Mitte Februar diskutierten die Künstlerin Moshtari Hilal und der*die politische Geograf*in Sinthujan Varatharajah in einem Instagram-Live-Gespräch über das Thema Nazierbe und dessen Kontinuitäten. Neben großen Konzernen wie Bahlsen sprachen sie dabei auch über zwei Beispiele aus dem Kulturbereich: die Kunstsammlerin Julia Stoschek, deren Urgroßvater Max Brose Wehrwirtschaftsführer in der NS-Zeit war, und die Buchhändlerin Emilia von Senger. Von Sengers Urgroßvater väterlicherseits war am Angriffskrieg gegen Polen beteiligt und später hochrangiger General der Wehrmacht, ihr Großvater väterlicherseits war im Krieg in Russland und später Nato-Oberbefehlshaber. Emilia von Senger hat kürzlich den queerfeministischen Buchladen She Said in Berlin eröffnet.

Im Fokus zahlreicher Medienbeiträge und der andauernden Debatte steht vor allem die Auswahl eben dieses Buchladens, aber auch Hilal und Varatharajah selbst. ze.tt sprach mit ihnen über die Gründe für die von ihnen gewählten Beispiele, die Anfeindungen, die sie seither erleben, und den Begriff Menschen mit Nazihintergrund. 

ze.tt: Moshtari, Sinthujan, zu Beginn eures zweistündigen Instagram-Talks über Nazierbe führt ihr einen Begriff ein, der viele provoziert hat: Menschen mit Nazihintergrund. Was bedeutet das?

Sinthujan: Es ist gewissermaßen eine Umkehr vom Begriff "Menschen mit Migrationshintergrund". Wir markieren damit den Teil der Gesellschaft, der sonst ständig und völlig selbstverständlich andere markiert. Das Interesse daran, woher Menschen kommen – was eigentlich das Interesse dafür ausdrückt, was sie sind, wer sie sind und wie sie dort hingelangt sind, wo sie jetzt sind –, ist oft einseitig. Wir wollen diese Rollen und ethnografischen Analysen vertauschen. Die Herkunft von "Menschen mit Nazihintergrund" ist dabei keine rein geografische Frage, sondern eine historische, ökonomische und ideologische, die im Kontext der Geschichte dieses Landes zu verorten ist.

ze.tt: Warum findet ihr diese Bezeichnung im Kontext von Nazierbe sinnvoll?

Moshtari: Wenn man* nur von "Deutschen" spricht, ist das sehr verallgemeinernd. Die jüdische Bevölkerung, Sint*izze und Rom*nja und andere Opfergruppen sowie die Deutschen im Widerstand, waren und sind ebenfalls Teil der deutschen Gesellschaft. Hier weiter auszudifferenzieren mit einem Begriff, der bewusst nach denen fragt, die historisch vom NS-System profitiert haben und in diesem privilegiert waren, schafft eine andere Sichtbarmachung. Die Autorin Fabienne Sand schreibt in einem Blogeintrag zum Thema, wie sie sich als Schwarze Frau, aber auch als Deutsche mit Nazihintergrund in einer komplexen Gemengelage befindet. Das steht nicht im Widerspruch, sondern verdeutlicht, wie kompliziert antifaschistische Arbeit manchmal ist. Deshalb ist es wichtig, zu unterscheiden, zwischen einer materiellen Machtkritik, die nur einige betrifft, und einer ideologischen, die uns alle betrifft.

Der Begriff "Menschen mit Nazihintergrund" schließt die sogenannten ganz normalen Bürger*innen in die Geschichte mit ein.
Sinthujan Varatharajah

Sinthujan: Von Nazis wird außerdem immer wieder als etwas Fremdes gesprochen, das sich heute ideologisch in Skinheads oder Neonazis ausdrückt. Das macht sie zu einer kleinen sichtbaren Gruppe von Extremist*innen, die angeblich nichts mit der sogenannten Allgemeinbevölkerung zu tun hatten – dabei wurden die Nazis gesamtgesellschaftlich getragen. Der Begriff "Menschen mit Nazihintergrund" schließt die sogenannten ganz normalen Bürger*innen in diese Geschichte mit ein und genau das schafft die Konfrontation, die in vielen Familien nicht geschehen ist. Diese Konfrontation wird gerade ausgetragen – allerdings nicht mit der eigenen Geschichte, sondern an uns. Das ist besonders als rassifizierte Menschen in diesem Land gefährlich.

ze.tt: Ihr seid beide Kinder geflüchteter Menschen. Warum fühlt ihr euch für dieses Thema verantwortlich?

Moshtari: Warum sollten wir uns nicht verantwortlich fühlen? Wir leben in diesem Land, seine Gegenwart betrifft uns und diese kann nur verstanden werden mit dem Blick auf die Geschichte. In unserem Gespräch ging es uns aber auch darum, wie sich diese Vergangenheit nicht nur ideologisch, sondern auch materiell ausdrückt, welche Kapitalverhältnisse sich bis ins Jetzt nachverfolgen lassen und wie sie auch Räume gestalten, in denen wir als Künstler*innen uns heute bewegen. Diese kritische Auseinandersetzung ist nicht neu, sie wurde vor allem von jüdischen Aktivist*innen und Künstler*innen geleistet. Wir greifen daher viele Aspekte wieder auf und fragen uns, was das für uns bedeutet.

Sinthujan: Ein Beispiel: Als meine Eltern in den Achtzigern aus Eelam vor einem Völkermord nach Deutschland flohen, hatten sie nichts. Der Hausrat, der unsere Asylwohnung und später Sozialwohnung füllte, war aus Sperrmüll zusammengestellt, den materiellen Überresten der deutschen Gesellschaft. Nachdem ich zum ersten Mal von den sogenannten "Judenauktionen" erfuhr – eine antisemitische Maßnahme der NS-Regierung, bei denen der Privatbesitz von deportierten Jüdinnen*Juden versteigert wurde –, habe ich mich intuitiv gefragt, ob auch unsere bayerischen Eckbänke oder unser Besteck aus dem Sperrmüll und den Spenden der Deutschen aus einer solchen Gewaltbeziehung stammen könnten. Wenn ich mir diese Frage stellen kann, wieso dann nicht auch ihr, deren Biografien viel nahtloser mit der NS-Geschichte verstrickt sind?