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DIE SONNE UND IHRE BEDEUTUNG IM RELIGIÖSMYTHOLOGISCHEN KONTEXT DER URGESCHICHTE ALTEUROPAS 1 FRANÇOIS BERTEMES I. DAS BILDPROGRAMM DER HIMMELSCHEIBE VON NEBRA Die einzigartige Himmelsscheibe von Nebra, Sachsen-Anhalt, und die Begleitfunde bilden den Ausgangspunkt der interdisziplinären DFG-Forschergruppe FOR 550. »Der Aufbruch zu neuen Horizonten. Die Funde von Nebra, Sachsen-Anhalt, und ihre Bedeutung für die Bronzezeit Europas«, deren Koordinator und Sprecher der Verfasser ist. Ihre außeror- Der Schwerpunkt dieses Beitrags zur Bedeutung der Sonne in der Ur- sie für das Verständnis von Mensch, Gesellschaft und Religion in Mitteleu- geschichte Alteuropas liegt auf den archäologischen Belegen zur frühen ropa zur Frühbronzezeit eröffnen, stellen die Fachwelt vor eine enorme Astronomie und den damit verbundenen religiös-mythologischen Vor- Herausforderung, die eine kritische Revision der vergangenen Forschun- stellungen. Dabei soll zunächst das Bildprogramm der Himmelsscheibe gen nötig macht. Seit drei Jahren widmen sich Archäologen, Astronomen von Nebra erläutert und in einem zweiten Schritt dessen Ursprüngen und Naturwissenschaftler der Universitäten Halle, Jena, Tübingen, Mün- nachgegangen werden. Betrachtet werden frühe Kalenderformen sowie je- chen und Bochum sowie Forscher des Landesamtes für Denkmalpflege ne vorgeschichtlichen Heiligtümer Europas, die neben kultischen Funk- und Archäologie in Halle diesem Themenkomplex (siehe hierzu die Web- tionen dem Observieren und Ausrichten dienten und solare beziehungs- site: www.for550.uni-halle.de). Die jeweiligen Forschungsziele der fünf- weise im weitesten Sinn astronomische Bezüge erkennen lassen. Abschlie- zehn Teilprojekte, von denen acht mit Mitteln der DFG realisiert werden, ßend soll der Wandel vom religiös-mythologischen Symbol zum personi- sind äußerst komplex und vielschichtig. Allerdings geht es dabei weniger fizierten Sonnengott thematisiert werden. um den Hort von Nebra selbst (Abb. 1) als vielmehr um den zivilisatori- DIE HIMMELSSCHEIBE DIE SONNE UND IHRE BEDEUTUNG dentliche kulturgeschichtliche Bedeutung und die neuen Perspektiven, die 94 Abb. 1 Der Hortfund von Nebra (nach Meller 2004, Foto: Juraj Lipták) schen Kontext, dem die Funde entstammen. Historische Perioden werden ren Bildes einfach überdeckt, während links ein Stern nach innen verscho- nicht allein durch Präsenz oder Absenz einzelner Gegenstände, Rohstoffe ben wurde. Dies wirkte sich ungünstig auf die ausgewogene Bildkomposi- oder Technologien definiert; wirtschaftliche, gesellschaftliche und kul- tion der ersten Phase aus. Technische Details in der Ausführung der Tau- tisch-religiöse Aspekte wirken ebenso prägend wie die natürliche Umwelt. schierkanäle – besonders gut zu beobachten bei dem versetzten Stern – Eine zentrale Aufgabe der Forschergruppe besteht deshalb darin, die struk- sind wohl darauf zurückzuführen, dass ein zweiter, offenbar weniger ver- turellen Gründe offenzulegen, die am Ende des 3. Jahrtausends v. Chr. zu sierter Toreut diese Veränderungen vorgenommen hat. In einer dritten den epochalen Veränderungen führten, welche die Frühbronzezeit in ih- Phase wurde am unteren Rand ein weiterer Bogen eingefügt. Als einziges rem Kern ausmachen. Motiv weist dieser eine Binnenverzierung auf, während die Längskanten 1 außen von kurzen fiederförmigen Kerben begleitet werden. Da der Bogen Im Rahmen des hier gestellten, die Beiträge übergreifenden Themas »Die in das vorhandene Bild hineingezwängt wirkt, dürfen wir vermuten, dass Sonne – Brennpunkt der Kulturen der Welt« werden wir uns ausschließlich es dem Toreuten weniger um eine ästhetische als vielmehr um eine inhalt- auf die Himmelsscheibe von Nebra konzentrieren. liche Veränderung der Scheibe ging. In der vierten Phase wurde der Scheibenrand ohne Rücksicht auf vorhandene Motive in regelmäßigen Abständen durchlocht. Die heutige Phase entspricht dem Zustand der Scheibe bei DIE PHASEN DER HIMMELSSCHEIBE VON NEBRA der Deponierung auf dem Mittelberg, als der linke Randbogen entweder verloren oder absichtlich entfernt wurde. Überzeugend bestätigen ließen Die Himmelsscheibe von Nebra, wie sie heute im renovierten Landesmu- sich die ersten vier Phasen aufgrund von Materialanalysen des jeweils ver- seum Halle in der völlig neu konzipierten Dauerausstellung zu sehen ist, wendeten Goldes (Abb. 3). Mond/Sonne, Sichel und Sterne zeigen eine markiert den vorläufigen Endpunkt einer langen Odyssee. Es handelt sich sehr einheitliche Silber/Zinn-Signatur, während die beiden seitlichen um eine annähernd kreisrunde, kaltgeschmiedete Bronzescheibe von 31 Randbögen sowie der versetzte Stern durch zinnreicheres Gold auffallen bis 32 cm Durchmesser, die im nunmehr restaurierten Zustand ein Ge- und der untere Bogen durch silberarmes. Der zeitliche Abstand der einzel- wicht von 2050 Gramm aufweist. Die von Ernst Pernicka, Universität nen Fertigungsphasen kann indes nicht genauer bestimmt werden. Der Tübingen, im Rahmen der Forschergruppe durchgeführten Analysen deu- heutige Zustand lässt ferner Spuren der Bodenlagerung und vor allem ten an, dass sie aus einem Kupfer hergestellt wurde, das aus dem Erz der auch der unsachgemäßen Bergung erkennen. Lagerstätte des Mitterbergs im Salzburger Land gewonnen und zu einer weichen Bronze mit nur 2,5 % Zinn verarbeitet worden war. Die ikonographischen Veränderungen der Himmelscheibe gehen mit einer ebenfalls veränderten Ikonologie einher (Abb. 4). Die zunächst von Es ist das Verdienst von Harald Meller, Landesamt für Denkmalpflege und dem Astrophysiker Wolfhard Schlosser, Universität Bochum, vorgeschla- Archäologie, Halle/Saale, festgestellt und nachgewiesen zu haben, dass gene Interpretation der ersten Phase überzeugt durch ihre Einfachheit. sich das Bildprogramm in mehrere Herstellungs- und Nutzungsphasen Lediglich die sieben enger gruppierten Sterne sollen die Plejaden und so- untergliedern lässt (Abb. 2). Nach Meller war die Scheibe bis zu ihrer De- mit ein konkretes Sternbild wiedergeben. Dies scheint umso wahrschein- ponierung am Ende der Frühbronzezeit kurz vor 1600 v. Chr. mehrfach licher, als die Plejaden bereits in vielen