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EM 2008 Fussball-EM

Der deutsche Patriotismus schwillt wieder an

Redakteur
Deutschland zeigt wieder Flagge Deutschland zeigt wieder Flagge
Deutschland zeigt wieder Flagge
Quelle: AP
"Wir brauchen diesen Patriotismus, der uns über den Mangel an Qualität hinweg trägt", sagt Nationalverteidiger Christoph Metzelder mit Blick auf die Fußball-EM. Diese Verquickung aus Spiel, Beschwörungsformeln und Hoffnung war bei der WM Jürgen Klinsmanns Rezept und übertrug sich aufs ganze Land.

Woran man verlässlich merkt, dass ein großes Fußball-Turnier im Sommer auf uns zurollt? Ganz einfach, die Werbung für Fernseher nimmt inflationär zu. Das funktioniert sonst nur zu Weihnachten.

Vor der Europameisterschaft werden jetzt wieder die Vorzüge von Flachbildschirmen herausgetrötet, es scheint tatsächlich so zu sein, dass Leute sich wegen großen Turnieren Neuanschaffungen leisten. Als kämen aus anderen Geräten auch andere Bilder heraus, womöglich sogar andere Ergebnisse.

Schärfer. Schneller. Brillanter. Siegreicher. So träumt der Fußball-Fan, seine Mannschaft schon allein dadurch zu unterstützen, dass er in die Infrastruktur investiert, was im Lichte der Volkswirtschaft und der politischen Theorie betrachtet ja auch richtig ist. Der Kapitän der deutschen Elf scheint das ähnlich zu sehen. Michael Ballack tritt uns im Werbespot in schwarz-weiß auf dem Balkon entgegen, läuft dann durch eine surreale Stadtlandschaft. Wie im Traum folgt er einem weißen Pferd und einer roten Spur in eine Bar, wo die Kellner in Zeitlupe ins Hinterzimmer verweisen. Dort angekommen, erblickt Ballack, der sonst so für Realismus und Nüchternheit und Introvertiertheit steht, einen Fernsehschirm, auf dem flugs er selber zu sehen ist. Na bitte. Wie im Film „Matrix“: „Willkommen in der Wüste des Realen“, heißt es da. Jetzt soll der Zuschauer nur noch vor dem Anpfiff in den Elektronikmarkt gehen. Dort stehen die glückseligmachenden TV-Angebote dann – wirklich wahr – neben schwarz-rot-gold lackierten Kühlschränken.

Seltsamer Zusammenhang: Der durch Fußball beflügelte Patriotismus führt zum veränderten Konsumverhalten. Im Hochgefühl der Erwartung ist eine neue Ausstattung schon Teil der nationalen Vorbereitung. Eine unrepräsentative Umfrage in der Familie hat generationenübergreifend folgende Sätze zu Tage gefördert: „Ich habe Fußball-Servietten und eine rasengrüne Tischdecke gekauft, die EM kann kommen“ (Gattin, 46). „Wir wollen deutsche Fahnen, sonst kann das Turnier nicht stattfinden“ (Söhne, 9 und 14). Man muss hier gar nicht weiter von Knabbergebäck und Kaltgetränken reden.

Jürgen Klinsmanns Rezept

Wahrscheinlich ist diese Debattenkultur und patriotische Wesensfindung in der Vorbereitungsphase sehr verbreitet, die EM 2008 folgt schließlich der WM 2006 nach, und da wurden Maßstäbe gesetzt. Jetzt also Sommermärchen reloaded. Es war Innenverteidiger Christoph Metzelder, der recht unerwartet nach ein paar Turniertagen im Angesicht der Begeisterung erklärte: „Wir brauchen diesen Patriotismus, der uns über den Mangel an Qualität hinweg trägt.“ Diese Verquickung aus dem tatsächlichen Spiel, Beschwörungsformeln und Hoffnung war seinerzeit das Rezept von Jürgen Klinsmann und übertrug sich sofort aufs ganze Land.

