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Der Fall Thies F. Versklavt, totgequält, weggeworfen

Sie ließen ihn hungern, schickten ihn auf den Strich - am Ende starb er an schweren Misshandlungen: Ein Paar hielt sich den geistig behinderten Thies F. wie einen Sklaven. Verurteilt wurden die Eheleute wegen versuchten Mordes. Jetzt kämpft die Mutter des Toten vor dem BGH für ein härteres Urteil.
Dieser Beitrag stammt aus dem SPIEGEL-Archiv. Warum ist das wichtig?

Kassel - Es gibt nur zwei Dinge, die Helga F. für ihren toten Sohn Thies noch tun könnte. Einen richtigen Grabstein bestellen, mit persönlicher Inschrift. Und die Menschen, die den 29-Jährigen auf dem Gewissen haben, des Mordes überführen.

Für den Grabstein fehlt der mittellosen Frau das Geld. Umso dringender ist der Wunsch, dass seine Peiniger eine höhere Strafe bekommen, als das Landgericht Kassel sie verhängt hat.

Der Tod des geistig leicht behinderten Thies ist in den Augen der Mutter nicht gesühnt - angesichts von Freiheitsstrafen von vier und acht Jahren wegen gefährlicher Körperverletzung und versuchten Mordes durch Unterlassen. "Ein anderes Urteil wird mir Thies zwar nicht zurückbringen, aber es geht mir um Gerechtigkeit", sagt die 55-Jährige mit dem blonden Kurzhaarschnitt. Der Bundesgerichtshof (BGH) entscheidet nun über ihren Revisionsantrag.

Es fällt Helga F. sichtlich schwer, vom Leben ihres Kindes zu erzählen. Sie spricht im Präsens von ihm, als könne er jeden Moment zur Tür hereinkommen. Thies sei schon immer sensibel gewesen, gutmütig, manchmal hilflos. Einer, den man leicht ausnutzen konnte.

Thies wird im Juli 1973 in Dresden geboren. Seine Eltern lassen sich 1976 scheiden. "Er hat das gut verkraftet", sagt seine Mutter. "Er war von Anfang an ein Mama-Kind." Helga F. zieht mit Thies nach Kassel. Die Bindung zwischen Sohn und Mutter bleibt innig. Bei der Hausgeburt seiner jüngsten Schwester darf Thies mithelfen. Er ist damals 14. Mit 21 zieht er zu Hause aus, schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch. Obwohl er an seiner Familie hängt, dort willkommen ist, sucht er auch anderswo Anschluss - und findet ihn bei falschen Freunden.

Dem einen leiht er Geld von dem bisschen, das er selbst zum Leben hat. Als er seine Miete nicht mehr zahlen kann, schämt er sich. "Es war ihm peinlich", sagt seine Mutter. Über einen Bekannten lernt Thies das Paar Werner und Michaela H. kennen. Sie bieten Thies an, ihn bei sich zu Hause in Grebenstein-Udenhausen im Landkreis Kassel aufzunehmen.

Er nimmt an. Zur Mutter will er nicht. Er ist jetzt 28, möchte auf eigenen Beinen stehen.

Was dann passiert, steht in den Akten des Falls Thies F.; es ist die Dokumentation der letzten, traurigen Monate in seinem Leben.

Er weiß nicht, dass Werner H. zu Hause als gewalttätiger Patriarch herrscht, seine Stieftochter verprügelt und vergewaltigt, seine 38-jährige Ehefrau traktiert.

Thies pariert, wehrt sich nicht, vertraut sich niemandem an

Das Ehepaar H. hat ein kleines Grundstück in der Kleingartenanlage in Kassel-Hegelsberg, ein spießiges Idyll. Hier auf der Parzelle 144 verbringt die Familie einen Großteil ihrer Zeit. Für Thies beginnt dort das Leben eines Sklaven: Er muss in einem Kinderzelt neben der Gartenlaube hausen, auch im Winter ohne Decke. Er bekommt kaum etwas zu essen, muss seinen Urin trinken. Immer wieder schlägt Werner H. wie von Sinnen auf ihn ein, demütigt und malträtiert ihn.

Thies F. ist für die Familie eine Einnahmequelle: An dem Tag, an dem seine Arbeitslosenhilfe und sein Wohngeld überwiesen werden, steht das Ehepaar mit ihm am Geldautomaten und kassiert die 535 Euro. Wenn eine Autoreparatur oder andere Anschaffungen fällig sind, schickt Werner H. Thies auf den Kasseler Homosexuellen-Strich am Weinberg.

Thies pariert offenbar, wehrt sich nicht, vertraut sich keinem an.

Nachbarn schöpfen Verdacht, das kommt später im Prozess heraus. Keiner hilft.

Im Februar 2003 wird Thies nach einem Zusammenbruch ins Krankenhaus eingeliefert. Die Ärzte diagnostizieren multiple Rippenbrüche, Misshandlungen, eine Lungenverletzung ist lebensbedrohlich. Einer Sozialarbeiterin sagt er schließlich, er lebe in einer Familie, die ihn ständig bestrafe. Er kommt in eine psychiatrische Abteilung. Das Ehepaar H. besucht ihn und nimmt ihn wieder mit nach Hause.

