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EUROPA Eine Katze in der Hölle

Die Welt will nicht an Lafontaines Wesen genesen - als globaler Ökonom holt sich der sozialdemokratische Finanzminister Abfuhren von London bis Washington. Selbst die deutsch-französische Entente in der Europäischen Union steht nicht felsenfest.
Von Winfried Didzoleit, Hans Hoyng und Christian Reiermann
aus DER SPIEGEL 50/1998

Der Staatsbesuch des Bundespräsidenten sollte ganz im Zeichen einer glanzvollen Zukunft deutsch-britischer Freundschaft stehen. Vergangenheitsbewältigung sei passé, hatten die Bonner Drehbuchschreiber der Visite forsch beschlossen, nun gehe es um eine möglichst gute Harmonie zwischen künftigen Generationen. Hatten sich nicht Tony Blair und Gerhard Schröder schon wie politische Zwillingsbrüder gebärdet?

Roman Herzog traf auf eigenes Verlangen junge Forscher und junge Journalisten, diskutierte ausgiebig mit Schülern und brachte zur Erbauung seiner Gastgeber gleich einen ganzen Knabenchor aus dem fränkischen Windsbach mit. All das, gab er unumwunden zu, sei für ihn eine »Frage der Ökonomie": Wenn er bei einem 60jährigen nationale Vorurteile ausräumen könne, sei das zwar ganz schön, »aber wenn ich es bei einem 20jährigen schaffe, habe ich 60 Jahre was davon«.

Da werden der Präsident und seine Nachfolger wohl noch häufig wiederkommen müssen. Denn mitten in den Besuch platzte eine bittere politische Diskussion, die dunkle Gewitterwolken über der Europäischen Union heraufziehen ließ.

Herzog mußte erleben, daß sich die Briten auf einen anderen Deutschen konzentrierten - auf den »gefährlichsten Mann Europas«, der einen französischen Namen trägt und deshalb in pöbelnder Vertraulichkeit mit »Oskar« angeredet werden mußte, um den Furor teutonicus zu beschwören, den er angeblich verkörpert: Finanzminister Lafontaine.

Als wäre er eine linke Wiederauferstehung von Wilhelm II. und dem Roten Baron in einem, wurde »Red Oskar« als heimtückischer Invasionsplaner porträtiert, der einen Angriff auf das Allerheiligste der britischen Nation beabsichtige: den unantastbaren Kern staatlicher Souveränität und die Hoheit des Londoner Parlaments, über die Steuern und mithin über den Haushalt in voller Eigenständigkeit zu entscheiden.

Die Debatte glitt hurtig in so hysterische Töne ab, als stimme wirklich, was der Labour-freundliche »Mirror« am Dienstag auf seiner Titelseite noch als Satire gedruckt hatte: »Die Wehrmacht steht vor den Toren Londons, und das Parlament holt die britische Flagge ein.«

Unisono griff Britanniens Presse, die nie um krude Übertreibungen verlegenen Boulevardblätter ebenso wie die seriösen Londoner Tageszeitungen, zu martialischem Vokabular. Die »Daily Mail« bedauerte die eigene Regierung, die nun der »deutschen Gefahr« trotzen müsse, wie es zuvor Lloyd George gegen Kaiser Wilhelm II., Winston Churchill gegen Hitler und Margaret Thatcher gegen Kohl getan hatten: »Die Gesichter hinter den anglodeutschen Beziehungen ändern sich, das Verhältnis bleibt gleich, nämlich schlecht.«

Der liberale »Guardian« sagte den »Entscheidungskampf« um Europa voraus, und sogar die »Financial Times«, eigentlich der Inbegriff eines emotionslosen Wirtschaftsblatts, wähnte »Deutschland auf Kollisionskurs mit dem Vereinigten Königreich«.

Die allgemeine Mobilmachung hatte Lafontaine mit einer eher beiläufigen Bemerkung am Rande des Finanzministerrats am Dienstag in Brüssel ausgelöst: Er forderte, die bislang geltende Einstimmigkeitsregel in der Finanz- und Steuerpolitik der EU aufzuheben. Die Bundesregierung habe zwar noch keine offizielle Meinung dazu, sagte Lafontaine, persönlich sei er aber der Überzeugung, daß wir »im sensitiven Bereich der Steuern zu Abstimmungen mit qualifizierter Mehrheit wechseln müssen«.

