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Junge in Sack erstickt Mutmaßliche Sektenführerin wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt

Die grausige Tat liegt mehr als 35 Jahre zurück: 1988 erstickte in Hessen ein Vierjähriger in einem Sack – in Obhut einer mutmaßlichen Sektenführerin. Nun ist im Prozess gegen die Frau das Urteil gefallen.
Angeklagte im Gerichtssaal: Wegen Mordes verurteilt

Angeklagte im Gerichtssaal: Wegen Mordes verurteilt

Foto: Boris Roessler / dpa

Eine mutmaßliche Sektenführerin ist nach dem Mord an einem kleinen Jungen in Hanau vor 35 Jahren zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden. Sie habe aus niedrigen Beweggründen gehandelt, sagte der Vorsitzende Richter bei der Urteilsverkündung im Landgericht Frankfurt am Main am Mittwoch. Der vierjährige Jan war der Sohn von Sektenmitgliedern, er erstickte am 17. August 1988 in einem Sack.

»Es ist so grausam und unvorstellbar«, war einer der ersten Sätze des Richters in seiner Urteilsbegründung (Az.: 3690 Js 226847/22). Die heute 76-Jährige besitze keinerlei Empathiefähigkeit. Er las aus ihren Tagebüchern vor, in denen sie den kleinen Jungen unter anderem »machtsadistisches Schwein«, »gemeiner Sadist« sowie »kalter und gemeiner Showaffe« genannt hatte.

Woher kam der Hass einer erwachsenen Frau auf ein kleines Kind? Jan war zwei Jahre alt, als er in das Haus der Angeklagten ziehen musste, die sich als Sprachrohr Gottes und auf einer Stufe mit Jesus sieht. Auch andere Kinder in dem Haus wurden misshandelt, doch Jan ganz besonders. Denn er unterwarf sich ihr nicht, weigerte sich sogar, mit ihr zu sprechen.

»Versagen der staatlichen Organe«

Die Strafen waren drakonisch, wie der Richter aufzählte. Nicht nur, dass der Junge geschlagen wurde. Wenn er nicht schnell genug aß, wurde ihm das Essen in den Mund gestopft. Stundenlang musste er auf dem Töpfchen sitzen. Nässte er sich ein, wurde er kalt abgeduscht. Viele Nächte verbrachte er allein auf einer Matratze in einem kleinen Bad. Bewegen konnte er sich nicht, er war bis zum Hals in einen Baumwollsack gesteckt worden. Zum Mittagsschlaf wurde der Sack sogar über seinem Kopf verschlossen. In den Wochen vor seinem Tod hatte ein Sohn der Angeklagten ihn zweimal aus dem Sack gerettet. »Er hatte Schnappatmung, sein Gesicht war aufgedunsen«, sagte der Richter. Der Sohn erzählte seiner Mutter davon.

Auch am Tag seines Todes wurde Jan in den Sack gesteckt. Er schrie, die heute 76-Jährige ging mehrfach zu ihm ins Bad. »Sie machte das Fenster zu und sagte, es seien alle weg, niemand würde ihn hören. Er könne sein ›Schaugebrüll‹ lassen«, rekonstruierte der Richter das Geschehen. Der Junge starb kurz darauf an den Folgen einer Kohlendioxidvergiftung. Als Jans Mutter nach Hause kam, wurde sie von der Mörderin empfangen. Diese sagte ihm, es könne sein, dass »der Alte« – gemeint war Gott – Jan vielleicht früher zu sich hole als erwartet. Ihr Mann rannte daraufhin ins Bad und versuchte vergeblich, das Kind wiederzubeleben.

Die Todesumstände hätten wohl bereits damals aufgeklärt werden können, doch es kam zu einem »Versagen der staatlichen Organe«, wie der Richter sagte. Die Polizei ermittelte schlampig, die Staatsanwaltschaft ordnete keine Obduktion an. Bereits einen Tag nach Jans Tod wurde das Ermittlungsverfahren eingestellt. Dass der Junge in einem Sack gestorben war, hatten die Täterin und ihre Anhänger wohlweislich niemandem gesagt.

Erst im Jahr 2015 wurde der Fall wieder aufgerollt, nachdem Sektenaussteiger über die Medien Vorwürfe erhoben hatten. Die sterblichen Überreste von Jan sollten aus dem Grab geholt und untersucht werden, doch sie waren nicht mehr da. Wo sie geblieben sind, ist unbekannt. »Es schüttelt mich«, sagte der Richter dazu.

Als Motiv für die Tat nannte er die Angst der Frau vor der Einschulung des Jungen, dies hatte sie mehrfach in ihren Tagebüchern notiert. Denn in diesem Fall wäre sein schlechter körperlicher wie seelischer Zustand aufgefallen, und es wären Fragen gestellt worden. Der Richter schloss seine fast zweistündige Urteilsbegründung mit einem Tagebucheintrag der Frau neun Monate nach der Tat. Hierbei handelte es sich um eine angebliche Nachricht von Gott: »Wünschst du einem Menschen den Tod, wird das dein Alterchen arrangieren.«

Die Angeklagte hatte in dem über sechs Monate dauernden Verfahren eine Schuld bestritten und sich als Opfer einer Rufmordkampagne dargestellt. Ihr Verteidiger forderte einen Freispruch, die Staatsanwaltschaft eine Verurteilung wegen Mordes zu einer lebenslangen Haft. Bereits vor drei Jahren hatte das Landgericht in Hanau sie hierzu verurteilt , nach ihrer Revision verwies der Bundesgerichtshof (BGH) den Fall zum erneuten Prozess an das Frankfurter Landgericht.

Laut BGH hatte sich das Landgericht Hanau nicht eingehend damit befasst, ob es sich bei dem Fall um eine Tötung durch aktives Tun oder durch Unterlassen gehandelt hatte. Zudem musste die Schuldfähigkeit der Frau erneut überprüft werden.

Auch die Mutter von Jan war wegen Mordes angeklagt worden, das Hanauer Landgericht sprach sie im Oktober 2022 aus Mangel an Beweisen frei. Rechtskräftig ist dieses Urteil laut Auskunft des Frankfurter Richters noch nicht.

wit/dpa/AFP