frühen Kulturen nachweislich zu umgearbeitet worden. In einer ersten, vermutlich noch in die klassische kalendarischen Zwecken genutzt wurden. Im frühbronzezeitlichen Sach- sen-Anhalt verschwand das Sternbild ab dem 10. März in Verbindung mit wurde in einem frappierend nüchternen, nahezu realistischen Stil ein dem jungen Mond und ab dem 17. Oktober in Verbindung mit dem Voll- Nachthimmel dargestellt. Diese Darstellung ist die weltweit früheste Dar- mond innerhalb weniger Tage in der Dämmerungszone der Abendröte stellung ihrer Art. Der Eindruck eines Sternenhimmels verstärkt sich, wenn (Abb. 5). Diese wichtigen Tage markieren kalendarisch Beginn und Ende wir die heutige grüne Patina des Hintergrundes durch die ursprünglich des bäuerlichen Jahres, das heißt Zeitpunkte, die insbesondere für eine dunkelauberginefarbene, feuerpatinierte Oberfläche ersetzen. Insgesamt von der eigenen Nahrungsmittelproduktion abhängige Bevölkerung von 32 kleine, aus Goldblech aufgelegte Scheiben deuten Sterne an, eine grö- existenzieller Bedeutung waren. Auf der Himmelsscheibe von Nebra ist ßere Scheibe links und eine Sichel rechts stellen entweder den Vollmond weltweit erstmalig das Wissen um eine Verbindung zwischen den Plejaden oder die Sonne sowie eine Neumondsichel dar. Bis auf sieben enger grup- und dem Mondlauf zur kalendarischen Festlegung der Eckpunkte des bäu- pierte Sterne sind alle restlichen scheinbar wahllos über den Himmel ver- erlichen Jahres bildlich festgehalten. Dieses Wissen ist in historischer Zeit streut. Befestigt wurden die Goldbleche mit einer für die Zeit bislang ein- vielfach belegt: zigartigen Technik, bei der die Ränder des Goldblechs in schmale, in die Scheibe gestochene Tauschierkanäle getrieben wurden. In einer zweiten Phase wurden die beiden seitlichen Randbögen appliziert, von denen nur noch der rechte erhalten ist. Dabei hat man rechts zwei Sterne des primä- DIE SONNE UND IHRE BEDEUTUNG DIE HIMMELS Frühbronzezeit zu datierenden Phase – wahrscheinlich um 1800 v. Chr. – 96 Abb. 2 Die Phasen der Himmelsscheibe von Nebra (nach Meller 2004, Foto: Juraj. Lipták) SCHEIBE Abb. 3 Die Analytik der Goldapplikationen auf der Himmelsscheibe von Nebra (nach Pernicka in Meller 2004) Abb. 4 Der Bedeutungswandel der Himmelsscheibe von Nebra Abb. 5 Die Bedeutung der Plejaden in der ersten Phase der Himmelsscheibe von Nebra (nach Schlosser in Meller 2004) Abb. 6 Das lunare und das solare Jahr (nach Hansen in Menghin 2008) DIE HIM Abb. 8 Die Babylonische Schaltregel im Spiegel der Darstellung auf der Himmelsscheibe von Nebra (nach Hansen 2007) Abb. 10 Der solare Bezug der zweiten Phase der Himmelsscheibe von Nebra (nach Schlosser in Meller 2004, Schlosser 2005) Abb. 9 Der Schaltcode zwischen dem lunaren und solaren Jahr auf der Himmelsscheibe von Nebra (nach Hansen 2007) DIE SONNE UND IHRE BEDEUTUNG Abb. 7 Die Mondsichel der Himmelsscheibe von Nebra (nach Hansen 2007) 98 WENN DAS GESTIRN DER PLEJADEN, DER ATLASTÖCHTER, EMPORSTEIGT, DANN BEGINNE DIE ERNTE, DOCH PFLÜGE, WENN SIE HINABGEHN; SIE SIND VIERZIG NÄCHTE UND VIERZIG TAGE BEISAMMEN EINGEHÜLLT, DOCH WENN SIE WIEDER IM KREISENDEN JAHRE 1 LEUCHTEND ERSCHEINEN, ERST DANN BEGINNE Folgt man diesen Vorstellungen, so könnte der Beginn der zweiten Phase DIE SICHEL ZU WETZEN: ALSO IST ES BRAUCH BEI FELDBAU […]. auf eine Übermittlungslücke zurückzuführen sein. Möglicherweise ver- [Hesiod, Werke und Tage, V. 383-388] MMELSSCHEIBE starb der letzte Wissende, ohne seinen Nachfolger initiiert zu haben. Der neue ›Hüter‹ der Scheibe hielt zwar ein mächtiges Symbol in Händen, nur verfügte er nicht mehr oder nur beschränkt über den Schlüssel, dieses zu Die jüngst von dem Astronomen Rahlf Hansen, Planetarium Hamburg, entziffern. Die von ihm veranlassten Umarbeitungen machen deutlich, vorgeschlagene Auslegung setzt dagegen ein wesentlich komplexeres as- dass er vor allem die lunisolare Kalenderformel nicht mehr beherrschte, tronomisches Wissen voraus, das unter anderem für die Synchronisierung denn mit der Anbringung der Randbögen veränderte er die Anzahl der der beiden konkurrierenden Kalenderzyklen des Mondes mit 354 Tagen Sterne. Dabei ist unklar, ob er auch den »MUL.APIN«-Code nicht mehr und der Sonne mit 365 Tagen verwendet werden konnte (Abb. 6). Zu- verstanden hat. Sicher ist indes, dass die Scheibe mit diesen Veränderun- nächst fiel ihm auf, dass die dargestellte Sichel einem circa vier Tage alten gen einen eindeutig solaren Bezug erhalten hat. Es war erneut Schlosser, Mond entspricht (Abb. 7). Die Plejaden in Verbindung mit einem Vierta- der erkannt hat, dass die beiden seitlichen Randbögen den Bogen des jähr- gemond finden ihrerseits Erwähnung in den sogenannten »MUL.APIN«- lichen Sonnenlaufs am Horizont darstellen (Abb. 10). Um dies nachzu- Texten aus dem 8. Jahrhundert v. Chr., bei denen die Forschung allerdings vollziehen, muss man sich einen auf dem Rücken liegenden, senkrecht davon ausgeht, dass sie eine späte Niederschrift des zum Teil bereits mehr nach oben blickenden Betrachter vorstellen. Das Sichtfeld ist auf den Him- als tausend Jahre alten astronomischen Wissens Babyloniens darstellen. mel über ihm beschränkt, während er die Erde, auf der er liegt, nur als Ho- Die babylonische Schaltregel, die zur Etablierung eines dauerhaft funktio- rizontlinie wahrnimmt. Die Himmelsscheibe gibt demnach eine für die nierenden lunisolaren Kalenders anzuwenden ist, lässt sich nach Hansen Zeit verblüffend nüchterne Darstellung des Himmels wieder. Offenbar auf folgenden Wortlaut reduzieren (Abb. 8): wurde die Welt als Scheibe verstanden, über der sich der Himmel wölbt. Um die Scheibe allerdings richtig zu lesen, muss man sie senkrecht über Ist im Frühjahrsmonat Nissanu [Jahresbeginn] die Neumondsichel bei sich halten. Dann sind – wie bei einer modernen Sternenkarte – die Kardi- den Plejaden sichtbar, haben wir ein normales Jahr. Ist indes eine dickere, nalpunkte gespiegelt wiedergegeben: Der östliche Horizont befindet sich vier Tage alte Sichel sichtbar, muss ein Schaltmonat, d.h. ein 13. Mondmo- links, der westliche rechts. Die Horizontbögen der Sonne geben jeweils ei- nat eingeschoben werden. nen Winkel von circa 82° an. Dies entspricht dem