18-Jähriger dokumentiert Falschparker

Hass gegen den „Anzeigenhauptmeister“: Eine gefährliche Dynamik

Durch eine „Spiegel TV“-Reportage wurde Niclas M. alias „Anzeigenhauptmeister“ berühmt.

Durch eine „Spiegel TV“-Reportage wurde Niclas M. alias „Anzeigenhauptmeister“ berühmt.

Hannover. Kaum eine andere Person bringt Social-Media-Nutzerinnen und -Nutzer aktuell derart in Rage wie der selbst ernannte „Anzeigenhauptmeister“. Niclas M. ist 18 Jahre alt und wurde vor einigen Wochen durch eine „Spiegel TV“-Reportage bundesweit berühmt. Grund ist sein bizarres Hobby: M., der eigentlich gar keine polizeiliche Ausbildung hat, fährt durch seine Heimatstadt in Sachsen-Anhalt und andere Orte des Landes und zeigt akribisch Falschparker an.

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Die Reportage, in der M. mitunter als „Meister Petze“ oder „Knöllchenfetischist“ bezeichnet wird, entwickelt in den Tagen nach Erscheinen ein Eigenleben. Mehr als 3,8 Millionen Mal wurde der Beitrag inzwischen auf dem Youtube-Kanal des „Spiegel“ angesehen, viele weitere Aufrufe erreichen Clips auf Facebook und anderen Social-Media-Plattformen. Sie werden tausendfach geteilt und kommentiert, auch bekannte Streamerinnen und Streamer besprechen das Stück in sogenannten Reaction-Videos. Ein Videomitschnitt von MontanaBlack allein hat auf Youtube 1,8 Millionen Aufrufe. Als er erscheint, ist Niclas M. längst ein eigenes Meme.

Auf Plattformen wie X finden sich zahlreiche Witzbilder über M. – in einem schreibt der „Anzeigenhauptmeister“ etwa einem auf dem Mond gelandeten Raumschiff ein Knöllchen. Auch Medien springen auf das Thema an und nehmen den Hype zum Anlass für eigene Beiträge. „Privatjagd auf Falschparker: Was ist erlaubt?“, fragt etwa das ZDF. „Ist es überhaupt legal, Autos und Kennzeichen zu fotografieren?“, will „Chip“ wissen. Auch das RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) berichtet. Der Rapper Finch widmet M. schließlich sogar einen eigenen Song.

Doch so kurios und lustig die Internetkarriere von M. auch sein mag: Sie hat inzwischen eine gefährliche Dynamik angenommen. Eine, die schon für andere Teenager ernsthafte Konsequenzen hatte.

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Beleidigungen und Gewaltfantasien

Wer sich die Kommentare unter Social-Media-Clips zum „Anzeigenhauptmeister“ ansieht, der stellt schnell fest: Hier regiert der Hass. Persönliche Beleidigungen gegen den 18-Jährigen gehören da noch zu den harmlosesten Beiträgen: „Schlimm, wenn die Eltern Geschwister sind“, schreibt etwa jemand auf der Facebook-Seite von „Spiegel TV“. „Durex hätte das verhindert“, postet jemand mit einem Bild des jungen Mannes auf der Plattform X.

Andere Nutzerinnen und Nutzer werden expliziter – und drohen mit Gewalt. „Abends mal mit Baseballer bearbeiten“, schreibt jemand auf der Facebook-Seite von „Spiegel TV“. Unter dem selben Post meint jemand: „Dem gehört mal richtig eine in die .... geschlagen.“ Gleich mehrfach in verschiedenen Varianten schreiben Menschen: „Irgendwann trifft er auf die Richtigen, und das freut mich.“ Einer meint: „Irgendwann kommt er unter die Räder, der arme Irre.“

In die Gewaltfantasien stimmt auch der Influencer MontanaBlack in seinem Stream mit ein. „Auch wenn ich da überhaupt kein Freund von bin und mich davon distanziere, sage ich dir, Herr Anzeigenhauptmeister: (...) Es wird nicht lange dauern, bis dir jemand in die Fresse haut dafür. Dann kannst du richtig abkassieren. Vielleicht auch genau der Samenerguss, den du haben möchtest. Aber dir wird jemand zeitnah dafür in die Fresse hauen, würde ich einfach mal vermuten.“

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Morddrohungen auf Instagram

Auch rechte Blogger haben sich auf M. eingeschossen und fantasieren, wie man eigentlich mit dem 18-Jährigen umgehen sollte. In Osteuropa wäre einer wie M. „schlecht vorstellbar“, meint etwa der frühere Russland-Korrespondent Boris Reitschuster in seinem Blog. „Dass dort jemand solche Zwänge entwickeln könnte, ist zwar sicher nicht auszuschließen. Aber die Gesellschaft würde das nicht hinnehmen und er würde aller Wahrscheinlichkeit nach derart unter Druck gesetzt, bis hin zu Gewalt oder deren Androhung, dass er seinen Zwang bald nicht mehr ausleben könnte.“

An anderen Orten des Internets planen Nutzerinnen und Nutzer derweil ganz konkret, wie es mit dem „Anzeigenhauptmeister“ nun weitergehen soll. Auf einer Instagram-Seite versuchen einige, an die Adresse des 18-Jährigen zu kommen. „Ich persönlich wäre dafür, dass seine Adresse geleakt wird – und dann Schanzenfest 2.0″, schreibt da jemand. Das „Schanzenfest“ war eine 2018 initiierte Aktion von Internettrollen, mit dem Ziel, den jahrelang gemobbten Youtuber Drachenlord zu besuchen und ihn zur Weißglut zu bringen.