Bis heute. Das Muster ist das gleiche. Ob das echter Patriotismus war oder ist, wollen die hartherzigen Auguren und Soziologen wissen? Niemand vermag es zu sagen, es ist aber auch einerlei. Denn fest steht, dass der Glaube gewachsen ist – und da soll niemand mit Empirie kommen. Die WM zeigte Deutschland als ein frohes Land, das mit sich selbst im Reinen ist. Wir waren in den vier zauberhaften Wochen glücklich und überrascht über uns selbst. Wir lernten, dass wir anders sein können als das Image uns immer vorhielt. Sogar die Briten staunten. Und begriffen. Der Sommer 2006 förderte eine Gewissheit zu Tage, die lange schon im Kleinen gereift war. Die Deutschen wollen ihr Land lieben ohne gleich in nationalistischen Taumel zu fallen, und weil das risikolos am besten mit Stellvertretern auf dem Rasen geht, wehten die Fahnen bei jeder Gelegenheit. Die allerorten proppenvollen Fanmeilen erzählten von der neuen Verbrüderung im Freien, die fern politischer Veranstaltungen seltsamer Heimatvereine funktionierte. Die Menschen strömten den Großbildschirmen zu wie Michael Ballack jetzt wieder im Werbespot. Hurra, wir sind fröhlich in der Masse.

Patriotismus ist nichts Böses

Für das nationale Selbstwertgefühl war das ein fundamentaler Einschnitt. Patriotismus, das lehrte die WM, ist nichts Böses. Man kann es mit kleinen Mitteln haben und verbreiten. Patriotismus geht mit Vergnügungswillen einher. Der Nachbar fühlt das Gleiche. Patriotismus ist wie eine genehmigte Großdemonstration für gute Laune. Und ab und an fällt ein Tor.

Der Trainer und Kommentator Jürgen Klopp hat gesagt: „Begeisterung ist das, wo du nicht mehr weißt: Zuckst du jetzt wegen einer Fehlfunktion deines Körpers oder weil auf dem Rasen die Post abgeht?“ Man darf den sprachlichen Lapsus ruhigen Gewissens belobigen. Deutschland war und ist das das Land, wo du nicht mehr weißt. Es wehen die Fahnen und singen die Menschen. Recht so.

Fußball liefert einen willkommenen Anlass

War das nur ein Strohfeuer, nur eine vorübergehende Erscheinung? Natürlich nicht. Seit Jahren wächst ein neues bürgerliches Selbstbewusstsein heran und damit auch ein nationales Selbstwertgefühl, das man in allerlei Formen beobachten kann. Das Geschichtsinteresse ist durch alle Generationen rapide angestiegen, es gibt eine bisher nicht gekannte Neugier auf Traditionen, alte Werte und regionale Verbundenheit werden wiederentdeckt. Nur läuft eben niemand in patriotischer Überzeugung tagtäglich in Festkleidung durch die Straße.

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Der Fußball liefert einen willkommenen Anlass. Als massenbindendes Element beflügelt er wie selbstverständlich Gefühl der Einheit. Die Nationalmannschaft hat mit Joachim Löw als Bundestrainer eine neue Vorbildfunktion: Das Team lehrt mehr Effizienz und spielerische Schönheit als die Vereine. Früher erstrahlte die Nationalelf aus den Vereinen heraus. Jetzt strahlt die Nationalelf in die Regionen zurück, als Motor der Veränderung und Ideengeber für die Zukunft.

Weltmeisterliche Fußballfrauen

Teil des nationalen Wandels ist die zunehmende Attraktivität für Frauen. Viel ist darüber berichtet worden. Die neuen Stadien, die Fan-Meilen, die weltmeisterlichen Fußballfrauen. Kürzlich hat der DFB stolze Zahlen verkündet: mehr als eine Million der insgesamt 6,5 Millionen Mitglieder sind weiblich. Die Zuwachsraten stagnieren bei Männern, steigen aber bei Frauen und Mädchen stetig an. Auch Günter Netzer hat eben darauf hingewiesen, dass er für seine Art der Analyse weiblichen Zuspruch bekommt und gefragt: „Gibt es ein größeres Kompliment, als dass mich die Frauen verstehen?“

Im öffentlichen Bild hat der Fußball sein schmutziges Gesicht gewaschen, die schreiende, zuweilen betrunkene Männermasse ist in den Hintergrund gerückt. Kein Zufall, dass in den letzten Wochen so viele Fußballer öffentlich geweint haben. Die Trainer Ottmar Hitzfeld und Jürgen Klopp bei ihrer Verabschiedung, Präsident Wolfgang Overath beim Aufstieg des 1. FC Köln, der Spieler Ivan Klasnic bei Werder Bremen. Besonders Michael Ballacks Tränen im strömenden Regen beim Endspiel der Champions League waren enorm beeindruckend. Im Augenblick der Niederlage offenbarte der beste deutsche Spieler Leidensfähigkeit. Der Fußball ist bei aller Härte und Strapaze auf dem Rasen weicher geworden.