Winkel im flachen Gelände zwischen dem Aufgangspunkt der Sonne zur Wintersonnenwende Hansen glaubt jedoch, der Scheibe noch eine weitere Schlüsselbotschaft und der Sommersonnenwende südlich von Magdeburg und nördlich von entlocken zu können. Wenn man nämlich die sieben Sterne der Plejaden Halle. Diese Interpretation der beiden Goldapplikationen wird zusätzlich und die restlichen Sterne zusammenzählt, erhält man die Zahl 32, der er dadurch gestützt, dass am unteren Scheibenrand der Winkel zwischen den noch den Vollmond als Symbol des lunaren Zyklus hinzufügt. Zusammen Bögen 5°-6° größer ist als oben. Die Lichtbrechung in der Atmosphäre be- sollen sie 33 Mondjahre versinnbildlichen, während die Mondsichel als wirkt in der observierbaren Realität exakt den gleichen Winkelunter- letztes Motiv der ersten Phase ein Mondschaltjahr darstellt, das folgen schied. Dies ermöglicht uns, die Scheibe zu norden. Die eingenordete muss, um einen Gleichklang mit 33 Sonnenjahren zu erreichen (Abb. 9). Scheibe konnte so als astronomisches Instrument zur Bestimmung der Beide Interpretationen setzen bereits komplexe astronomische Kenntnis- Winter- und Sommersonnenwenden verwendet werden. Darüber hinaus se voraus, die denjenigen des Zweistromlandes keineswegs nachstehen. legt das Bildprogramm der Himmelsscheibe ein eindeutiges Zeugnis dafür Dieses Wissen wurde als Code memogrammartig auf der Himmelsscheibe ab, dass man in Mitteldeutschland bereits während der ersten Hälfte des festgehalten. Harald Meller vermutet, dass ein solches Wissen nur von ei- 2. Jahrtausends v. Chr. über ein Weltbild verfügte, wie es erst wesentlich nem sehr begrenzten Personenkreis, wenn nicht sogar nur von einer Per- später, beispielsweise bei Thales von Milet (624-546 v. Chr.) belegt ist. son verstanden wurde und dementsprechend auch nur einem Auserwählten weitergegeben wurde beziehungsweise den wenigen, die als Hüter, Bewahrer und Harmonisierer der beiden kosmischen Ordnungen galten und über einen enormen gesellschaftlichen Einfluss verfügt haben dürften. Sehr wahrscheinlich handelt es sich dabei um dieselbe Elite, die auch die politische und wirtschaftliche Macht innehatte. Abb. 11 Rechts: Ausschnitt der Barke in der dritten Phase der Himmelsscheibe von Nebra (nach Meller 2004); links oben: Gefäß der Nakgade II-Kultur, Ägypten (nach Mellink/Filip 1974, Abb. 203Kruta 2002), links unten: frühkykladische Schiffsdarstellung aus Philakopi, Griechenland (nach Meller 2004) DIE HIMMELS Horizont in den Fluten versinkt und aus den Fluten wieder auftaucht, mythologische Dimension erweitert, wobei ungewiss ist, ob die ursprüng- nicht aber in Mitteldeutschland. lichen astronomischen Bedeutungen damit irrelevant beziehungsweise der Unkenntnis preisgegeben wurden. In Mellers Auslegung stellt der drit- Als zweidimensionale Darstellung des gewölbten Firmaments oder als as- te, seltsam gefiederte Bogen im Süden eine Barke dar, wobei die Fiederung tronomisches Messinstrument musste die Scheibe in den beiden ersten die Paddel repräsentieren und die doppelte Innenrippe Planken darstellen Phasen horizontal betrachtet beziehungsweise verwendet werden. Dies soll. Derart bananenförmig gebogene Barken sind in Ägypten seit der verändert sich spätestens mit der vierten Phase. Die randliche Durchlo- Naqade II-Zeit ikonographisch überliefert und kommen später als Sonne- chung diente zur Befestigung auf einer harten Unterlage. Am ehesten vor- barke des Gottes Ra vor (Abb. 11). Die beste typologische Parallele kommt stellbar ist die Umwandlung der Scheibe von einem astronomischen Ge- indes aus der südlichen Ägäis: Die von Meller angeführte frühkykladische genstand in ein reines Kultsymbol, das wie eine Standarte vorgezeigt wer- Scherbe aus Philakopi ist neben der Form vor allem hinsichtlich der Fiede- den konnte. Derartige Sonnenstandarten sind vielfach auf zahlreichen rung der Paddel gut mit Nebra zu vergleichen. In der Ägäis stellt diese schwedischen Felsbildern belegt. (Abb. 12) Diese Sonnenscheiben besit- Schiffsform eher eine Sonderform dar, da alle übrigen Schiffsdarstellun- zen eine Art Griff oder einen Schaft, mit dem sie bei Umzügen herumge- gen – etwa auf den sogenannten Kykladen-Pfannen – ganz ähnlich wie tragen und am Kultplatz oder auf dem Boot aufgestellt werden können. jene der nordischen Bronzezeit Langschiffe mit kastenförmig geradem Die Scheibe wird dadurch zu einem weithin sichtbaren Zeichen der Prä- Schiffskörper wiedergeben. Zahlreiche Texte und Darstellungen im ägyp- senz ihres Besitzers beziehungsweise Trägers. Ein besonders schönes Bei- tischen Raum zeigen, dass man die Vorstellung hatte, ein Schiff transpor- spiel einer solchen Standarte stammt vermutlich aus Jütland und befindet tiere den Sonnengott am nächtlichen Horizont von Westen zum Auf- sich heute im Nationalmuseum in Kopenhagen. Hier wird die Sonnen- gangspunkt im Osten. Ähnliches Gedankengut finden wir ungefähr seit scheibe im Innern durch eine Bernsteinlinse gebildet, die ein Kreuz erken- der Mitte des 2. Jahrtausends v. Chr. auf zahlreichen schwedischen Fels- nen lässt, wenn man sie gegen das Licht hält. Einerseits handelt es sich um bildern und auf Rasiermessern der nordischen Bronzezeit wieder, wobei schlichte Durchbohrungen, die zur Fixierung der Linse mittels Bronzestif- hier in der Regel die zu transportierende Sonne als Scheibe und nicht als ten angebracht wurden, zum anderen stellt das Radkreuz ein unmissver- personifizierter Gott dargestellt ist. Demnach spielt auch in der europäi- ständliches Symbol des Sonnenrades dar. Auch im Vorderen Orient sind schen Bronzezeit das Schiff eine wichtige Rolle als Transportmittel, wenn Standarten mit aufgesetzten Sonnenrädern, geflügelten Sonnen oder es darum geht, die Bewegung der Sonne am Firmament mythologisch zu Mondsicheln besonders für das 2. Jahrtausend v. Chr. belegt, wie zahlrei- erklären. Es steht außer Zweifel, dass sich solche Vorstellungen nur an che Rollsiegelabrollungen zeigen. der Küste entwickelt haben können, da nur dort die Sonne scheinbar am DIE SONNE UND IHRE BEDEUTUNG 1 In der dritten Phase wird die Himmelsscheibe nach Meller um eine rein 100 Abb. 12 Sonnenstandarten der nordischen Bronzezeit (nach