Pandemie ausser Kontrolle
Neue Coronawelle in Südamerika: Argentinien im totalen Lockdown – Kubaner werden zu Versuchskaninchen

Kubanische Forscher haben ein Coronavakzin entwickelt, von dem sie selbst nicht wissen, ob es überhaupt gegen das Virus schützt. Gespritzt wird es trotzdem. Der Fall zeigt, wie ausweglos die Pandemie-Situation in Lateinamerika derzeit ist.

Klaus Ehringfeld, Mexiko-Stadt
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«74'000 Tote»: In Buenos Aires gehen Menschen gegen die argentinische Regierung auf die Strasse. Das Land ist zum neuen Coronahotspot in Lateinamerika geworden.

«74'000 Tote»: In Buenos Aires gehen Menschen gegen die argentinische Regierung auf die Strasse. Das Land ist zum neuen Coronahotspot in Lateinamerika geworden.

Foto: Marcos Brindicci / AP

Die Länder Lateinamerikas bekommen Corona nicht in den Griff. Mittlerweile zählt die Region knapp 30 Millionen Infizierte, gut die Hälfte davon alleine in Brasilien. Tendenz stark steigend. Neben Indien ist Lateinamerika der zweite Brennpunkt der Pandemie. Mitte Mai sprengte die Region die Grenze der Eine-Million-Coronatoten. Das sind fast 30 Prozent der globalen Opfer. Dabei repräsentiert die Region nur 8,4 Prozent der Weltbevölkerung.

In Lateinamerika selbst konzentrieren sich die Todesopfer in wenigen Staaten. Fast 90 Prozent sind in fünf Ländern zu beklagen: Brasilien, Mexiko, Kolumbien, Argentinien und Peru. Lateinamerika scheint den Kampf gegen die Pandemie zu verlieren. Ein Überblick:

Argentinien

Das viertbevölkerungsreichste Land Lateinamerikas ist der aktuelle Hotspot in der Region. Im Mai stecken sich regelmässig zwischen 25000 und 35000 Menschen neu mit dem Covid-19-Erreger an. Experten machen dafür auch die brasilianische Virusvariante P1 verantwortlich. Sie ist ansteckender und hat schwerere Verläufe. Argentiniens Präsident Alberto Fernández sagt: «Wir erleben derzeit den schlimmsten Moment der Pandemie». Tatsächlich platzieren 3,6 Millionen Infizierte und 74'000 Tote das südamerikanische Land unter den 15 Staaten weltweit, die am härtesten von der Viruskrankheit getroffen sind.

Der Grossraum der Hauptstadt Buenos Aires mit seinen 15 Millionen Einwohnern ist faktisch abgeriegelt, es gilt eine Ausgangssperre ab 18 Uhr. Mitte Juni soll in Argentinien die Copa América ausgespielt werden, das südamerikanische Pendant zur Fussball-Europameisterschaft. Nach der Absage Kolumbiens als Co-Ausrichter wegen der sozialen Proteste soll Argentinien noch 15 Spiele mehr ausrichten und fünf Nationalteams mehr beherbergen. Das sei Wahnsinn, wettert der Bürgermeister von Buenos Aires, Horacio Rodríguez Larreta. Er fordert, die Copa komplett abzusagen.

Brasilien

Das Land mit den zweitmeisten Todesopfern weltweit nach den USA. Bald 460000 Tote bei über 16 Millionen Infizierten sind apokalyptisch. Dabei ist der exponentielle Anstieg der Pandemie in dem bevölkerungsreichsten Land der Region gestoppt. Nachdem im April bis zu 4000 Tote täglich zu beklagen waren, sind es derzeit rund halb so viele. Zudem kommt die Impfkampagne langsam, aber sicher voran. Zehn Prozent der Bevölkerung haben bereits beide Impfdosen erhalten.

Der radikal rechte Präsident Jair Bolsonaro hat seine Boykott-Kampagne gegen die Immunisierungen aufgegeben. Wie viele Menschen hätten überleben können, wenn Bolsonaro von Anfang an einen anderen Kurs gefahren hätte, ist Gegenstand von Ermittlungen in einem Untersuchungsausschuss. Die Opposition wirft dem Staatschef Völkermord vor.

Mexiko

Im Norden Lateinamerikas tut Mexiko so, als sei die Pandemie bereits vorbei und kehrt zu annähernder Normalität zurück. Es ist das einzige grosse Land auf dem Globus, das keinerlei Reisebeschränkungen verhängt hat, wo man weder PCR-Tests machen noch Quarantäne einhalten muss. Bald sollen Kinos wieder öffnen. Dabei beklagt Mexiko mehr als 222000 Covid-19-Tote und rund 2500 Neuinfektionen täglich. Experten halten das zweitgrösste Land Lateinamerikas für eines der Länder mit der grössten Dunkelziffer, weil sehr wenig getestet wird.

Kuba

Einen Lichtblick gibt es immerhin – ausgerechnet in Kuba. Auf der Insel haben sich nach offiziellen Angaben gerade mal 136000 Menschen infiziert, 917 sind gestorben. Vertreter der Zivilgesellschaft halten diese Zahlen allerdings für zu niedrig. Zudem steht die Insel kurz vor der Produktionsreife zweier selbst entwickelter Vakzine. «Soberana 02» und «Abdala» befänden sich in der letzten Testphase.

Dabei benutzt Kuba seine eigene Bevölkerung als Versuchskaninchen. Bis Ende Mai wurden eine Million Kubaner mit einem der Impfstoffe versorgt. Wobei die Forscher anerkennen, dass sie nicht sicher sind, ob und wie die Vakzine gegen das Coronavirus helfen. Dennoch plant Kuba bereits den Export der Impfstoffe.