Vor gut drei Wochen haben die Künstler*innen Moshtari Hilal und Sinthujan Varatharajah auf Instagram über Kontinuitäten von Kapital aus der NS-Zeit diskutiert. Besonders der von ihnen geprägte Begriff "Menschen mit Nazihintergrund" hat seitdem im Feuilleton und in sozialen Medien einige Abwehrreflexe provoziert. Offensichtlich haben Hilal und Varatharajah einen wunden Punkt getroffen.

In ihrem Instagram-Gespräch mit dem Titel Kapital und Rassismus bei Menschen mit Nazihintergrund geht es um reiche deutsche Industrieerbinnen, aber auch um den neu gegründeten Buchladen She said in Kreuzberg und die Frage, woher das Eigenkapital stammt, mit dem Emilia von Senger ihre Buchhandlung finanziert. Das hat mich aufhorchen lassen, zumal ich den Laden kenne und mag. Hilal und Varatharajah haben nicht viel mehr getan als für uns zu googlen: Gibt man "von Senger" ins Suchfeld ein, stößt man auf Großvater und Urgroßvater, beide einst hochrangige Wehrmachtsangehörige. Viel interessanter als die NS-Vergangenheit der Familie von Senger im Einzelnen ist aber, dass in der breiten Berichterstattung zur Eröffnung des Buchladens im Dezember offenbar niemand diese Frage nach dem Kapital gestellt hat. Symptomatisch vielleicht auch, dass Emilia von Senger, die so viel politisches Bewusstsein hat, einen Buchladen mit ausschließlich weiblichen und queeren Autor*innen zu eröffnen, es selbst nirgendwo thematisiert hat. Und dass mein Umfeld und ich offenbar so wenig kritisches Bewusstsein für unser Nazierbe haben, dass uns diese Fragen zu keinem Zeitpunkt kamen.

Inzwischen haben mehr als 50.000 Menschen das Video gesehen, das auf Instagram natürlich ein völlig anderes Publikum erreicht als in Schulen, Universitäten, Museen und Gedenkstätten. Es ist ein Gewinn, wenn in sozialen Medien über das Nazierbe nachgedacht und gesprochen wird, außerhalb jeglicher Institution. Und es ist kein Zufall, dass der Impuls von Menschen wie Hilal und Varatharajah ausgeht, deren Perspektive geprägt ist von Alltagsrassismus, von rassistischen Anschlägen und Fragen der Zugehörigkeit und des Deutschseins. Für sie ist klar zu erkennen, wie ungebrochen, wie "stabil" die Kontinuität des Nationalsozialismus in Deutschland ist, wie sie im Video sagen. Die Perspektive einer nahen Distanz ermöglicht ihnen nicht nur Scharfsicht, sondern auch, keinerlei falsche Rücksicht auf deutsche Empfindlichkeiten zu nehmen. Allein dass sie im Video passend zum Thema braune Pullover tragen, ist ein augenzwinkernder Kunstgriff, der in der offiziellen deutschen Erinnerungskultur als unangemessen flapsig verpönt wäre. Dazu kommt, dass ihr Gespräch sich nicht bloß um erbende Eliten dreht: Emilia von Senger bewegt sich selbst in ähnlichen Kreisen wie Hilal und Varatharajah, ist mit ihnen und auch der Followerschaft auf Augenhöhe.

All das hat dazu beigetragen, dass mich das Video ganz anders erreicht hat. Stellenweise habe ich mich geschämt. Warum macht jemand wie Varatharajah, mit einer Familie tamilischer Herkunft, Story-Highlights zu Themen wie Arisierung und Entnazifizierung. Auf Instagram erzählt Varatharajah, dass Coburg in Oberfranken die erste Stadt war, in der die NSDAP 1929 eine absolute Mehrheit errang und die ab 1939 den "Ehrentitel" "Erste nationalsozialistische Stadt Deutschlands" führte. Das wusste ich nicht. Warum müssen die "Kinder von Geflüchteten", wie Hilal und Varatharajah sich im Video nennen, diese Informationen für mich herausarbeiten? Warum wissen sie offenbar mehr über die nationalsozialistische deutsche Vergangenheit als ich, deren Großeltern sie miterlebt haben?

Die Bezeichnung "Menschen mit Nazihintergrund" leuchtet mir sofort ein. Fast wundere ich mich, dass ich sie in diesem Instagram-Talk zum ersten Mal gehört habe. Sie funktioniert wunderbar als Label, um genau diesen Aspekt des Deutschseins erst einmal richtig sichtbar und spürbar zu machen. Natürlich haben Label oft eine eindimensionale Wirkung, indem sie Menschen auf eine bestimmte Kategorie reduzieren. Aber solange es darum geht, die Sichtbarkeit eines Themas zu erhöhen, kann ein Label sehr hilfreich sein. Die Bezeichnung "Migrationshintergrund" ist insofern überflüssig. Menschen, die so gelabelt werden, brauchen diese Sichtbarkeit nicht, im Gegenteil. Ohnehin sind sie ständig der Frage nach ihrer Herkunft ausgesetzt: Unter dem Hashtag #vonhier erzählten 2019 viele, wie oft sie mit der Frage "Woher kommst du?" konfrontiert seien, weil sie nicht biodeutsch aussehen und nicht Hoffmann oder Meier heißen. Würde man Deutsche mit Nazihintergrund derart penetrant nach ihrer Herkunft befragen, würde uns das sicherlich in der Aufarbeitung weit voranbringen.

Tatsächlich ist es ein Segen, dass es Leute gibt, die uns, den namenlosen Vielen, Namen geben. Und wir uns so erkennen können im berühmten Spiegel der anderen. Die Bezeichnungen "Kartoffel" oder "Alman" zum Beispiel lösen in meinem Umfeld, wie ich beobachtet habe, eine Art Erleichterung aus, weil die selbstironische Aneignung des Begriffs es ermöglicht, ein Bewusstsein der eigenen Zugehörigkeit zur Mehrheitsgesellschaft zum Ausdruck zu bringen. Und anzuerkennen, auf eine spezifische Art deutsch und damit nicht "normal" zu sein. Haha, wir Almans!