Meller und Kaul in Meller 2004) SCHEIBE MACHT UND WISSEN – DIE FRÜHBRONZEZEITLICHEN ELITEN Die Gräberarchäologie fasst in der zweiten Hälfte des 3. Jahrtausends v. Chr., vor allem aber in der ersten Hälfte des 2. Jahrtausends v. Chr. einen kleinen Personenkreis, der sich durch eine Konzentration von Macht und Das in den ersten vier Phasen in kodifizierter Form dargestellte Wissen Reichtum auszeichnet und durch sein gesteigertes Prestige- und Statusge- über das Funktionieren und Harmonisieren der das Leben maßgeblich be- baren auffällt. Hinweise auf dynastisches Verhalten, insbesondere durch stimmenden universellen Zyklen war sicherlich nur einer religiösen Elite die Vererbbarkeit von Macht und Status, verleiten dazu, diesen Eliten für zugänglich. Prädestinierte sie dieses geheime Wissen zugleich zur politi- Europa erstmalig den Rang von Fürsten zuzusprechen. schen Führung? War Wissen Macht? Die mit der Kupfermetallurgie einhergehenden gesellschaftlichen Veränderungen werden zum einen in Spezia- Ungleiche Gesellschaftssysteme waren nur schwer zu stabilisieren, es sei lisierungsprozessen (Bergarbeiter, Metallurgen und Schmiede, Händler denn, man begründete den Führungsanspruch religiös beziehungsweise usw.) fassbar, zum anderen in einer im Vergleich zur Jungsteinzeit drama- mythologisch. Einen Hinweis auf eine Verbindung zwischen politischer tisch gesteigerten vertikalen Hierarchie. Vor allem die Organisation der und religiöser Führung liefert der Fundkontext der Himmelscheibe von komplexen Produktionsabläufe, der weitreichenden Handelsnetzwerke – Nebra. Die mit der Scheibe vergesellschafteten Funde geben ein eindrucks- Kupfer und vor allem Zinn kommen nur in wenigen Regionen Europas volles Zeugnis über den Rang und Status ihres Besitzers. Dieser nannte vor –, der Zentralisierung und Distribution der Produktion, aber auch der zwei hervorragend gearbeitete Kurzschwerter sein Eigen, die zweifelsohne Umverteilung der landwirtschaftlichen Überproduktion bedurften einer zum Besten des derzeit in Europa waffen- und prunktechnisch Herstell- effizienten politischen Führung. Die in Mitteldeutschland bezeugten baren gehören. Ferner besaß er zwei Beile, einen schmalen Knickrand- Importe zeigen Einflüsse aus dem nordischen sowie dem atlantischen meißel und zwei Spiralarmringe. Sieht man von der Himmelsscheibe ab, Bereich und solche aus dem Karpatenbecken. Die Funde von Nebra selbst so handelt es sich um eine Ausstattung, wie sie wenige Generationen wie auch die vielen weiteren aus der Makroregion lassen weitreichende, zuvor, das heißt während der klassischen Frühbronzezeit, für die soge- gut organisierte Handelsbeziehungen erkennen. Die beiden Schwertklin- nannten Prunkgräber typisch war. Besonders charakteristisch ist eine gen gehören typologisch ins Karpatenbecken, auch wenn ihre goldenen Über- oder Doppelausstattung mit Statussymbolen – vor allem mit Griffverzierungen sowie die Goldtauschierung der Klingen bislang singu- Waffen –, wie sie auch für Nebra fassbar ist. lär sind. Auf noch weiterreichende Verbindungen verweist unter anderem die Lanze aus dem Hortfund von Kyhna in Sachsen, die – wenngleich aus Die frühesten Bestattungen dieser Art in Europa sind mit der Glockenbe- einheimischem Material hergestellt – auf kykladische Formen der Früh- cherkultur (letztes Drittel des 3. Jahrtausends v. Chr.) zu verbinden. Wie bronzezeit zurückzuführen ist. Andererseits verweist die Scheibe selbst auf das vor kurzem im Süden von Stonehenge entdeckte »Grab des Bogen- geistig-religiöse Einflüsse aus dem östlichen Mittelmeer. Der Austausch schützen von Amesbury« belegt, handelt es sich dabei nicht selten um Me- von Gütern, Symbolen und religiösen Vorstellungen setzt ein entwickeltes tallurgen. In Mitteldeutschland und Westpolen sind solche Bestattungen Wegenetz voraus. allerdings erst in der klassischen Aunjetitzer Kultur (20.-18. Jahrhundert 2 DIE SONNE UND IHRE BEDEUTUNG Abb. 13 Originaldokumentation des Leubinger Fürstengrabes aus dem Jahr 1877 (nach Bertemes in Meller 2004) 102 2 v. Chr.) geläufig. Aufwendige Grabeinbauten, beindruckende, die Land- bis zum Tod mit dem Übergang in eine andere Welt, ins Jenseits reicht. Die schaft dominierende Grabhügel, Tote, die – entgegen der damals üblichen wahrnehmbare Welt erscheint als in ständiger Bewegung begriffen. Der zu Hockerlage – auf dem Rücken ausgestreckt sind, sind neben der reichen beobachtende Lauf der Zyklen setzt immer wiederkehrende, dynamische Ausstattung ein unverkennbares Zeichen dafür, dass sich diese Eliten auch Kräfte voraus. In die allgegenwärtigen Kreisläufe eingebunden, ist es den im Tod und über den Tod hinaus von der normalen Bevölkerung absetzen Menschen ein Urbedürfnis, diese zu begreifen und in ihrer gegenseitigen wollten. Der bereits 1877 ausgegrabene Großgrabhügel von Leubingen Abhängigkeit zu verstehen sowie ihre Abläufe vorauszusehen, um das ei- vermag einen besonders guten Eindruck von einer derartigen Bestattung gene Handeln danach zu planen. zu liefern (Abb. 13). Interessanterweise sind für die späte Frühbronzezeit (17. Jahrhundert v. Chr.) und somit auch für die Zeit der Vergrabung der Hinter den natürlichen Abläufen vermutet man treibende Kräfte, die im Nebra-Funde bislang keine derartigen Gräber überliefert. Vermutlich ist Verborgenen agieren. Deshalb liegt eine wesentliche Aufgabe früher My- dieses Fehlen nicht auf eine Forschungslücke zurückzuführen, sondern thologien darin, Erklärungen für das zu liefern, was sich der Wahrneh- eher auf tiefgreifende Veränderungen im Totenritual, die offenbar eine mung und dem Verstand entzieht. Die Archäologie lehrt uns, dass es zu al- Zurschaustellung von Macht, Prestige und Reichtum in den Gräbern un- len Zeiten Menschen gegeben hat, die über das Wissen und über spezielle tersagten – eine Art Luxusgräberverbot der Frühbronzezeit. Dass es Fürsten Techniken zu verfügen glaubten, um mit den verborgenen Kräften Verbin- nach wie vor gegeben hat, zeigen deutlich die Horte dieser Zeit. Nicht we- dung aufzunehmen und als Mittler zwischen dieser und der anderen Welt nige Prähistoriker sehen in diesen Horten Ausstattungshorte für das Jen- zu fungieren. Menschen mit diesen besonderen