Ohne eine Harmonisierung der Steuergesetzgebung in Europa, so fürchtet der Finanzminister, sei der Erfolg des Euro gefährdet. Doch die angestrebte Angleichung ist nur mit einer Mehrheitsentscheidung zu erreichen. Deshalb: »Das Einstimmigkeitsprinzip muß gebrochen werden.«

Die Vorstellung, ihre Steuersätze für Unternehmensgewinne oder die Höhe der Mehrwertsteuer könnten künftig in Brüssel festgelegt werden - ferngesteuert womöglich aus Berlin -, gilt in Britannien als Horrorvision.

Rupert Murdochs Millionenblatt »The Sun«, in dem griffige Eindeutigkeit beständig über die Sachlage triumphiert, gab dem deutschen Eindringling in nationale Angelegenheiten sogleich einen eindeutigen Rat - er bestand aus den beiden rot hervorgehobenen Buchstaben F und O, den Initialen der umgangssprachlichen Aufforderung »Fuck off«, was mit »Verpiß dich« einigermaßen adäquat übersetzt ist.

Kanzler Schröder hatte nach seinem Wahlsieg noch die Briten umschmeichelt und angekündigt, die deutsch-französische Partnerschaft zu einem Dreieck Berlin-Paris-London auszubauen. Daß nun ausgerechnet Lafontaines Fanfarenstoß die von New Labour gewünschte Wiederannäherung an Europa gefährdet, kommt Premier Tony Blair höchst ungelegen. Denn die britische Furcht vor der Europäischen Union, verschärft durch das traditionelle Mißtrauen gegenüber allem Deutschen, vor allem deren vermuteten Hegemoniegelüsten, kann jederzeit aufs neue erwachen.

Unter der (deutschen) Überschrift »Achtung Oskar!« brachte der regierungsfreundliche »Mirror« auf den Punkt, was viele New-Labour-Anhänger dachten: »Wir lieben Europa, möglicherweise lieben wir auch den Euro, und wir fangen sogar an, die Deutschen zu mögen. Doch Deine große Klappe ist einfach unerträglich.«

Oskar Lafontaine hat oft seinen eigenen Kanzler mit unkonventionellen Ideen geärgert und die deutschen Wähler verschreckt - und morgen die ganze Welt?

Das scheinen jedenfalls nicht nur Blair und sein Finanzminister Gordon Brown gedacht zu haben. Der kündigte sofort an, daß er jeden Versuch, den Briten das Vetorecht im Ministerrat der EU zu nehmen, selbstverständlich mit einem Veto beantworten würde. In London lästerte ein Regierungsmitglied über Lafontaine: »Jedesmal, wenn er seinen Mund aufmacht, gibt es eine Katastrophe.« Angeblich will Blair seinen Kollegen Schröder bitten, den SPD-Chef zu zügeln, offenbar in Verkennung der Machtbalance in der deutschen Sozialdemokratie. Regierungssprecher Alastair Campbell, als ehemaliger Politikchef des »Mirror« ein Freund klarer Worte, verkündete, Lafontaines Vorschläge hätten die gleichen Überlebenschancen »wie eine Katze in der Hölle«.

Die Londoner Regierung fürchtet, das unbedachte Vorpreschen des deutschen Finanzministers sei nur ein Ausblick darauf, was Großbritannien zu erwarten habe, wenn Deutschland am 1. Januar 1999 die Präsidentschaft im Europäischen Rat übernimmt. Schon hat beispielsweise Außenminister Joschka Fischer eine »europäische Verfassung« gefordert, den Ruf nach größerer Steuerharmonisierung hat Kanzler Schröder in einem Interview mit der »Financial Times« unterstrichen. Selbst Herzog hat während seines Staatsbesuchs stärkere politische Integration gefordert und sich, wie Lafontaine, dazu bekannt, den Gültigkeitsbereich von Mehrheitsentscheidungen auszuweiten.

Sollten die Deutschen aber den EU-Ratsvorsitz wirklich dazu nutzen, die Geschäftsgrundlagen radikal zu verändern, könnte das dazu führen, daß Brown seine Veto-Drohung wahrmachen müßte. Großbritannien würde dann wieder in jene Isolation zurückfallen, deren Ende Blair nach seinem Amtsantritt verkündet hatte.

Bei seinen Landsleuten ist Blair im Wort, vor einer Übernahme des Euro eine Volksabstimmung durchzuführen. Das Versprechen hindert ihn wahrzumachen, was er und sein Finanzminister sowohl den EU-Partnern wie den Londoner Finanzmärkten signalisiert haben: Es gehe längst nicht mehr um die Frage, ob Großbritannien der Währungsunion beitrete, sondern nur noch wann.