Manch einem reicht das alles aber noch nicht. Einer bringt auf der Instagram-Seite gar eine möglicher Ermordung des „Anzeigenhauptmeisters“ ins Spiel: „Die Doku war dein Todesurteil. Und das ist keine Drohung. sondern eine Feststellung. Viel Glück noch“, heißt es da. Unter dem Youtube-Video des ursprünglichen „Spiegel TV“-Beitrags kann heute nicht mehr kommentiert werden. Die Kommentarfunktion, die ebenfalls mit Hassbeiträgen geflutet worden war, wurde inzwischen von der Redaktion deaktiviert.

Medienrummel mit Folgen

Es ist nicht ganz einfach, den Negativhype um den „Anzeigenhauptmeister“ zu bewerten. Natürlich ist das ungewöhnliche Hobby, das M. da ausübt, prädestiniert für Entrüstungsstürme. M.s Verhalten ist hochgradig provokant und bringt alles mit, was ein guter Internetaufreger so braucht. Wer so provoziert, wird mit einem gewissen Backlash rechnen müssen, könnte man jetzt sagen. Und dass es in den sozialen Netzwerken manchmal derbe zugeht, ist auch keine Neuigkeit: Hier liebt man Gossip, Memes und Figuren, an denen man sich abarbeiten kann.

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Noch dazu hat sich Niclas M. den Hype selbst ausgesucht. Er ist volljährig, hat sich mit seiner Geschichte selbstbestimmt in die Öffentlichkeit begeben. Und er sucht offenbar noch immer proaktiv Kontakt zu Medien, um bekannt zu werden. Neben dem „Spiegel TV“-Beitrag ließ er sich etwa auch vom ARD-Magazin „Brisant“ bei der „Arbeit“ begleiten.

Aber: Niclas M. ist eben auch noch ein Teenager, gerade einmal 18 Jahre alt. Und seine Leidenschaft ist derart bizarr, dass man schon die Frage aufwerfen muss, ob er die Folgen seines Tuns wirklich abschätzen kann. Der Medienrummel jedenfalls, der jetzt auf M. einprasselt, könnte für den 18-Jährigen noch bittere Folgen haben.

Wenn Jugendliche zum Meme werden

Das haben auch Beispiele aus der Vergangenheit schon gezeigt. 2006, lange bevor es Social Media überhaupt gab, wurde schon einmal ein junger Mann durch einen Fernsehbeitrag berühmt. „Focus TV“ berichtete damals über sogenannte „Killerspiele“ und blendete dazu das Video eines Jungen ein, der vor dem Bildschirm ausrastete und seine Tastatur zerstörte. Der Junge sei computerspielsüchtig, heißt es in dem Beitrag – das Video sei vom Vater heimlich aufgenommen worden.

Tatsächlich war die Redaktion der Sendung auf einen Internetstreich hereingefallen. Das Video war ein gestellter Comedyclip, der seit einiger Zeit als „Angry German Kid“ im Internet herumgeisterte. Dessen Urheber hatte das Video als Scherz aufgenommen, von anderen war es dann auf Witzeseiten im Internet verbreitet worden. Nichts an dem Video war echt – fortan wurde es aber so aufgefasst.

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Für den im Video gezeigten Teenager hatte der Fall jahrelange Folgen. Er sei Mobbing und „Psychoterror“ ausgesetzt gewesen, erklärte er später als Erwachsener in einem Youtube-Video. Dann sei er auf die schiefe Bahn geraten, landete sogar kurzzeitig im Knast. Und auch mit der Jobsuche sei es jahrelang schwierig gewesen. „Jeder kannte mich als den Verrückten aus der Schule – oder eben als das ‚Angry German Kid‘“, erzählt er im Video.

Drachenlord: Beispielloses Cybermobbing

Prominentestes Beispiel einer verhängnisvollen Meme-Karriere ist der schon erwähnte Youtuber Drachenlord. Als Anfang 20-Jähriger begann Rainer Winkler, bizarre Videos ins Internet zu laden. Schnell wurden Internettrolle auf den übergewichtigen Youtuber aufmerksam, die Winkler daraufhin in breitem Fränkisch beleidigte. Das Hickhack zwischen dem Drachenlord und seinen „Hatern“ entwickelte ein Eigenleben – Winkler wurde zum Hassobjekt.