Fähigkeiten gelangten zu seits. Im Hortfund von Nebra wurden weltliche Insignien der Macht zu- hohem gesellschaftlichen Ansehen. Mit dem Wissen um die diversen sammen mit der Himmelsscheibe, einem über mehrere Generationen Kreisläufe und ihre gegenseitigen Abhängigkeiten verband sich der Wille tradierten Symbol der geistigen und religiösen Kraft der Dynastie bestattet. beziehungsweise die für die Gesellschaft so wichtige Aufgabe, diese auch Hatte die Scheibe ihre Bedeutung und ihre Symbolkraft verloren? Hatte zu kontrollieren oder zu beeinflussen sowie für das Gleichgewicht der sich die gesellschaftliche Stellung ihres Besitzers verändert? Oder müssen Kräfte Sorge zu tragen, das durch menschliches Handeln und Eingreifen in wir tiefgreifende religiöse, kulturelle und machtpolitische Veränderungen die natürlichen Abläufe bedroht werden konnte. Offensichtlich war die in der Gesellschaft annehmen, die zur rituellen Entsorgung der Gegen- Angst vor dem Stillstand, vor dem Zusammenbrechen der natürlichen stände geführt haben? Leider erlaubt der heutige Kenntnisstand noch Zyklen, vor dem Verharren in der Finsternis der Nacht, vor dem Stillstand keine Antworten auf diese spannenden Fragen. der Sonne und des Mondes in der Kälte des Winters allgegenwärtig. Aus zahlreichen ethnographischen Beispielen wissen wir, dass besonders an DIE HIMMELSSCHEIBE Sonnenwendtagen die Angst vor dem Stillstand der Sonne und dem Zusammenbrechen des Kosmos virulent wurde. Durch Rituale und Opferun- II. DIE URSPRÜNGE DES BILDPROGRAMMS DER HIMMELSSCHEIBE VON NEBRA PANTA RHEI gen, die allerdings nur dann ihre Wirkung entfalten konnten, wenn sie auch punktgenau zur Winter- oder Sommersonnenwende abgehalten wurden, suchte man ihrer Herr zu werden und den Kreislauf der Sonne am Leben zu erhalten. Die Tage der Winter- und Sommersonnenwende dürf- Das Bildprogramm der Himmelsscheibe von Nebra setzt systematische, ten demnach in der Urgeschichte eine eminent wichtige mythologische über mehrere Generationen durchgeführte Himmelsbeobachtungen so- Rolle gespielt haben. Die frühe Astronomie des Zweistromlandes zeigt wie das Verstehen komplexer Kausalitätszusammenhänge voraus. Am An- uns, dass man außerdem Ereignisse wie Mond- und Sonnenfinsternisse, fang stehen wohl jene das Leben bestimmenden natürlichen Kreisläufe, die als die natürlichen Zyklen störende und daher unheilbringende Ereig- denen sich die Menschen täglich ausgeliefert sehen, und die sie daher seit nisse angesehen wurden, durch Vorhersage und rituelle Begleitung kon- Urzeiten bewusst wahrgenommen haben. Es handelt sich um den Wandel trollierbar machen wollte. der Jahreszeiten – Klima und Vegetation –, den Wechsel von Tag und Nacht, die saisonalen Wanderungen des Jagdwilds, den Flug der Zugvögel, Bereits früh dürfte auch die latente Disharmonie zwischen den Kreisläufen den Takt der Gezeiten, den Lauf der Sonne, des Mondes und der Sterne so- der Sonne und des Mondes mit den unmittelbar zu beobachtenden Aus- wie die regelmäßige Wiederkehr bestimmter Himmelsphänomene wie wirkungen auf die Natur und das Leben des einzelnen Menschen eine zum Beispiel der Kometen. Bei einer stark bäuerlich geprägten Gesell- wichtige Rolle gespielt haben. Die Suche nach Mitteln und Wegen zur Har- schaft – und eine solche kann noch für die Zeit der Himmelsscheibe re- monisierung beider Systeme beziehungsweise zur Harmonierung des so- konstruiert werden – sind zudem die wirtschaftlichen Kreisläufe, vor allem laren und lunaren Kalenders, wie sie weltweit erstmalig auf der Himmels- die bäuerlichen Produktionszyklen für das persönliche Überleben sowie scheibe von Nebra ikonographisch festgehalten ist, entspricht wahr- für das Überleben der Gemeinschaft von existenzieller Bedeutung. Die scheinlich einem grundlegenden menschlichen Bedürfnis. Anzeichen für Existenz wird als Kreislauf verstanden, der von der Geburt über das Leben andere frühe Kalenderformen unterstützen diese Annahme. Die Himmelsscheibe von Nebra gibt zum ersten Mal in der europäischen fertes Muster aus regelmäßigen Spalten und gegliederten Zeilen trägt, das Urgeschichte konkrete Erklärungsversuche für die wichtigen, das mensch- nach meinem Dafürhalten durchaus kalendarisch interpretiert werden liche Leben bestimmenden Zyklen von Tag und Nacht und für den Jahres- kann (Abb. 15). Als erstes Beispiel eines lunisolaren Kalenders wird die zeitenwechsel. In dem am Nachthimmel zwischen den Horizonten des 2,36 m breite, verzierte Steinplatte Nr. 69 aus dem bekannten und mächti- Sonnenaufgangs und Sonnenuntergangs vorbeiziehenden stark stilisier- gen Hügel Meath-Newgrange in Irland angesehen (Abb. 16). Der Eingang ten Schiff ist höchstwahrscheinlich das aus späterer Zeit bekannte Bild- in dieses Megalithgrab vom Ende des 4. Jahrtausends v. Chr. war so ausge- symbol der Sonnenbarke zu erkennen. Auch wenn sich der exakte Inhalt richtet, dass ausschließlich während des Sonnenaufgangs zur Winterson- der dahinter verborgenen Mythen und religiösen Vorstellungen nicht of- nenwende Lichtstrahlen durch den langen Gang tief ins Innere vordran- fenbart, fühlt man sich an den ägyptischen Sonnengott erinnert, der nach gen und die zentrale Grabkammer erleuchteten. Außer dieser bemerkens- Sonnenuntergang in einer Barke über den Nachthimmel bis zum Hori- werten Ausrichtung auf die Wintersonnenwende deuten zahlreiche an den zont des Sonnenaufgangs segelt. Auf dieser Grundlage erlangen die einzel- Steinplatten angebrachte Sonnen- und Mondsymbole auf einen astrono- nen, vermehrt ab der Glockenbecherzeit belegten Sonnen- und Mond- misch-mythologischen Bezug der Abbildungen hin. Die 29 sichel- und symbole sowie die so genannten Sonnenscheiben der nordischen Bronze- kreisförmigen, um die zentrale Schlangenlinie herum angeordneten Moti- zeit eine völlig neue Qualität. In ihrer Komplexität eröffnet die Himmels- ve der Platte (Nr. 69) geben nach Martin Brennan den Ablauf eines Mond- scheibe von Nebra also nicht nur weitreichende religionsgeschichtliche monats wieder. Die Schlange selbst soll zweimal 31 Mondmonate und so- Einblicke in die Welt Mitteleuropas um 1600 v. Chr., sondern sie wirft mit exakt fünf tropische Jahre darstellen. Erst nach Ablauf dieser