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Peter Dabrock

Gesellschaft nach der Pandemie Wir werden uns manches nicht verzeihen können

Peter Dabrock
Ein Gastbeitrag von Peter Dabrock
In der Pandemie sind schwere Fehler gemacht worden. Manche sind unverzeihlich. Wenn unsere Gesellschaft heilen will, dann darf sie nicht vergessen – und muss versuchen, sich zu versöhnen.
Gegenprotest am Rande einer »Querdenker«-Demo in Berlin, 24. April 2021

Gegenprotest am Rande einer »Querdenker«-Demo in Berlin, 24. April 2021

Foto: Jean MW / imago images / Future Image

»Wir sind auf der Zielgeraden, endlich, zwar lang, aber das Ende der Pandemie ist in Sicht!« So tönt es aus dem Munde vieler, auch politisch Verantwortlicher seit Tagen – noch am Sonntagabend aus dem des bayerischen Landesfürsten Söder bei Anne Will. Es sei an der Zeit, die Rhetorik des »ewigen Winters« hinter uns zu lassen und stattdessen »etwas mehr Hoffnung zu schöpfen«, sekundiert Vizekanzler Scholz im ZDF. Lassen wir beiseite, wie lange die Zielgerade wird, ob für alle Grund zur Hoffnung besteht oder ob nicht in Form von vermeidbar gewesen Spaltungen in der Gesellschaft auch in den nächsten Wochen noch ungeahntes Ungemach vor uns liegt.

Durch werden wir – jede:r Einzelne wie das Land – mit der Pandemie dann nicht sein. Wir werden klarer sehen, wo wir stehen, was wir gewonnen, was wir verloren haben, welche Beschädigungen an Seele und Leib wir als Einzelne, aber auch als Gesellschaft davongetragen haben. Sicher ist, wir sind beschädigt und bleiben es vorerst auch.

Richtig: Einiges ist gut gelaufen. Als noch nicht klar war, dass auch im Bereich der Jüngeren mehr und schwere Krankheitsverläufe auftreten und Langfristfolgen (»Long-Covid-Syndrom«) feststellbar sein würden, hat die jüngere Generation in bewundernswerter Weise Solidarität mit den Älteren geübt. Das tut sie jetzt bereits, in einem Beispiel gesprochen, im dritten Onlinesemester. Oder beim kreativen Einsatz vieler Lehrer:innen, um ihren Schüler:innen wenigstens den Ansatz erlebbarer Bildungserfahrung – jenseits von Zettelwirtschaft – zu ermöglichen. Oder beim über die normalen Kräfte hinausreichenden Engagement von Millionen von Ärztinnen und Ärzten, Alten- und Krankenpflegenden für Ihre schwerstkranken Patient:innen – und in der selbstverständlichen Arbeit aller personennahen Dienste, immer verbunden mit der Gefahr, sich anzustecken. Auch den beherzten Einsatz der Politik am Beginn der Krise sollte man bei allem, was danach kam, als ihr zunehmend die Luft auszugehen schien, nicht vergessen.

Manches ist schiefgelaufen, manches richtig versemmelt worden und einiges unwiederbringlich kaputtgegangen.

Aber es ist auch manches schiefgelaufen, manches richtig versemmelt worden und einiges unwiederbringlich kaputtgegangen. Weit über 80.000 Menschen haben – allen Anstrengungen zum Trotz und auch wegen manchem Versagen – ihr Leben gelassen.

Unwillkürlich denkt man an Jens Spahns geradezu prophetisches Wort vom Verzeihen-Sollen aus dem April 2020. Weise und vorausschauend haben viele, ich auch, diese Formulierung genannt. Denn Spahn hatte ja Recht: Nie in der Geschichte der Bundesrepublik gab es eine Herausforderung, die so tiefgehende und weitreichende Entscheidungen nach sich ziehen würde wie die der Pandemie.

Mit zunehmender Dauer der Pandemie, eingedenk dessen, was man vor allem im Laufe des langen Winters erlebt hat, fragte ich mich: War das Wort wirklich so weise? Auch wenn es von Minister Spahn sicher ernst gemeint war, kam mir – fast entgegen eigenen Wollens – in den Sinn, ob ihm zusehends die Funktion zuwuchs, als Persilschein für Versäumtes dienen zu können. Mich irritiert vor allem das so vermeintlich selbstverständlich Konstatierende: »Wir werden uns zu verzeihen haben!« Das klingt trotz Futur II nach: Gesagt – getan!

