Es geht nicht um Cartoons, es geht um Journalismus überhaupt: warum die «New York Times» den logischen Schritt macht, wenn sie keine politischen Karikaturen mehr abdruckt

Die «New York Times» beschliesst, keine politischen Cartoons mehr abzudrucken, und wird dafür von allen Seiten kritisiert. Dabei ist der Entscheid konsequent – die Folge eines Klima, in dem politische Korrektheit mehr gilt als demokratische Debatten.

Sarah Pines
Drucken
In der internationalen Ausgabe der «New York Times» fehlt künftig die spitze Feder eines Patrick Chappatte. (Bild: Kostas Tsironis / Bloomberg)

In der internationalen Ausgabe der «New York Times» fehlt künftig die spitze Feder eines Patrick Chappatte. (Bild: Kostas Tsironis / Bloomberg)

Entweder ganz – oder dann gar nicht: Es ist wie der Rücktritt eines Politikers nach massivem Fehlverhalten. Bestimmte Dinge gehen eben nicht, und manchmal muss einfach Schluss sein mit allem. Am Montag hat die «New York Times» verkündet, ab Juli auf den Abdruck politischer Cartoons zu verzichten. Etwa einen Monat zuvor war die internationale Ausgabe der Zeitung mit einem Cartoon, der als antisemitisch empfunden worden war, in massive Kritik geraten.

Der portugiesische Zeichner António Moreira Antunes stellte den erblindeten Donald Trump mit einer Kippa auf dem Kopf dar, der sich vom angeleinten israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu, dargestellt als Blindenhund mit Davidstern um den Hals, durch die Gegend ziehen lässt. Die Reaktionen kamen prompt. Vor dem Hauptsitz der «Times» in New York wurde demonstriert, im Netz geschimpft. Diese Art der Darstellung, so hiess es, sei des «Stürmers» würdig, aber nicht der angeblich besten Zeitung der Welt.

Daraufhin meldete der Herausgeber der «Times», der Cartoon sei in der Tat beleidigend, unverzeihlich. Von dem Syndikat, das die Zeichnung bereitgestellt habe, habe man sich getrennt. Die Veröffentlichung sei von dem am betreffenden Tag verantwortlichen Redaktor im Alleingang beschlossen worden. Dann legte die «Times» nach: Den Plan, keine politischen Cartoons mehr abzudrucken, habe es schon länger gegeben. Auf den 1. Juli habe man auch die hauseigenen Cartoonisten, den in Genf ansässigen Patrick Chappatte und Heng Kim Song aus Singapur, ihrer Funktion enthoben.

Feiger Kotau vor dem Mob?

Man wolle sich zwar weiterhin der visuellen Vermittlung sozialer Themen widmen, aber nicht mehr mit einzelnen Karikaturen, sondern mit komplexeren, nuancierteren Comic-Geschichten. 2018 hatte die Zeitung den Pulitzerpreis gewonnen für den Comic über eine syrische Familie, die unter dem Titel «Welcome to the New World» erschienen war.

Die Entscheidung der «New York Times» ist bisher ausnahmslos auf Kritik gestossen. Weltweit und über das ganze politische Spektrum hinweg wird die Zeitung geschmäht. Der Tenor: Es handle sich um eine unangemessene Einschränkung der Meinungsfreiheit. Da werde eine traditionsreiche Form der demokratischen Auseinandersetzung zerstört – das pointierte, satirische Bild als Ventil der Kritik, des Protests. Den Herausgebern der «NYT» wird vorgeworfen, feige einzuknicken vor dem Internetmob, der sich in bisweilen entfesselten Hasstiraden geäussert hatte.

Allerdings haben politische Cartoons bei der «NYT» nicht wirklich Tradition. Sie wurden spät in das Blatt aufgenommen: erst 1995, nur in der internationalen Ausgabe – und nach langem Zögern. Obwohl die politische Karikatur als Genre in den USA eine lange Geschichte hat. Der erste politische Cartoon erschien 1754 in der «Pennsylvania Gazette». Später verfeinerten Tom Nast – der Vater aller US-Cartoonisten – und Joseph Keppler das Genre. Ihre Zeichnungen bildeten, humoristisch und überspitzt, die Schwachstellen damaliger Verhältnisse ab.

Der Clown legt seine Nase ab

Die Cartoons zeigten meist nicht Personen, sondern Typen. Von der Person abstrahierte Darstellungen wie «Uncle Sam» stellten namenlose Vertreter ethnischer oder ökonomischer Gruppen dar. Oder Tiere, die gesellschaftliche Kräfte symbolisierten. Nasts berühmter «republikanischer Elefant» oder der «demokratische Esel» wurden zum roten Faden amerikanischer Editorials. Der politische Cartoon war gekoppelt an Entstehung und Weiterentwicklung der Republik als multikulturelle und in religiösen Fragen tolerante Gesellschaft, in der Meinungen frei geäussert werden können.

Doch die Zahl der bei Zeitungen in den USA angestellten politischen Cartoonisten sinkt stetig. Und das schon seit rund drei Jahrzehnten. Mittlerweile gibt es nicht mehr Hunderte, sondern nur noch ein paar Dutzend. «Political cartoons were born with democracy. And they are challenged when freedom is», kommentierte Chappatte den Entscheid der «Times» in einem Beitrag auf seiner Homepage. Das trifft zu: Der politische Cartoon ist eine demokratische Tradition, oder sie war eine – wahrscheinlich steht sie nun vor dem Ende. Die «graue Dame», wie die «NYT» scherzhaft genannt wird, hat die Clownnase abgelegt.