Zeit läuft auch im Rückblick neues Licht auf den Beginn der Bronzezeit im 3. Jahr- das Mondjahr wieder konform mit dem Sonnenjahr, und die Disharmo- tausend v. Chr. Es deutet sich an, dass der Ursprung dieser religiösen Vor- nie zwischen beiden Kreisläufen beginnt von neuem. Stimmt die Ausle- stellungen eher im Vorderen Orient sowie in Ägypten als in Mitteleuropa gung von Brennan, so haben wir im 4. Jahrtausend v. Chr. zum ersten Mal selbst zu suchen ist. Der Hortfund von Nebra bezeugt, dass in dieser Zeit einen Hinweis auf die zweite Interpretation der ersten Phase der Himmels- neben den sporadisch belegten ostmediterranen Handelswaren auch geis- scheibe von Nebra nach Hansen. Auch für die spätere Zeit hat man das tige und religiöse Konzepte sowie neue Techniken nach Mittel- und Nord- Fundgut der Bronzezeit auf mögliche lunisolare Kalender durchsucht. Da- europa gelangt sind. bei hat man sich vor allem mit den Verzierungen auf getriebenen Prunkgefäßen aus Bronze oder Gold sowie mit den Prunkschilden auseinanderge- DIE HIMMELSSCHEIBE setzt. Die lunisolare Kalenderdeutung der getriebenen Buckelverzierun- FRÜHE KALENDER gen auf spätbronzezeitlichen Kesseln, Amphoren und Rundschilden im Sinn lunisolarer Kalender blieb allerdings nicht ohne Widerspruch. Auf Im November 2006 fand im Museum für Vor- und Frühgeschichte in Ber- breitere Akzeptanz stößt dagegen die von Wilfried Menghin vorgeschlage- lin eine Tagung mit dem Thema »Astronomische Orientierung und Kalen- ne lunisolare Deutung des Berliner Goldhutes, die Hansen inzwischen der in der Vorgeschichte« statt. Die nunmehr veröffentlichten Tagungsbei- auch von astronomischer Seite bestätigen konnte (Abb. 17). 2 träge liefern eine breite Palette an Beispielen für frühe Kalender. Als eine der frühesten Kalenderdarstellungen erkennt die Forschung eine verzierte Knochenplatte aus einer Aurignacien-Fundschicht des Abris von OBSERVIEREN, AUSRICHTEN, OBSERVIEREN zierung auf der Vorderseite des Fundstücks wurde von Alexander Mars- Es stellt sich die Frage, ob Schlossers Deutung der Horizontbögen am Rand hack als Darstellung des Mondzyklus beziehungsweise von 2,5 Mond-Mo- der Himmelsscheibe von Nebra durch weitere archäologische Befunde ge- naten gedeutet. Ohne diese Auslegung völlig in Abrede stellen zu wollen, stützt werden kann. Die Realisation der Bögen setzt die genaue Kenntnis sei vor Überinterpretationen gewarnt: Nicht jede Punkt- oder Strichfolge des jährlichen Laufs der Sonnenauf- und Sonnenuntergangspunkte am auf jungpaläolithischen Gegenständen oder Höhlen- und Felswänden Horizont im südlichen Sachsen-Anhalt voraus. Außerdem muss der Her- muss zwingend eine kalendarische Funktion gehabt haben. Im Gegensatz steller beziehungsweise der Auftraggeber und Nutzer der Scheibe die Fä- zur Himmelsscheibe von Nebra fehlt bei allen diesen Beispielen ein un- higkeit besessen haben, diesen Lauf vom Beobachtungspunkt aus als Win- missverständlicher ikonologischer Bezug zur Sonne, zum Mond oder zu kel zu verstehen und zu abstrahieren. Sternbildern. Dagegen ist unbestritten, dass Zahlen beziehungsweise das Zählen bereits früh eine symbolische, vielleicht sogar magische oder mys- Waren die Menschen der Frühbronzezeit überhaupt zu solchen komple- tische Bedeutung gehabt haben dürften. xen geistigen Abstraktionsprozessen fähig? Auf alle Fälle ist die räumliche In diesen Zusammenhang gehört möglicherweise auch ein bislang wenig Wahrnehmung der Welt beziehungsweise des Lebensraumes eine unab- beachtetes, spätneolithisches tönernes Ofenmodell aus Čardako bei Slati- dingbare Voraussetzung dafür. Damit verbunden ist die Notwendigkeit, no in Bulgarien (5. Jahrtausend v. Chr.), dessen Unterseite ein nicht entzif- sich in diesem Lebensraum zu orientieren, und zwar unabhängig von rein DIE SONNE UND IHRE BEDEUTUNG Blanchard in Frankreich (Abb. 14). Die eingekerbte schlangenförmige Ver- 104 Abb. 14 Der jungpaläolithische »lunare Kalender« aus dem Abris Blanchard in Frankreich (nach Marshack 1991) Abb. 15 Das spätneolithische Ofenmodell aus ¡ardako, Bulgarien (nach Kruta 1992, S. 100, Abb. 75, S. 101, Abb. 76) Abb. 16 Der lunisolare Kalender auf der Steinplatte Nr. 69 aus Newgrange, Irland (nach Kruta 1992, S. 328, Abb. 258 und 259 verändert) Abb. 17 Der Berliner Goldhut und seine lunisolare Kalenderfunktion (nach Menghin 2008) terrestrischen Merkmalen (Geländemorphologie, Vegetation, Wasserläufe durch Observierung des Sonnenlaufs zur Definition der vier Kardinal- usw.). Wird die Erde wie im Fall der Himmelsscheibe von Nebra als Schei- richtungen gelangt sind. Diese werden sowohl der realen als auch der my- be verstanden, so bedeutet dies, dass der Mensch seine Umwelt in ein thologischen Organisation des Lebensraums zu Grunde gelegt, und es wä- zweidimensionales System transferieren kann. Die Bewegung der Gestirne re sicherlich konsequent, die für uns heute meist nicht mehr nachvollzieh- am Firmament (dritte Dimension) lässt gleichzeitig eine kosmische Ori- bare religiös-magische Dimension vorgeschichtlicher Lebensräume als entierung erkennen. Bezogen auf die Sonne heisst das, dass die Menschen vierte Dimension anzusprechen. DIE HIMMELSSCHEIBE Abb. 18 Orientierung der bandkeramischen Bestattungen der Nekropole von Aiterhofen in Bayern (nach Schlosser/Cierny 1996) Abb. 20 Das Prinzip des »Indischen Kreises« zur Ermittlung der Kardinalpunkte Abb. 21 Das nach dem Aufgangspunkt der Sonne ZUFALL? ZUFALL ODER BEWUSSTES HANDELN rein mythologischer, aber auch rein pragmatischer Natur sein (Rücksichtnahme auf das Klima, auf Hauptwind- und Hauptniederschlagsrichtung, Seit dem Übergang zur produktiven Nahrungsmittelwirtschaft widmet der Sonne usw.). Sicher ist, dass ein gezieltes Ausrichten in der Regel das Resul- Mensch der Ausrichtung seiner Gebäude und seiner Gräber in der Land- tat intensiven Observierens ist. schaft beziehungsweise im Natur- oder Kulturraum, in dem er lebt, viel So lassen die Häuser der Träger der Bandkeramik, der ersten Bodenbauern Aufmerksamkeit. Auf der ganzen Welt lassen sich immer wieder Regionen und Tierhalter Mitteleuropas, eine über weite Gebiete identische Ausrich- und archäologische Kulturen feststellen, bei welchen die ermittelten