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Kultur

Schlimm und struppig

Belgien versteht sich als Mutterland des europäischen Comics. Drei Meister feiert man dort gerade: Hergé, Hugo Pratt und Didier Comès. Die dunklen Seiten werden nicht übersehen

Der Anspruch, das wichtigste Museum für Comickunst im Land zu sein, ist dem Brüsseler Centre Belge de la Bande Dessinée schon im Namen eingeschrieben. Nun lockt die Region Wallonien die Comicinteressierten mit gleich drei Ausstellungen zu drei großen Klassikern der bandes dessinées („gezeichnete Streifen“), wie man im französischen Sprachraum Comics in Abgrenzung zu amerikanischen Bildergeschichten nennt: Hergé, Hugo Pratt und Didier Comès.

Dreißig Kilometer südöstlich von Brüssel, im Stadtzentrum von Louvain-la-Neuve und doch mitten im Grünen, steht seit nunmehr zehn Jahren ein beeindruckend eleganter Museumsbau aus Glas und Beton, der dem Werk des vielleicht größten französischsprachigen Autor Belgiens gewidmet ist. Die Rede ist nicht etwa vom Schriftsteller Georges Simenon, sondern vom Comiczeichner Hergé, dem Erfinder von Tim (Tintin im Original) und Struppi (Milou). Der als Georges Remi 1907 in Etterbeek bei Brüssel geborene Vater der „ligne claire“ betrachtete seine Geschichten immer als gezeichnete Literatur, was seine Landsleute wohl genauso sehen. Wie sonst erklärte sich der hohe Stellenwert, den die „neunte Kunst“ in Belgien wie in wohl keinem anderen Land der Erde genießt.

In diesem Jahr feiert das Museum nicht nur seinen eigenen Geburtstag, sondern auch den neunzigsten Geburtstag des blonden Reporters mit der charakteristischen Haartolle, dessen Abenteuer ab 1929 zunächst in „Le Petit Vingtième“, einer Kinder- und Jugendbeilage der katholischen Tageszeitung „Le Vingtième Siècle“ erschienen.

Der Besuch des Museums beginnt auf der obersten der drei Etagen. Von oben nach unten voranschreitend bieten sich dem Auge des Betrachters nicht nur die zu erwartenden Originalseiten und Lebensdokumente, sondern Objekte wie ein Nachbau des Haifisch-U-Boots aus „Der Schatz Rackhams des Roten“ und der Arumbaya-Fetisch aus dem gleichnamigen Band. Die ständige Ausstellung bietet eine umfassende Einsicht in Hergés Vorstellungswelt, den Einfluss von Literatur, Film und Zeitgeschichte, angefangen bei den aus heutiger Sicht tendenziös und rassistisch wirkenden Bänden „Tim im Land der Sowjets“ und „Tim im Kongo“ bis zu den realistischeren Abenteuern ab den späten Dreißigerjahren.

Dabei ist das Museum seit seiner Eröffnung durchaus umstritten: Nicht nur die Lage fernab von Brüssel sei ein Fehler, vor allem fehle jegliche Kritik an Hergés politischem Chauvinismus in diesem von Fanny Rodwell, der Witwe des Künstlers finanzierten Ausstellungsprojekt. Dennoch: Das Faszinierende an diesem Museum liegt darin, dass der Besucher auf seinem Gang durch die acht Säle eine Art Lektüre des Hergé’schen Werks vollzieht, die an sich kennzeichnend für das Medium Comic ist und sich am besten mit dem Schälen einer Zwiebel vergleichen lässt: Man kann Tim und Struppi wie ein Kind lesen, als Abenteuergeschichten mit viel Slapstick – die Konzeption des Museums lädt aber dazu ein, die unter den augenscheinlich so kindlichen Bildergeschichten liegenden Schichten nach und nach abzuziehen und so die intertextuellen Bezüge, die Beziehungen zur Zeitgeschichte und auch die zeitkritische Dimension zu entdecken.

Diese Art der Lektüre drängt sich zumindest für alle Geschichten ab 1934 auf, dem Jahr der für Hergé geradezu schicksalshaften Begegnung mit dem chinesischen Studenten Tschang, der einen großen Einfluss auf die Entstehung des „Blauen Lotos“ hatte. Mit diesem Band lassen Tim und Struppi endgültig ihre Ursprünge im Reich der Kinderunterhaltung hinter sich. Die Stereotypen weichen echten Charakteren, und nach und nach wächst heran, was man als Tims „Familie“ bezeichnet: der Kapitän Haddock, die Castafiore, Schulze und Schultze, Professor Bienlein und eine Reihe von zwielichtigen Gestalten und Bösewichten. Hergé recherchiert nun gründlich, bevor er sich an den Zeichentisch setzt. „Tim kommt direkt aus der Wirklichkeit. Ich bin ein Medium des Zeitgeists“, sagt Hergé dazu. „Tim in Tibet“ darf als der Höhepunkt dieses ernsthaften, zugleich realistischeren und persönlicheren Erzählstils gelten. Was dem jungen Hergé Ende der Zwanzigerjahre der reisende Reporter, das war dem Italiener Hugo Pratt (1927 bis 1995) vierzig Jahre später der Seefahrer – der Typ des Abenteurers schlechthin. Auch Pratt betrachtet sich als Schriftsteller: „Ich mache Literatur, und der Stil meiner Literatur ist eben das Zeichnen.“ In den Abenteuern von Corto Malteses, Pratts „Kapitäns ohne Schiff“, vermengen sich Legenden, Abenteuer, Geschichte und Fantastik zu einem weltweit außerordentlich erfolgreichen Erzählkosmos voller literarischer Bezüge: Der Gral, Shakespeare, Rimbaud, d’Annunzio, Hesse und natürlich die großen Abenteuererzähler Stevenson, Melville, London, Conrad, Kipling – sie alle und viele mehr geistern durch Corto Malteses eklektizistisches Universum.

