Nach der Festnahme von Anwalt Müller schnappte die Polizei Volker Speitel, die zentrale Gestalt einer Verschwörungstheorie über die Hintergründe der Selbstmordnacht von Stammheim.
Das Rätsel beginnt schon mit der Festnahme Speitels: Die Polizei holte ihn aus einem Zug, der von Dänemark kam. Dabei musste der 27-Jährige gewarnt gewesen sein. Zwei Tage zuvor hatte er im Stuttgarter Büro des Anwalts Croissant angerufen und erfahren, dass er per Haftbefehl gesucht wurde. Ging er freiwillig in die Falle?
Gezweifelt hatte Speitel schon längere Zeit. Als die RAF 1975 die Besetzung der Stockholmer Botschaft plante, war er aus den Vorbereitungen ausgestiegen, angeblich weil er von der „Kamikaze-Aktion“ nichts hielt. Später jedoch war er bei Croissant als RAF-Kurier tätig und wusste von den nach Stammheim geschmuggelten Waffen. Und um dieses Wissen geht es bei dem eigentlichen Rätsel Speitel.
Ankläger versprachen Belohnung
Obwohl er bereits am 2. Oktober festgenommen worden war, soll er erst nach dem kollektiven Selbstmord von Stammheim über die Waffen in den Zellen berichtet haben. Dabei muss die Bundesanwaltschaft schon in früheren Verhören wichtige Infos von Speitel erhalten haben. Schon kurz nach seiner Festnahme soll der RAF-Mann über eine konspirative Wohnung in Köln und über besonders heiße Akten im Büro Croissant geplaudert haben. Speitel selbst machte später auch keinen Hehl daraus, dass die Ankläger ihm frühzeitig versprochen hatten, sie würden umfassende Aussagen durchaus belohnen. Welches Wissen aber war so viel wert wie jenes um die versteckten Waffen in Stammheim?
Die Legende (an der frühere RAF-Kader wie Boock kräftig mitarbeiten) will es jedenfalls, dass Speitel sehr schnell von den Waffen erzählte, dass also die Selbstmorde quasi unter staatlicher Aufsicht stattfanden. Speitel selbst, den die RAF als „Meistersinger“ denunzierte, wurde 1978 zu drei Jahren und zwei Monaten Haft verurteilt, kam bald in ein Zeugenschutzprogramm und wurde – mit einer neuen Identität ausgestattet – vom Bundeskriminalamt als „Thomas Keller“ in Brasilien angesiedelt.
BKA ließ Speitel untertauchen
Bald kehrte er nach Deutschland zurück, wurde 1985 Pressechef bei der Wohnmobil-Firma Westphalia. Dort flog er zwei Jahre später auf. Das BKA schaltete sich ein und ließ Speitel, alias Keller, wieder untertauchen. Bis heute ist er verschwunden.
Am 2. Oktober 1977, dem Tag von Speitels Festnahme, trat das Kontaktsperrengesetz in Kraft. Das Bundeskriminalamt forderte von den Entführern ein neues Lebenszeichen Schleyers. Doch die RAF schwieg.