Doch ob Blair das Referendum gewinnen kann, ist immer noch unsicher. Vielen Erben des britischen Weltreichs wäre es auch heute noch lieber, wenn die EU sich einfach damit begnügte, eine riesige Freihandelszone zu bilden, statt das Endziel einer politischen Union zu verfolgen.

Schon Premier Harold Macmillan, der Großbritannien Anfang der sechziger Jahre in die Gemeinschaft führen wollte, hatte große Schwierigkeiten, seine Landsleute zu überzeugen, daß ein Beitritt nicht notwendigerweise zum Untergang ihres geschrumpften Reiches führen würde. Als ihn eine Tanzpartnerin fragte, ob er nicht die britische Souveränität aufs Spiel setze, drückte er die Dame enger an sich und erklärte visionär: »My dear, wir werden die anderen destruktiv umarmen.«

Die Flut von Regulierungen, die sich aus Brüssel ergoß, hat die Briten nur noch empfindlicher gemacht. Daß sie Lafontaine nunmehr zum Buhmann erkoren, als stünde eine neue Schlacht an der Somme bevor, könnte Ende dieser Woche verhängnisvolle Folgen für den europäischen Gipfel in Wien haben. Die Renaissance des »Unwortes« vom Vorrang der nationalen Interessen in Großbritannien werde auch auf dem Kontinent den Ausbruch »giftiger Gase« zur Folge haben, fürchtet etwa Luxemburgs Premier Jean-Claude Juncker.

Einige Schwaden waren schon bei den deutsch-französischen Konsultationen in Potsdam zu wittern. Grandiose Freundschaftsrhetorik und herzlicher Umgang verbargen nicht ganz, daß sich haarfeine Risse auftaten. Und die könnten sich schnell zu einem Graben verbreitern, wenn das Politmanagement in Bonn versagt.

Die Gemengelage ist vertrackt: Die deutsche Regierung möchte eine Reform der EU-Finanzen durchsetzen, die ihren Nettobeitrag zum europäischen Haushalt (derzeit 22 Milliarden Mark) beträchtlich verringern soll. Das geht nur, wenn die Subventionen für die Bauern künftig sparsamer fließen - für Frankreich aber ist die gemeinsame Agrarpolitik ein Tabu.

Ein potentieller Verbündeter für Lafontaine als Hüter der deutschen Steuertöpfe wäre dabei die britische Regierung, die bislang so tut, als ginge sie die Auseinandersetzung nichts an. Margaret Thatcher hatte schon 1984 ("I want my money back") einen ordentlichen Rabatt auf Londons Beiträge herausgehandelt.

Doch nun hat der Finanzminister diese Hilfe wohl verspielt. Und er beging gleich auch noch einen kapitalen Fehler, als er das Einstimmigkeitsprinzip in Geldfragen zur Disposition stellte: Bei Mehrheitsentscheidungen müßte der größte Nettozahler Deutschland künftig eine geldfordernde und ausgabenfreudige Übermacht im Brüsseler Ministerrat fürchten.

Die Spannungen drohen nun sogar die geplante EU-Erweiterung nach Osteuropa zu blockieren. Denn solange die Finanzen und die Institutionen der EU nicht überholt worden sind, kann Europa die Vergrößerung nicht verkraften, wie gerade Schröder und Lafontaine betonen. Dabei würde die Osterweiterung der deutschen Industrie am meisten nutzen.

Gemessen an dem, was auf dem Spiel steht, nimmt sich der Steuerwirrwarr geradezu läppisch aus. Der luxemburgische Wirtschaftsminister Robert Goebbels verstand in Brüssel die Aufregung nicht.

Es geht um zwei Dinge: Wie weit soll in der EU die Angleichung der Steuersätze vorangetrieben werden? Und ist es angesichts der Erweiterung der EU auf über 20 Mitglieder nicht erforderlich, mittelfristig das Einstimmigkeitsprinzip im Rat zugunsten einer Entscheidung mit qualifizierter Mehrheit aufzugeben?

Beides sind nicht eben neue oder gar revolutionäre Erwägungen. Seit über einem Jahr gibt es einen einstimmigen Beschluß, europaweit eine Abschlagsteuer auf Kapitalerträge zu erheben, um den Abfluß des Geldes in Steuerparadiese zu beenden. Selbst Luxemburg, das vom gegenwärtigen Zustand am meisten profitiert, würde mitmachen.