Ein Ende also. Aber kein undemokratisches Ende. Der politische Cartoon ist ein Meinungsstück, ein Kommentar. Er spiegelt Ansichten, Sympathien und Antipathien seines Schöpfers genauso wie das gesprochene Wort. Doch wann wird die Grenze überschritten? Wann kippt die Kritik der Macht und der Institutionen oder der Personen, die sie repräsentieren, um in Ressentiment und Beleidigung? Wann wird das befreite Auflachen zum hämisch hochgezogenen Mundwinkel?

Die klassischen Stereotype

Wenn Zeichner das Politische instrumentalisieren, um es zu überwinden. In der Darstellung Netanyahus als Blindenhund bediente sich Moreira Antunes klassischer rassistischer Stereotype, um Israels Politik zu kritisieren. Er rief Bilder wach, die sich mit dem Holocaust tief in unser kulturelles Gedächtnis eingegraben haben. Der Jude, das niederen Instinkten gehorchende und dem Nichtjuden untergeordnete «Tier», das Letzteren zur irren, unmoralischen Tat verführt. Der jüdische Hund beziehungsweise der hündische Jude ist neben der «Judensau» der älteste antisemitische Topos.

Es ist eine Binsenweisheit, die so alt ist wie der Buchdruck: Medien haben einen politischen Standpunkt, und sie können ihn offener oder diskreter vertreten. Sie können politische Mächte unterstützen, ihnen zuarbeiten oder sich ihnen entgegenstellen. Wenn Trump die Medien angreift und als lügnerisch beschimpft, ist auch das nicht neu, und es ist erst recht nicht neu, dass versucht wird, Medien zu manipulieren, um politische Interessen durchzusetzen.

Was allerdings beispiellos ist – und hier sind die USA Vorreiter der westlichen Welt –, ist der Hass, der den linksliberalen Medien und ihren Vertretern von der Rechtsaussen-Seite des politischen Spektrums entgegenschlägt. Er ist höchstens zu vergleichen mit den Attacken auf Reporter, die in den fünfziger und sechziger Jahren von den Befreiungskämpfen der afroamerikanischen Bevölkerung berichteten.

Die Keule der Moral

Die Spaltung der amerikanischen Gesellschaft schlägt sich vor allem in den Medien nieder. Respektable Zeitungen oder Fernsehsender – allen voran die «New York Times» oder der «New Yorker» – halten mit ihren politischen Standpunkten heute, im Gegensatz zu früher, nicht mehr zurück. Sie stehen heute geradeheraus zu den Positionen der Demokraten. Andere wiederum, wie Fox News oder Breitbart, sind ebenso klar republikanisch, pro-Trump und manchmal sogar offen «alt-right».

Eine Zeitung, die sich seit der Wahl Trumps zum US-Präsidenten, seit dem Weinstein-Skandal, der #MeToo-Debatte sowie den Protesten in Charlottesville unter dem Slogan «Jews will not replace us» der politischen Parteinahme verschrieben hat – dem Kampf gegen Rassismus, Male Exploitation und White Supremacy –, kann es im Fall des Netanyahu-Cartoons nicht bei einer Rüge und der Entlassung des zuständigen Zeichners belassen. Sie muss die Grundgedanken der bedingungslosen politischen Korrektheit konsequent weiterführen, auch wenn dabei die uneingeschränkte Meinungsfreiheit geopfert werden muss.

Philip Roths Roman «Der menschliche Makel» (2000) hatte die eifernd bigotte Seite der Political Correctness (PC) in der amerikanischen Gesellschaft beschrieben, deren grösster Spass moralisierende Verbote und Bestrafungen sind: das Amtsenthebungsverfahren gegen Bill Clinton oder gegen einen Professor für klassische Literatur, der eine unbedachte, rassistisch interpretierbare Äusserung macht.

Nie wieder Zweideutigkeiten

Und nun? Hätte die «NYT» nur diesen Cartoon zensiert und vergangene oder noch folgende nicht, hätte sie immer wieder neu abgewägt, selektioniert, visuell segregiert, dann hätte sie ebenfalls geheuchelt. So aber ist das Gesamtverbot kein feiger Rückzug, sondern mutig. Es ist die erste wirklich konsequente, eindeutige mediale Haltung, die sich aus der PC-Debatte ergibt, der sich die «NYT» mehr als andere Medien verschrieben fühlt. Mit dem Entscheid, keine Cartoons mehr abzubilden, zieht die Zeitung die Konsequenz aus genau der Haltung, die ihr nun im Hass derer entgegenschlägt, die die Entscheidung kritisieren.

«I’m afraid this is not just about cartoons, but about journalism and opinion in general», schreibt Chappatte. Er hat recht. Journalisten, die das Wort nicht im Griff haben, und Cartoonisten, die das Bild nicht im Griff haben, haben bei der «NYT» keinen Platz. Radikale politische Korrektheit verlangt wertfreie Worte und Bilder, die Kategorien wie Rasse, Sexualität und Religion aussparen. Sie verträgt keine Zweideutigkeiten, keine Ambivalenzen, keinen Humor, keine ironischen Spitzen. Sie kann mit Bildwitz und pointierter Kritik nicht umgehen. Und sie verlangt, dass identitäre Aggressoren zensiert werden. Das ist der Spiegel, den die «New York Times» ihren Kritikern vorhält.

Sarah Pines ist Autorin und lebt in New York.