Re- tung erkennen. Die Unterschiede im Ausrichtungswinkel sind über große gelmäßigkeiten in der Ausgestaltung des Lebensraumes nicht zufällig sein Strecken hinweg so gering, dass eine Orientierung nach den jeweils regio- können. Die Gründe hierfür können sehr vielschichtig sein: Sie können nal vorherrschenden Hauptwindrichtungen nicht in Frage kommen kann. DIE SONNE UND IHRE BEDEUTUNG Abb. 19 Glockenbechergräberfeld bei Quedlinburg, Sachsen-Anhalt (nach Meller, Harald 2006) zur Wintersonnenwende ausgerichtete Megalithgrab von Newgrange, Irland (nach Kruta 1992, S. 329, Abb. 262B und Schlosser/ Cierny 1992) 106 Ähnliches stellen wir bei prähistorischen Bestattungen fest. Am Beispiel Blick der Toten je nach Region entweder in Richtung des Sonnenaufgangs des Gräberfeldes von Aiterhofen in Bayern konnte Schlosser dies überzeu- zum Zeitpunkt der Sommer- beziehungsweise der Wintersonnenwende gend darlegen (Abb. 18): »Man erkennt, dass die Ostrichtung (Azimutwert gerichtet. Erst ab der Mittelbronzezeit hat man dagegen weniger Wert auf 90°) im Mittel gut getroffen wurde. Das Maximum der Verteilung weicht die Ausrichtung der Toten gelegt. nur um etwa 3° von dieser Kardinalrichtung ab und vermittelt so eine Vorstellung des steinzeitlichen Messfehlers.« Dem Diagramm der festgestell- Sind alle diese Beispiele auf Zufälligkeiten zurückzuführen oder waren die ten Orientierungen setzt er das einer hypothetischen Population gegen- Menschen zu dieser Zeit bereits in der Lage, die Haupthimmelsrichtungen über, die ihre Verstorbenen nach dem jeweiligen Aufgangspunkt der Son- zu bestimmen? Welche astronomischen Minimalkenntnisse waren dafür ne deponiert hätte, und kommt zu dem Schluss: »Der Unterschied beider nötig? Was die geometrischen Kenntnisse betrifft, so wissen wir, dass seit Diagramme belegt, dass bereits vor etwa 7000 Jahren die reellen Sonnen- der Jungsteinzeit Kreis und rechter Winkel bekannt waren. In Mitteleuro- stände zu den Haupthimmelsrichtungen abstrahiert worden waren.« pa bezeugen die großen, oftmals sehr regelmäßig ausgeführten Kreisgra- (Schlosser/Cierny 1996, S. 75) benanlagen der späten »Bandkeramik« Kenntnis und Verwendung des Zirkels (Stock-Schnur-Stock). Die Grundrisse der meisten neolithischen Das konsequente Ausrichten von Gräbern verband sich mit zwei für die Wohngebäude belegen Kenntnis und Anwendung des rechten Winkels. 2. Hälfte des 3. Jahrtausends v. Chr. in Mitteleuropa prägenden Kulturer- Rechter Winkel und Kreis sind beide Voraussetzungen für das relativ einfa- scheinungen, die die Grundlagen der Frühbronzezeit darstellen: mit ge- che und nichtsdestoweniger sehr effiziente Verfahren zur Bestimmung der normten Totenlagen und einer bipolaren Geschlechtsspezifität. Bereits Ul- Kardinalpunkte: den sogenannten »Indischen Kreis« (Abb. 20). Dieses rich Fischer hatte seinerzeit deren sehr konsequent beibehaltene, bipolar Verfahren ist nicht nur auf dem Subkontinent, sondern auch in anderen geschlechtsspezifische Bestattungsweise herausgestellt. Die Träger der so- Regionen ethnographisch nachgewiesen. Es lässt sich ziemlich unabhän- genannten »Schnurkeramik« wurden meist einzeln, in ovalen bis recht- gig von der jeweiligen Geländemorphologie weltweit anwenden und ba- eckigen Grabgruben beigesetzt. Häufig bedeckt ein Grabhügel von 8 bis 16 siert auf der Beobachtung des Schattenlaufs während eines Sonnentages. Metern Durchmesser und 0,6 bis 2 Metern Höhe, der von einem Kreisgra- Ein gerader Stock wird bei Sonnenaufgang senkrecht in den Boden ge- ben, einem Steinkreis oder Pfostensetzungen umgeben sein kann, die steckt; an diesem Stock befestigt man eine Schnur, die etwa in der Mitte des Grabgruben. Die Toten sind auf dem Rücken nach Geschlechtern unter- langen Schattenwurfs endet. Mit diesem Zirkel zieht man einen konzentri- schieden entlang der Ost-West-Achse niedergelegt: Die Frauen liegen mit schen Kreis um den Stock. Wenn die Sonne am Horizont hochsteigt, ver- dem Kopf im Osten, die Männer mit dem Kopf im Westen; der Blick ist ein- kürzt sich der Schattenwurf und schneidet schließlich den Kreis. Dieser heitlich nach Süden gerichtet, Arme und Beine sind angewinkelt und Schnittpunkt wird mit einem weiteren Stock markiert. Nun wandert der ebenfalls nach Süden orientiert. Schatten innerhalb des Kreises weiter; wenn die Sonne, nachdem sie den Zenith erreicht hat, allmählich wieder tiefer sinkt, berührt ihr Schatten er- 2 Der mitteleuropäische Strang der sogenannten »Glockenbecherkultur« neut den Kreis. Auch dieser Schnittpunkt wird mit einem Stock markiert. kennt fast ausschließlich Flachgräber. Die Toten wurden in Hockerlage in Verbindet man beide Schnittpunktstöcke miteinander, so markiert diese ovalen bis rechteckigen Grabgruben unmittelbar auf der Sohle des Grabes Linie exakt die Ost-West-Achse. Verbindet man hingegen die Mitte der Li- oder in rechteckigen Holz- oder Baumsärgen niedergelegt. Die Gräber sind nien zwischen beiden Schnittpunkten mit dem zentralen Stock, so ergibt entweder Einzelgräber oder zu Gräbergruppen mit bis zu dreißig Bestat- dies exakt die Nord-Süd-Achse. Mit an Sicherheit grenzender Wahrschein- tungen zusammengefasst, die nicht selten in langen Reihen angeordnet lichkeit haben wir davon auszugehen, dass die oben angeführten archäo- sind. Die Toten sind Nord-Süd orientiert, wobei die Männer stets mit dem logischen Beispiele Belege dafür sind, dass man seit der Jungsteinzeit die Kopf im Norden auf der linken Körperseite und die Frauen mit dem Kopf Methode des »Indischen Kreises« kannte und anwandte. Man war also im Süden auf der rechten Körperseite liegen (Abb. 19). Der Blick ist ein- durchaus in der Lage, Gebäude wie das Megalithgrab von Newgrange nach heitlich nach Osten gerichtet. Sowohl für die »Schnurkeramik« als auch für speziellen Vorgaben auszurichten (Abb. 21). die »Glockenbecherkultur« sind Abweichungen von den nach den Kardinalpunkten ausgerichteten Orientierungsachsen außerordentlich selten anzutreffen. Es verwundert kaum, dass auch die Gräber der Frühbronzezeit genormte Totenlagen zu erkennen geben, auch wenn nunmehr die regionalen Unterschiede stärker ausgeprägt sind, und die bipolare Geschlechtsspezifität nur für den südlich an die