Tun (und auch Sollen) setzt aber Können voraus. Deshalb ist es erforderlich zu fragen: Können, wollen oder sollen »wir« überhaupt verzeihen? Jenseits der allfälligen Fragen nach dem Status des überinklusiven Wir (Wer ist ›wir‹? Wer hat das Recht, wer nimmt es sich, für das ›Wir‹ zu sprechen?) drängt sich die Frage auf: Kann, darf und soll man eine solche Erwartung an andere richten: zu verzeihen? Ist sie nicht übergriffig? Muss man nicht, um Verzeihen zu erlangen, tätige Reue üben, ohne deshalb allerdings die Gewähr zu erhalten, dass einem verziehen wird? Liegt der »Geist« des Verzeihens nicht darin, dass es bei aller Hoffnung darauf am Ende immer eine Gabe des anderen darstellt? Ein unerwartetes Geschenk, das nie in kalkulierender Erwartungssicherheit aufgehen kann? Zerstört man nicht von vornherein das Zukunftseröffnende des Verzeihens, wenn man im moralischen Ton Wechselseitigkeit einklagt? So geht es eben nicht: »Jeder sagt, Verzeihen ist eine wunderbare Idee – bis er selbst etwas zu verzeihen hat«, liest man von »Unbekannt« in Spruchsammlungen – dennoch klug!

Man solle sich nicht in hochtrabenden Begriffsspekulationen verlieren, dürfte der Haupteinwand gegen solche Gedanken sein. Es sei doch klar, was Jens Spahn gemeint habe: Es sei alles in der Pandemie schwer genug und entsprechend schwer zu entscheiden. Am Ende überwänden wir das Dunkel nur, wenn wir Fehler, die gemacht worden seien, uns und anderen eingestehen würden – und nur so, und das wollten wir doch alle, könnten wir uns überhaupt der Zukunft zuwenden. Aber so einfach geht es nicht.

Manches mag man verzeihen (wollen) – so die kleingeistigen wie zugleich großkotzigen Versuche, eine eigene politische Machtposition auszunutzen, um auf Kosten der Allgemeinheit schnödes Geld machen zu wollen. Neben der Maskenaffäre , die in Teilen staatsanwaltschaftlicher Aufarbeitung harrt, mag man noch an die eine oder andere Gaunerei denken. Die meist informellen Sanktionen gehen für die Betroffenen weit über ihren erhofften Vorteil hinaus. Hier wird man mehrheitlich dennoch verzeihen wollen. Das Maß der moralischen Großzügigkeit unterscheidet sich von Person zu Person – dürfte im Ganzen aber im Laufe der Zeit zunehmen.

Jenseits dessen, was gut funktioniert hat, und dessen, was allen eingespielten Erwartungsroutinen gemäß auf Verzeihung hoffen kann, ist aber auch vieles so grundlegend und traumatisierend falsch gelaufen, dass jede Erwartungshoffnung auf mehr oder minder einsatzarmes Verzeihen aus Sicht vieler nicht akzeptabel ist. Es gibt kein Anrecht auf Verzeihen, wenn Angehörige mit sich und der Gesellschaft hadern, ach was verzweifelt sind, dass sie einen Lieben in den letzten Stunden des Lebens alleingelassen haben – und dies nicht nur in der Anfangszeit der Pandemie mit allen Unsicherheiten, sondern auch noch angesichts unverständlicher Heimordnungen im Jahr zwei?

Und, auch wenn es hart ist zu sagen: Vielfach von unterschiedlichsten Medien aufgearbeitetes Zögern bei Impfstoff- und Schnelltestbeschaffung hat die Pandemiebekämpfung im Spätherbst und Winter ebenso massiv blockiert wie politisch-eigennützig motivierte Profilierungswettbewerbe zwischen Ländern untereinander und mit den Bund – und dies obwohl die Empfehlungen führender Wissenschaftler:innen seit Mitte letzten Jahres für den Fall des Beginns einer dritten Welle klar waren. Um dem Erinnern auf die Sprünge zu helfen: Dieses nicht erst im Nachhinein schwer zu rechtfertigende Hin und Her hat viele Tote gekostet. Fast Dreiviertel der Todesopfer fallen in die Zeit, in der ohne diese Verzögerungen und Querelen die Pandemiebekämpfung weitaus effektiver hätte ausfallen können.