Dabei blieb es aber nicht: Bis zum heutigen Tage wird der heute 34-Jährige von seinen Anti-Fans regelrecht verfolgt und gejagt. Wann immer Winkler irgendwo auftaucht, ist schnell jemand mit Kamera zur Stelle, der versucht, ihn zum Ausrasten zu bringen. Junge Männer organisierten regelrechte Pilgerfahrten zum früheren Haus des Youtubers, beim sogenannten „Schanzenfest“ reisten Hunderte von ihnen an. Gerechtfertigt wird das Verhalten wie beim Mobbing üblich stets als „Gegenreaktion“, weil Winkler vor der Kamera immer wieder fragwürdige Aussagen getätigt hatte. Das psycho­logische Gutachten in einem späteren Gerichtsverfahren bescheinigte dem Youtuber allerdings eine „verminderte Intelligenz“.

Die Folgen der jahrelangen Tortur spürt Winkler noch immer. Erst vor wenigen Wochen war es zu einem Handgemenge an einem Bahnhof in Jena gekommen. Vor einer Pension bei Plauen sprach die Polizei mehrere Platzverweise an Personen aus, die versucht hatten, dem Youtuber aufzulauern.

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Social-Media-Nutzer machen sich Sorgen

Ein ganz ähnliches Eigenleben entwickelt gerade auch der Hype um den selbst ernannten „Anzeigenhauptmeister“. Sein Gesicht ist inzwischen auf Hunderten Meme-Bildern zu sehen – von einem Tag auf den anderen wurde der 18-Jährige bundesweit berühmt. Nicht zuletzt deshalb mehren sich inzwischen auch kritische Stimmen.

„Hoffentlich bedenken viele der Meme-Ersteller auch, dass das, was sie da aktuell über den Anzeigenhauptmeister in die Welt setzen, astreines Mobbing ist“, schreibt eine Nutzerin auf der Plattform Threads. Auf der Plattform Bluesky schreibt eine Userin: „Ich finde diese ‚Anzeigenhauptmeister‘-Geschichte ganz schlimm. Wie kann man einen Menschen so vor die Hunde werfen?“

Ein anderer meint: „Ich habe so viele Emotionen zum Anzeigenhauptmeister, aber vor allem langsam die Sorge, dass diese Doku ihn da richtig krass ins Fadenkreuz von Knalltüten stellt. So sehr ich Stiefellecker hasse – er hat auch nicht verdient, dass diese Doku ihm als 18-Jährigem mit recht erkennbarem Realitätsverlust das Leben zur Hölle macht.“

Medien tragen Verantwortung

Der Journalist Boris Rosenkranz kritisiert in einem Beitrag für das Portal „Übermedien“ auch den Umgang der Medien mit dem „Anzeigenhauptmeister“. Journalistinnen und Journalisten seien „in der Verantwortung, zuweilen auch Menschen vor sich selbst zu schützen, gerade wenn sie so unbedingt vor die Kamera drängen“. Das sei mit der „Spiegel TV“-Reportage nicht passiert. Vielmehr mache sich der Beitrag über M. lustig. „Sein vollständiger Name, sein Wohnort, alles wird mitgeliefert.“

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Rosenkranz weiter: „Man kann darüber berichten, wenn man es für ein relevantes Thema von öffentlichem Interesse hält, dass eine Person Behörden mit Anzeigen überflutet und diese so unnötig beschäftigt, teilweise mit Bagatellen. Aber dafür muss man die Person nicht identifizierbar an den Pranger stellen.“ Andere Medien hatten zuvor explizit darauf verzichtet, darunter die regionale „Mitteldeutsche Zeitung“.

„Wir haben aufgrund der persönlichen Situation dieses Mannes von einer Berichterstattung bewusst abgesehen. Jedenfalls so, wie jetzt in reichenweitenstarken Videos berichtet worden ist, werden wir das auch nicht tun“, erklärt die Redaktion gegenüber „Übermedien“.

Was genau der aktuelle Hype für M.s Zukunft bedeuten wird, lässt sich nicht voraussagen. Möglicherweise ist der Kult um den „Anzeigenhauptmeister“ auch bald wieder vorbei – „One Hit Wonder“ gibt es auch immer wieder mal in der Netzkultur. Vielleicht aber eben auch nicht. Wenn sich das Internet einmal an einem Hassobjekt festgebissen hat, dann lässt es so schnell nicht wieder los – das haben zahlreiche Fälle aus der Vergangenheit gezeigt.

 

Update Montag, 11. März, 13.15 Uhr: Wie die „Leipziger Volkszeitung“ nun berichtet, hat es bereits Anfang März einen Übergriff auf M. gegeben. Nach Informationen der Zeitung habe bei Bitterfeld ein bisher unbekannter Täter unter Gewaltanwendung das Handy des 18-Jährigen entwendet. Der „Anzeigenhauptmeister“ sei wegen seiner Verletzungen mit einem Rettungswagen in ein nahgelegenes Krankenhaus gebracht worden.

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