Seliktar erzählt in seinem Beitrag „Dreizehn Geheimnisse“ vom Überleben der beiden Brüder Nico und Rolf Kamp, die als holländische Juden der Deportation durch die deutschen Besatzer dadurch entgingen, dass sie sich über mehrere Jahre hinweg mit Hilfe eines Widerstands-Netzwerks und mehrerer beteiligter Familien an 13 Orten versteckten.

Seliktars Zeichenstil ist einerseits realistisch, andererseits gibt es viele skizzenhafte Szenen. „Ich habe versucht, die Unklarheit der Erinnerungen einzufangen“, berichtete der Zeichner bei der Ausstellungseröffnung in Erlangen.

Eine weitere Seite aus Gilad Seliktars Beitrag.
Eine weitere Seite aus Gilad Seliktars Beitrag.

© C.H. Beck

Anhand subtiler Abstufungen von Zeichenstil und Farben vermittelt er so unter anderem den Wechsel der Zeitebenen und zeigt, wo die Erinnerungen der beiden Brüder voneinander abweichen und wo sich ihre Perspektiven auf das ergänzen, was sie vor rund 80 Jahren erlebt haben.

Sie missachteten die Regeln, das rettete sie

Miriam Libicki erzählt im Beitrag „Jenseits der Regeln“ von ihren Begegnungen mit David Schaffer, der 1940 zusammen mit seiner Familie aus Rumänien in eine unwirtliche Region in Transnistrien deportiert wurde und wohl nur überlebte, weil er und seine Eltern die Regeln der faschistischen Behörden missachteten.

Eine Seite aus Miriam Libickis Beitrag.
Eine Seite aus Miriam Libickis Beitrag.

© C.H. Beck

Bei ihren teilweise an Infografiken erinnernden Zeichnungen ließ sich Libicki auch visuell von David Schaffer inspirieren. Er wurde nach dem Krieg Ingenieur in Kanada und hat in seinem persönlichen Archiv zahlreiche technisch anmutende Zeichnungen gesammelt, die bestimmte Aspekte seiner Familiengeschichte illustrieren, von Querschnitten der Zuckerrüben, die sie als Notnahrung auf Feldern sammelten, bis zum Holzofen in einer verlassenen Hütte, die ihnen als Unterschlupf diente und sie im Winter vor dem Kältetod bewahrte.

„Aber ich lebe“ knüpft an eine lange Tradition an, die Geschichte des Völkermords an den europäischen Juden mit Comics zu vermitteln. Die in diesem Band verarbeiteten Begegnungen jüngerer Autor:innen mit Überlebenden erinnern an einen Klassiker des Genres, Art Spiegelmans „Maus“, in dem der New Yorker Zeichner die langen Gespräche mit seinem Vater über dessen Erfahrungen während der Nazi-Zeit ab den 1980er Jahren verarbeitet hat. Seitdem sind Dutzende weitere Erinnerungsberichte von Zeitzeug:innen als Comics erzählt worden.

Das Titelbild der deutschen Ausgabe des Sammelbandes hat Gilad Seliktar gezeichnet.
Das Titelbild der deutschen Ausgabe des Sammelbandes hat Gilad Seliktar gezeichnet.

© C.H. Beck

Durch die Begleitung wissenschaftlich-didaktischer Fachleute wie auch durch die Zusammenstellung dreier sehr unterschiedlicher Überlebensgeschichten und deren Verarbeitung durch Künstler:innen mit prägnanten persönlichen Stilen zeigt „Aber ich lebe“ beispielhaft, dass die Möglichkeiten dieser Art von Geschichtsschreibung noch lange nicht ausgeschöpft sind.

Manche der hier befragten Überlebenden waren anfangs skeptisch gegenüber der Kunstform Comic, erzählte Barbara Yelin bei der Ausstellungseröffnung in Erlangen. Doch dann habe ihre Gesprächspartnerin Emmie Arbel gesagt, sie werde es trotzdem versuchen, denn es sei wichtig, Geschichten wie ihre zu erzählen, damit etwas wie der Holocaust nie wieder passiert.

Ähnlich äußerte sich David Schaffer, der beim Comic-Salon per Videoschaltung an einem Gespräch mit Miriam Libicki und dem Autor dieses Artikels teilnahm. Er hoffe, dass so auch nachwachsende Generationen sich weiterhin mit der NS-Zeit auseinandersetzten. „Freiheit ist kein Geschenk des Himmels“, sagte er in seinem Schlusswort. „Man muss jeden Tag dafür kämpfen – bitte behaltet das in Erinnerung.“

(Redaktioneller Hinweis: Dieser Artikel wurde 2022 erstmals im Tagesspiegel veröffentlicht und jetzt aus aktuellem Anlass leicht überarbeitet.)

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