Sollen Menschen, die unter diesen Bedingungen die »Mitte ihres Lebens«, wie es oft in Todesanzeigen heißt, verloren haben, verzeihen? Kann man das erwarten? Kann man »Schwamm drüber« vorschlagen, wenn die eigene Existenz wirtschaftlich und nicht selten auch persönlich zerstört wurde oder wenn man sieht, dass Kinder und Jugendliche  in ihrer Lebensentwicklung so zurückgeworfen werden, dass manche Expert:innen befürchten, dass dies schwer aufzuholen sein wird?

Einzelschicksale entziehen sich jedem Verzeihensanspruch. Wohl dem, dem ein Geschädigter verzeiht. Etwas anderes ist, ob wir in der Gesellschaft diese ehrlicherweise nicht zu leugnenden Versäumnisse und Fehlentscheidungen kollektiv verzeihen können und wollen? Gerade weil hinter den Zahlen so viele Menschen gestorben oder traumatisiert, verbittert, enttäuscht und frustriert stehen, können »wir« einerseits nicht als – ja als was eigentlich? – verzeihen. Andererseits muss und soll es weitergehen – auch als Gesellschaft. Also müssen wir versuchen, das »beschädigte Leben« (Th. W. Adorno) neu zu leben. Wenn solch als notwendig erfahrener Wunsch hinter dem Ansinnen nach »Verzeihung« steht, muss alles Mögliche in diese Richtung versucht werden – eben um Not zu wenden. Was nicht reicht, ist ein mehr oder minder pathetisches Sorry – aber dann: »Die Karawane zieht weiter.« Da muss man weder Prophet noch Traumatherapeutin sein, um vorherzusagen: Ein »Einfach so weiter« wird sich rächen, früher oder später – und es wäre eine Verhöhnung der Opfer, der Toten wie der Lebenden. Die aus der hohen Politik geäußerte Bitte steht und fällt damit, welchen Einsatz sie und die Gesellschaft als ganze bereit sind zu investieren, um die Pandemie aufzuarbeiten.

Die Schäden und Versäumnisse sind zu groß, um das Ganze einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss zu überlassen. Diese dienen regelmäßig dem politisch nachvollziehbaren, aber dem Pandemiegeschehen völlig unangemessenen Zweck, Schuldige (natürlich immer bei den anderen) zu identifizieren und »politische Konsequenzen« ohne echte Folgenerwartung zu verlangen. Wenn der Blick der Pandemieaufarbeitung in die Vergangenheit zielt, dann sollte das geschehen, um aus dem Geschehen zu lernen. Lernen meint nicht, dass sich Geschichte wiederholen und man dann in ähnlicher Situation besser handeln könnte. Auch eine solche Funktion entspricht nicht der Größe der aufzuarbeitenden Herausforderung.

Vielleicht bräuchten wir so etwas wie eine Wahrheits- und Versöhnungskommission.

Wo Verzeihen für beschädigtes Leben nicht möglich ist, kann und sollte man versuchen, mit geschlagenen Wunden oder lähmenden Vernarbungen auf Versöhnung zuzuarbeiten. Eine solche Form der Verarbeitung des Pandemiegeschehens will Vergangenes weder verdrängen noch beschönigen. Sie will Zukunft gewinnen – durch das Nicht-gut-zu-Machende hindurch.

Vielleicht bräuchten wir so etwas wie eine Wahrheits- und Versöhnungskommission. Ob sie wie eine Enquete am Bundestag angesiedelt oder zivilgesellschaftlich freistehend organisiert wird, mag man kontrovers diskutieren. Entscheidend ist, dass sie ein gesamtgesellschaftliches Signal setzen kann. Versöhnen bedeutet: Man kann im durch die Pandemie beschädigten Leben nach ihrem Ende nicht zur Tagesordnung übergehen und mit einigen mehr oder minder leichten Veränderungen (mehr Homeoffice, weniger Dienstreisen und ähnliche gut gemeinte, aber am Ende bescheidene Vorschläge) das Ganze ad acta legen.