Thies magert auffällig ab, sein Körper ist von Hämatomen übersät. Der Kontakt zu seiner Mutter bleibt innig, wird aber seltener. Die dreifache Mutter sorgt sich um ihren Ältesten, sagt sie. "Wir telefonierten oft, manchmal besuchte er mich. Einmal lud er die ganze Familie in sein neues Zuhause ein, aber keiner von uns ahnte, was tatsächlich vor sich ging."

Holzschemel auf Thies' Kopf zertrümmert

Das letzte Mal sieht Helga F. ihren Sohn im April 2003. "Er war sehr schmal, hatte ein Hämatom im Gesicht und entschuldigte sich dauernd und für alles. Ich sorgte mich, fragte ihn, was los ist, warum er so schlecht aussieht", erinnert sie sich. Thies F. spielte die Verletzung herunter. "Er kam mir vor, als habe er eine Gehirnwäsche bekommen."

Heute ist sich Helga F. sicher, dass Thies Angst hatte, sich jemandem anzuvertrauen, dass er Werner H. ausgeliefert war.

Die Mutter schildert, wie sie nicht locker lässt, bei Familie H. vorbeifährt, anruft, SMS schickt - und Werner H. sie mit Ausreden abwimmelt. Die Polizei nimmt sie nicht ernst, wenn sie ihre Gehirnwäsche-Theorie verbreitet: Ihr Sohn sei ja schon Ende 20.

Ihre schlimmsten Befürchtungen bewahrheiten sich am 6. Juli 2003. Es ist der Tag, an dem Werner H. den Akten zufolge einen Holzschemel auf Thies' Kopf zertrümmert. Thies erleidet Knochenbrüche am Kopf und im Gesicht. Er kann sich nicht mehr bewegen. Eineinhalb Tage lassen die H.s den blutenden 29-Jährigen auf der Couch liegen. Am Abend des 7. Juli rufen sie ein befreundetes Paar an, Alexander E. und Jennifer K. Gemeinsam entscheiden sie, Thies auszusetzen. Vor der Fahrt schneiden sie ihm noch ein Ohr ab. Michaela H. soll es nach Aussage von Jennifer K. auf einem Grill verbrannt haben.

In der Nacht zum 8. Juli schleppen sie den Schwerverletzten in den VW-Bus der Familie. "Er hatte Tränen in den Augen und sagte, dass er noch einmal seine Mama sehen wollte", sagt Jennifer K. später vor Gericht.

Während der Fahrt erliegt Thies seinen Verletzungen. Den Leichnam werfen seine Peiniger hinter einen Holzstapel in einem Wald bei Lengröden in der Nähe von Eisenach.

Eine Mitwisserin bricht ihr Schweigen

Zehn Tage später, am 18. Juli, wird Thies' Leichnam entdeckt. Er landet als "unbekannter Toter" in der Gerichtsmedizin von Jena. Mehr als zwei Jahre lang erfährt Helga F. nicht, was mit ihrem Sohn passiert ist. "Thies war sehr religiös, ich klammerte mich immer wieder an alle möglichen Geschichten und hab mir sogar gesagt, er könnte in ein Kloster gegangen sein."

Erst als Jennifer K. die Schuld quält, und sie schließlich zur Polizei geht, kann Thies identifiziert werden. Am 13. Dezember 2005 erfährt Helga F., dass ihr Sohn seit zweieinhalb Jahren tot ist.

Jeden Prozesstag gegen das Ehepaar hat Helga F. verfolgt, hat sich dabei entsetzliche, widerwärtige Details aus den letzten Lebensmonaten ihres Sohnes anhören müssen. Manchmal verließ sie weinend den Saal. "Es gibt oft dunkle Momente, da weiß ich nicht ein noch aus - und dann noch die Gewissheit, dass seine Mörder mit so wenig Jahren davongekommen sind."

Werner H. wurde wegen gefährlicher Körperverletzung und versuchten Mordes durch Unterlassen zu acht Jahren und drei Monaten Haft verurteilt. Seine Frau Michaela zu vier Jahren. Ihr Freund Alexander E. zu zwei Jahren auf Bewährung wegen Beihilfe. Der Vorsitzende Richter begründete das Urteil damit, dass Thies F. nicht durch "aktives Handeln" zu Tode gekommen sei, sondern durch Unterlassen.

Mit ihrem Anwalt Bernd Pfläging, erfahrener Strafverteidiger und Vertreter der Nebenklage, hofft Helga F. nun auf den Bundesgerichtshof. Der zweite Strafsenat des BGH wird morgen entscheiden, ob der Prozess noch einmal aufgerollt wird.

Wenn das geschieht, wird Helga F. wieder jeden Tag in den Gerichtssaal gehen, den Menschen gegenüber sitzen, die ihren Sohn zu Tode quälten. Sollten die Beschuldigten wegen Mordes verurteilt werden, hat sie vielleicht auch endlich das Geld zusammengespart, um ihren Sohn endlich überführen lassen und in ihrer Nähe bestatten zu können.

"Mit einem Grabstein, auf dem sein Name steht."