Im Januar 1983 hat Hermann Lübbe zum 50. Jahrestag der Machtübernahme der Nazis einen schon damals viel beachteten Vortrag gehalten. Aber erst von der Warte des 8. Mai 1985 kann man die Signalwirkung seiner Thesen so recht würdigen. Die trotz des wachsenden zeitlichen Abstandes zunehmende Intensität der Auseinandersetzung mit der NS-Herrschaft erklärt Lübbe mit einem Bruch in der Entwicklung der Bundesrepublik. Zunächst habe während der Wiederaufbauperiode ein großartiger Konsolidierungs- und Entlastungsprozeß stattgefunden – dank der Diskretion und Versöhnungsbereitschaft, mit der großmütige Nazigegner ihren belasteten Landsleuten begegnet sind. Erst in den späten 60er Jahren, meint Lübbe, sind die kaum vernarbten Wunden von den rebellierenden Jungen und einigen intransigenten Linken wieder aufgerissen worden. Sie haben die nationalsozialistische Vergangenheit ins politische Gegenwartsbewußtsein gehoben. Sie haben die schonende Diskretion beendet und eine Kritik begonnen, die seitdem die Stabilität unserer Republik gefährdet. Bundeskanzler Kohl mag diese oder eine ähnliche Story im Sinne haben, wenn er immer wieder beteuert, er habe aus der Geschichte gelernt. Denn er war es, der den 8. Mai vorausschauend als das Datum ins Auge faßte, an dem die überfällige Rückkehr zur Normalität der 50er Jahre symbolträchtig inszeniert werden könnte. Auch diese Erblast sollte seine Regierung nach bewährtem neokonservativem Rezept ablösen – "Entsorgung der Vergangenheit" hatte man seinerzeit Lübbes Therapie genannt.