Zwar haben einige Länder noch Vorbehalte im Detail. Aber bislang sah es so aus, als könnte der Wiener Gipfel diese Woche zumindest bei der Zinssteuer und bei dem Verbot unfairer Steuerbegünstigungen für ausländische Investoren in vielen Ländern einen wichtigen Schritt weiterkommen. Diese Aussicht hat sich drastisch getrübt, dank Lafontaine und der britischen Presse.

Der Luxemburger Juncker, der im nächsten Jahr Wahlen hat, wird in seinem Großherzogtum mit der Forderung konfrontiert: Wenn die Engländer aus egoistischen Gründen nein sagen könnten, dann könne Luxemburg das auch.

Das aber wäre wieder einmal das Aus für eine Mindeststeuer auf Kapitalerträge, und auch die Steuerparadiese, etwa auf den englischen Kanalinseln, blieben unbehelligt. Dann hätte Brown unter dem Vorwand, einen Angriff auf die britische Steuerhoheit abzuwehren, handfeste Vorteile verteidigt, die sich schwerlich als vitales nationales Interesse rechtfertigen lassen.

Lafontaines ungeschicktes Verknüpfen von Steuern und Einstimmigkeit war offenbar das, was Brown, von der Anti-Europa- und Anti-Euro-Stimmung in seinem Land verunsichert, für einen populistischen Befreiungsschlag brauchte.

Den Schaden hat nun womöglich die ganze EU. Lafontaine stand plötzlich ziemlich allein da. Sogar der österreichische Kanzler Viktor Klima, ein Sozialdemokrat, erteilte seinen Ideen eilig eine Absage. Und noch ganz andere haben schadenfroh zur Kenntnis genommen, wie schnell der Linke Lafontaine bei seinen Ausflügen auf die globale Bühne straucheln kann: die Amerikaner, die den sich bildenden Euro-Raum zwar mit Wohlwollen, aber nicht ganz ohne Vorsicht und Zweifel beobachten.

Am vergangenen Freitag machte der deutsche Finanzminister - nach einem Zwischenstopp in der kanadischen Hauptstadt Ottawa bei seinem Amtsbruder Paul Martin - seinem US-Kollegen Robert Rubin und dem Notenbankchef Alan Greenspan seine Aufwartung. Dabei stellte sich schnell heraus, trotz aller Freundlichkeit der Gastgeber: Wohl noch nie seit dem Krieg lagen eine deutsche und eine amerikanische Regierung in wichtigen wirtschaftspolitischen Fragen so deutlich über Kreuz wie jetzt.

Lafontaine, der Weltökonom aus Saarbrücken, verlangt eine abgestimmte Wachstums- und Beschäftigungspolitik der führenden Industriestaaten. Und er möchte die wilden Ausschläge der Devisenkurse durch stärkere Kontrollen bändigen. In ihnen vermutet er eine wesentliche Ursache für vermindertes Wachstum und Arbeitslosigkeit. Deshalb wollte er gern die wichtigsten Währungen der Welt - Dollar, Yen und Euro - in ein Korsett zwängen: Die Wechselkurse sollten nur noch in geringen Bandbreiten, sogenannten Zielzonen, schwanken.

Rubin und Greenspan verhehlten schon vor ihrem Treffen mit dem Saarländer nicht, was sie von Lafontaines neuer »Architektur« für die Weltfinanzmärkte hielten: nichts. »Ich möchte nicht einmal die Frage erörtern, ob wir die Wechselkurse auf diese Weise stabilisieren sollen. Es ist einfach nicht machbar, Zielzonen sind eine Illusion«, so Greenspan. Und auch Rubin sagte bei einer Anhörung im Kongreß voraus: »Nichts davon wird funktionieren.«

Der Antrittsbesuch in Washington zeigte Wirkung: Ganz wie von der führenden Wirtschaftsnation USA gewünscht, gibt Lafontaine seine Forderungen nach verordneten Wechselkursen auf, vorerst. Mit deren Einführung will der Sozialdemokrat warten, bis die Wirtschaftsblöcke Japan, USA und Europa ihre Ökonomien in Einklang gebracht haben - dann jedoch sind die von dem deutschen Finanzexperten eingeforderten Zielvorgaben für die Währungsmärkte ohnehin überflüssig. Stabile Devisenkurse ergeben sich dann von allein.

Vielleicht wäre es wirklich besser, wenn Lafontaine den Rat seiner britischen Labour-Genossen mit ihren exzellenten Beziehungen nach Washington beherzigen würde: Maul halten, Oskar.

WINFRIED DIDZOLEIT, HANS

HOYNG, CHRISTIAN REIERMANN

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