Ballacks Schnurrbart

Altgedienten Fans mögen derartige Verschiebungen schlecht schmecken. Doch sollen auch sie neumodische Bilder bekommen. Manager Oliver Bierhoff und Joachim Löw haben mit einem Sponsor eine Kampagne gestartet, die „Operation Gipfelsturm“. In einem Werbe-Stummfilm kraxeln Nationalspieler und der Trainer den Berg hinauf. Die Männer tragen grauen Wams und Filzhüte, ihre Seile sind aus Hanf. Jogi Löw deutet mit dem Stock in die Ferne. Ballacks Schnurrbart wurde wohl von einem kaisertreuen Barbier gestutzt. Mittelfeldspieler Bernd Schneider – nun leider verletzt und nicht mit von der Partie – stürzt beinahe ab!

Es riefenstahlt ein bisschen vor lauter Wind und Eis und Drama. Der Film ist in mehrerer Hinsicht interessant. Er führt weg vom hochgezüchteten Athleten, der ständig seine Laktatwerte überprüft und wie ein globalisierter Nomade um den Erdball zieht. Weg auch vom modernen Spieler, der mehr mit der Figur eines Videospiels gemein hat als mit einem Menschen. Kein Gedanke an ausgeklügelte Strategie und Tempo-Fußball ist bei dieser Seilschaft der Bergfexe zu sehen, nur Kraft, Wille und Löws berühmte „högschde Disziplin“.

Patriotismus und Kultur, Alpinismus und Fußball

Zugleich führt der Alpinisten-Mythos tief ins Gestrüpp aus traditioneller Heimatverbundenheit, Naturmystik und nationalem Siegeswillen, also zu Dingen, die vor kurzem noch allerorten verachtet wurden. Das Bergsteigen war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in allen Alpenländern Teil des patriotischen Erfolgsstrebens. Gipfel belagern, Berge erobern, Terrain besetzen, Fahnen aufstellen.

Mit der Nominierung des Kaders neulich auf der Zugspitze erneuerte die Nationalelf dieses Bild; über die heikle politisch-historische Konnotation setzt sich der Fußball einfach hinweg. Jenseits der Event-Inszenierung schwingt zuerst eine tief greifende romantische Sehnsucht mit. Man kann von der Gipfelsturm-Werbung eine Linie ziehen etwa zu Caspar David Friedrichs Bildern vom Watzmann und dem „Wanderer über dem Nebelmeer“. Die deutsche Romantik – als sinnstiftende Kraft gerade im letzten Jahr wiederentdeckt – gebar im frühem 19. Jahrhundert die Farbkombination schwarz-rot-gold. So fügen sich die Bilder zusammen, das Alte und das Neue, Spiel und Ernst, Patriotismus und Kultur, Alpinismus und Fußball. Und diese Mischung lässt weder die Kanzlerin noch die letzten Punker unberührt.

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Wenige Tage nur noch bis zum ersten Spiel gegen Polen. Das Land ist freudig bereit. Das Land jubelt gerne. Das Land will mehr. Hoffnung? Aber ja. Überheblichkeit? Eher nein. Mittelfeldspieler Torsten Frings, der im verloren gegangenen Halbfinale gegen Italien so einsam und traurig auf der Bank saß, hat kürzlich den blanken Boden der Tatsachen in Erinnerung gebracht. Nach Ehre und Ehrfurcht gefragt, gestand er: „Klar, es ist ein großes Turnier, und diese Gelegenheit bekommt nicht jeder, aber in erster Linie wird nur Fußball gespielt.“

Deshalb bangen wir vor dem Fernseher. Fußball, hurra!

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