Wochenlang beseelten sich Millionen Deutsche am schwarz-rot-goldenen Frohsinn. Und wieder war zu lesen, diese Begeisterung beweise, dass das Land bunt, freundlich und tolerant sei. Weil wir endlich Patrioten sein dürfen, hätten wir unseren chronischen Selbsthass überwunden. Meist gipfeln diese Unverkrampftheitsatteste in der schlecht argumentierten Behauptung, dass sich unter dieser Flagge alle wiederfinden könnten: Westdeutsche, Ostdeutsche, Migranten, Junge, Alte, Arme, Reiche. Man fühlt sich an ein Familienfest erinnert, das ganz okay verläuft – bis die Tischreden beginnen und die Lobpreisungen auf den Zusammenhalt der Familie.

Das Wir-gehören-wieder-zusammen-Gerede verstellt uns die Sicht darauf, dass das Gegenteil davon der Fall ist, was in der Presse steht: Uns Deutsche verbindet in Wahrheit immer weniger.

Meinungsforscher und Wissenschaftler sagen, dass die Deutschen seltener wählen, weil sie den Politikern nichts zutrauen. Zunehmend stellen sie auch die Demokratie oder die rechtliche Gleichheit aller infrage. Leiden müssen Schwächere: Schwule, Migranten, Hartz-IV-Empfänger.

Bildungs- und Besitzbürger schotten sich ab, wie ganz früher. Man weiß dort wieder, wie man Austern isst und seine Kinder vom Pöbel fernhält. Studien belegen, dass Ehen außerhalb des eigenen Bildungsmilieus immer seltener werden. In Hamburg wird die Gemeinschaftsschule womöglich am gut organisierten Widerstand der Wohlhabenden scheitern. Diese Prozesse sind beängstigend. Und niemand – auch nicht ein Apologet des Schland – kann schlüssig erklären, warum diese Tendenzen nicht noch stärker werden sollten. Jetzt, da Zeit, Geld und Raum wieder knapper werden.

Es stimmt, dass das massenhafte Flaggeschwenken zumindest einen potenziell positiven Umgang mit dem Land zeigt. Viele Deutsche wären wohl bereit, sich als Teil eines deutschen Gemeinwesens zu sehen. Dazu gehört aber ein Inhalt; etwa das Versprechen, dass das Gemeinwesen zurückgibt, was man einzahlt. Mit Fußball ist es nicht getan. Fußball mag ein großartiger Sport sein und die Weltmeisterschaft ein weltumspannendes Ereignis, sinnstiftend ist beides nicht.