Von zentraler Bedeutung sind darin Träume: Sobald Pratts Figuren einschlafen, fallen sie in fantastische Parallelwelten, die sich als Kommentar der eigentlichen Handlung lesen lassen. Die in La Hulpe zwischen Brüssel und Louvain gelegene Fondation Folon hat eben diesem Thema eine von Cristina Taverna und Patrizia Zanotti kuratierte, sehr sehenswerte Ausstellung mit Aquarellen Pratts gewidmet (bis 24. November). Beide haben mit Pratt zusammengearbeitet, Zanotti als Koloristin der ursprünglich schwarz-weißen Corto-Maltese-Geschichten.

Eben diese Tuschetechnik verbindet, neben der engen Freundschaft und der Vorliebe für Mythen und Legenden, Pratt mit dem wallonischen Autor Didier Comès. Dabei könnten zwei Menschen kaum unterschiedlicher sein. Der eine, Pratt, kommt aus einer italienischen Familie mit englischen, französischen, türkischen und sephardischen Wurzeln. Boris Karloff war sein Großonkel. Mit zehn Jahren zog er mit seinen Eltern ins damals italienisch besetzte Abessinien, wo sein Vater, ein faschistischer Offizier, wenig später in Gefangenschaft starb. Pratt selbst wurde mit 13 vorübergehend Soldat. Nach dem Krieg ging er für lange Jahre nach Argentinien, bevor er 1963 nach Italien zurückkehrte und sich einige Jahre später mit Corto Maltese neu erfand. Pratts Fantasie tobt sich auf den Weltmeeren aus, die von Comès im Moor, um genau zu sein: am Rande der Eifel, im Hohen Venn, wo Comès 1942 als Dieter Hermann Komes zur Welt kam. Nachdem die zwischenzeitlich von Nazideutschland annektierten deutschsprachigen Ostkantone wieder wallonisch geworden waren, wurde aus Dieter Didier und aus Komes Comès (er selbst nannte sich einen „Ardenner Elsässer“ und „Bastard zweier Kulturen“). In dem Dörfchen Sourbrodt wurde er geboren, dort verbrachte er sein Leben, und dort starb er 2013.

Auf einer Aufnahme aus den späten Siebzigerjahren stehen die beiden Freunde nebeneinander. Der Schrat aus den Ardennen mit Lockenkopf und Vollbart lacht aus dicken Brillengläsern in die Kamera, der Weltenbummler Pratt, lässig im Trenchcoat, schaut fasziniert, fast eingeschüchtert Comès an, geradeso als sei ihm dieser Ardenner Einsiedler, dessen Geschichten und Bilder im engsten Radius seiner Heimat angesiedelt sind, während er, Pratt bereits auf ein Leben wie ein Abenteuerroman zurückblicken kann, ein großes Rätsel.

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Comès’ erfolgreichstes Werk ist die Geschichte von „Silence“, einem geistig zurückgebliebenen stummen Bauernknecht, der indes in der Lage ist, sich durch Blicke mit den Tieren zu verständigen. Er wird von einem hinterhältigen Bauern malträtiert und missbraucht, was Silence in seiner Beschränkung freilich nicht so empfindet. Auf seinen Streifzügen durch eine fantastische Ardennenlandschaft begegnet er der Hexe Sara und einem boshaften Zwerg.

Kenner des Werks wollen 50 verschiedene Schwarztöne ausgemacht haben, und in der Tat experimentierte der langsam und ohne jedes kommerzielle Interesse arbeitende Comès mit schwarzer Tinte, indem er sie tage- und wochenlang offen stehen und eindicken ließ. Auch der Titel der bis zum 5. Januar 2020 dauernden Comès-Ausstellung in der Abtei von Stavelot trägt den Bezug zur Tinte im Titel: „Lencrage ardennais“ (etwa „ardennische Tuschefärbung“). Sie bietet eine eindrückliche Präsentation der fantastischen Vorstellungswelten von Didier Comès.

Angesichts der Vielfalt der frankobelgischen Comicproduktion lässt sich aus den Namen Hergé, Pratt und Comès wohl kaum ein historisches Narrativ der neunten Kunst entwickeln, doch bei aller Heterogenität erzählen die drei Ausstellungen einiges über das Verhältnis von Tusche und Farbe, und davon, warum Comics Literatur sind. In einem Genre, das „Szenaristen“ und das „Drehbuch“ ausführende Zeichner unterscheidet, verkörpern diese drei Autoren aus drei Generationen das Gegenteil: die Einheit von Zeichnung und Erzählung.

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