Ich höre schon: Ein solcher Vorschlag ist vermessen oder wohlfeil. Eine Wahrheits- und Versöhnungskommissionen half Südafrika, das menschenverachtende Apartheid-System und seine Verbrechen aufzuarbeiten – davon sind die Versäumnisse der Pandemie doch kategorial verschieden. Richtig! Aber war die Pandemie nicht die größte Krise in der Geschichte der letzten 70 Jahre? Sind über 83.000 Tote und offensichtliches Politikversagen bei wichtigen Entscheidungen kein Grund zum ernst gemeinten gemeinsamen Innehalten – nicht mit dem Ziel, lange Messer zu wetzen, sondern Zukunft zu eröffnen? Um nur eine Perspektive aufzumachen: Ich zweifle und verzweifle noch immer daran, dass Politik durch nahezu alle regierenden Parteien hindurch Kinder und Familien links liegen gelassen hat. So viele konstruktive Vorschläge sind bereits seit einem Jahr auf dem Tisch: Passiert ist nichts.

Immer wieder hat man Entscheidungen verschoben und Eltern mit salbungsvollen, aber folgenlosen Briefen gedankt für ihr unermüdliches Engagement und ermuntert, noch ein bisschen durchzuhalten (in Teilen Bayerns neben Homeoffice nun bereits mit einer kleinen Unterbrechung seit Mitte Dezember 2020).

Solches Politikversagen kann und will ich – um der jungen Generation willen – nicht so im Raum stehen lassen. In solch elementaren Fragen – immerhin geht es um die Gegenwart unserer Kinder und ihre und unsere Zukunft – muss das (Nicht-)Geschehene aufgearbeitet werden. Sonst ist mein Vertrauen nicht nur in Handlungswilligkeit, sondern auch -fähigkeit der Politik bleibend erschüttert.

Ist es uns egal, dass sich Inzidenzzahlen in ein- und derselben Stadt je nach Wohnlage – schickes Villenviertel oder Hochhausblock – um den Faktor 10 unterscheiden?

Wollen wir den tiefen Frust von Eltern, gespeist aus der Wahrnehmung, wie wenig die Kinder und ihre eigene Arbeit bei gleichzeitigem beruflichem Nachteil durch die Kombination von Homeschooling und Homeoffice respektiert wurden einfach so übergehen? Wollen wir als Gesellschaft genauso unversöhnt weitermachen, wie mit der eklatanten Ungleichbehandlung von Großkonzernen und der Wirtschaftstätigkeit im Familien- und Soloselbstständigenbereich – die einen werden kräftig unterstützt, die anderen strecken sich oft vergeblich an die Decke –, wie sie in der Pandemie schonungslos ans Licht gekommen ist? Wollen wir es beim ermüdeten Klatschen für die systemrelevanten Berufe belassen, auf dass sie in der nächsten Katastrophe schon wieder bis auf Erschöpfung ihre Frau und ihren Mann stehen? Wollen wir wichtige öffentliche Teile des Gesundheits- und Sozialsystem auf dem technischen Niveau von Bleistift und Faxgerät belassen? Ist es uns egal, dass sich Inzidenzzahlen in ein und derselben Stadt je nach Wohnlage  – schickes Villenviertel oder Hochhausblock – um den Faktor 10 unterscheiden? Wollen wir nicht darum ringen, wie wir rechtlich und politisch kollektive Anstrengungen gemeinschaftlich besser bewältigen können, ohne gleich von Hygienediktatur oder Ausnahmezustand zu schwadronieren?

Die Liste an Fragen, hinter denen Erfahrungen stehen, die für viele unverzeihlich sind, aber zugleich Hoffnung aus sich entlassen könnten, wenn sie endlich aufgegriffen würden, ließe sich leicht verlängern.

Ja, wir haben keine Verbrechen aufzuarbeiten. Wir sollten uns aber auch nicht von der soziologischen Großanalyse beruhigen lassen, die Routine habe halt nach kurzer Irritation ziemlich souverän wieder die Herrschaft übernommen – und es liefe ja ganz ordentlich. Erstens – und das zeigt das Beispiel der Administration Biden – möglich ist eine Menge, auch in Deutschland. Zweitens anderes ist nötig, damit wir wertvolle Möglichkeiten in den Blick nehmen, die wir mit Sicherheit brauchen, um beschädigt und vielleicht doch versöhnt Wege aus der Pandemie zu finden. Dazu sollten wir uns zusammenfinden: vielleicht ohne Verzeihen, aber bereit zur Versöhnung.