Aunjetitzer Kultur anschließenden so genann- ten nordalpin-danubischen Verband nachzuweisen ist. Außerdem ist der 2 nach außen vorgelagerten Wall, die in der Regel keinerlei Siedlungsspuren im Innern aufweisen, dafür aber im weitesten Sinn kultische Bezüge erkennen lassen. Um Näheres über Aussehen, Bedeutung und Funktion dieser 2 Anlagen zu erfahren, hat das Hallenser Institut in den Jahren 2002 bis KREISGRABENMONUMENTE – HEILIGTÜMER MIT BESONDEREN ASTRONOMISCHEN AUSRICHTUNGEN 2004 das stichbandkeramische Rondell von Goseck eingehend untersucht (Abb. 24). Die Anlage bestand aus einem Kreisgraben von durchschnittlich 75 Metern Durchmesser und einem V-förmig spitz zulaufenden Quer- Exaktes Ausrichten ist die Voraussetzung für erneutes Observieren und schnitt. auch für die Bestimmung der so markierten Tage im Jahresablauf. Als ein solches »prähistorisches Observatorium« wurde bereits früh die Kultstätte Zahlreiche Querprofile sind im oberen Drittel asymmetrisch verfüllt; hier von Stonehenge angesehen (Abb. 22). Seit Fred Hoyle und Gerald Haw- sind offenbar Teile des ursprünglich außen als Wall aufgeschütteten kiesi- kins sich in den sechziger Jahren ausführlich mit möglichen Visurlinien gen Aushubs in den Graben gerutscht. Innen begleiten zwei flache kon- und deren astronomischer Bedeutung beschäftigt haben – Sonnenwen- zentrische Palisadengräbchen den Graben in sechs und elf Meter Entfer- den, Tag- und Nachtgleichen, Mondwenden usw. –, wird Stonehenge ger- nung. Beide Pfahlreihen weisen in Flucht des Südosttores schmale Durch- ne als Geburtsort der Archäoastronomie bezeichnet. Inzwischen weiß gänge auf, wobei bei der äußeren die Gräbchen wie eine Torwange recht- man allerdings, dass Stonehenge nahezu 2000 Jahre begangen und immer winklig nach innen umbiegen. Die eingefassten Unterbrechungen des wieder verändert wurde; insgesamt sind vier Hauptbauphasen zu unter- Kreisgrabens sowie die Torwange der äußeren Palisade liegen in einer scheiden. Dabei wird offensichtlich, dass viele der angeblichen Visurlini- Flucht zum Mittelpunkt der Anlage. Das Innere des Erdwerkes blieb unbe- en auf nicht gleichzeitigen Befunden fußen und keinen Bestand haben. baut. Bis zur Grabungskampagne 2004 gingen wir davon aus, dass die Pa- Außerdem sind mehr als 70 Prozent der die Hauptausbauphase III ausma- lisadenringe bis auf die drei Tore blickdicht geschlossen gewesen wären. In chenden Sarsen- und Blausteine wieder aufgerichtet, zum Teil sogar er- der letzten Kampagne konnten nun weitere, nicht erhaltungsbedingte Lü- gänzt. Die einzig sichere, alle Phasen hindurch existierende Ausrichtung cken im Pfostenverlauf nachgewiesen werden. Interessanterweise konnten ist die des Eingangsbereichs im Nordosten. Sie hat unverkennbar einen diese in der Ost- und Westhälfte der Palisaden symmetrisch entlang einer Bezug zum Sonnenaufgang während der Sommersonnenwende. Anderer- gedachten Nord-Süd-Achse durch die Anlage beobachtet werden. Diese seits ließ sich mit Hilfe der Anlage natürlich auch der Zeitpunkt der Som- Unterbrechungen unterscheiden sich in Gestalt und Ausmaß deutlich von mersonnenwende exakt bestimmen, wodurch indirekt auch ein Bezug zur jenen im Bereich der ›Tore‹. Im Osten und Westen sind sie recht eng, wäh- dritten Phase der Himmelsscheibe von Nebra hergestellt werden darf. Die rend sich im Nordosten und -westen breitere Lücken mit einzeln gesetzten neueren Untersuchungen in Stonehenge haben gezeigt, dass die Astrono- Pfosten abzeichnen. Eine Überprüfung unter Berücksichtigung der Gelän- mie sicher nicht die primäre und schon gar nicht die einzige Funktion die- demorphologie und des Sonnenlaufs um 4900 v. Chr. durch Schlosser er- ses beeindruckenden Monumentes gewesen ist: Stonehenge ist definitiv gab die kalendarisch aufschlussreiche Erkenntnis, dass die Menschen die- kein Himmelsobservatorium, das sich mit jenen aus dem Zweistromland ser Zeit durch Observieren des Sonnenverlaufs am Horizont in der Lage vergleichen ließe. Vielmehr handelt es sich um ein Heiligtum mit einem waren, drei wichtige Punkte im bäuerlichen Jahr exakt zu bestimmen: die sehr komplexen Funktionsspektrum. Derartige Heiligtümer stellen einen Wintersonnenwende, die Sommersonnenwende und den Zeitpunkt Ende zentralen Bezugspunkt in einer Siedlungskammer dar, und wir können April/Anfang Mai. Wir können davon ausgehen, dass diese Termine auch davon auszugehen, dass sie in gemeinsamer Anstrengung aller Siedler er- wichtige Festtage im kultischen Jahr der Gosecker Bodenbauern und Tier- baut wurden. Die Monumentalität der Anlage bringt für alle sichtbar die halter waren. schaftlichen und wirtschaftlichen Ereignisse der Gruppe waren eng in den Diese und ähnliche Beobachtungen sowie die von uns geführten zahlrei- Glaubensvorstellungen verwurzelt. Mit diesen heiligen Plätzen gaben sich chen Nachweise kultischer Handlungen in der Anlage haben uns zur Revi- die Menschen einen Ort, an dem der Alltag kultisch begleitet, ritualisiert sion der Funktionsinterpretationen für neolithische Kreisgräben geführt. und legitimiert und somit ›beeinflusst‹ werden konnte. Offenbar spielte Die meisten älteren Deutungen kranken daran, dass sie ausschließlich das Heiligtum auch eine wichtige Rolle im Totenkult. monokausal argumentieren (Viehkrale, Marktplätze, Verteidigungsanlagen, Heiligtümer). Tatsächlich sind die profanen und sakralen Bereiche in Die ersten gebauten Heiligtümer Mitteleuropas sind wesentlich älter als der Urgeschichte so eng miteinander verwoben, dass gesellschaftliche oder die Nebra-Deponierung (Abb. 23). Sie reichen in das erste Drittel des wirtschaftliche Belange in der Regel auch eine kultisch-religiöse Dimension 5. Jahrtausends v. Chr. zurück, wo wir bis dato den Ursprung jenes Gedan- haben. Selbst wenn eine kalendarische Funktion wahrscheinlich wäre, kens fassen, den die dritte Phase der Himmelscheibe zum Ausdruck wäre es wie bei Stonehenge falsch, die Gosecker Anlage und die anderen bringt. Es handelt sich ausnahmslos um Kreisgrabenanlagen mit einem Kreisgräben dieser Zeit als reine Sonnenobservatorien zu bezeichnen. HEILIGZÜMER DIE SONNE UND IHRE BEDEUTUNG Macht und das Prestige der Erbauer zum Ausdruck. Alle wichtigen gesell- 108 Eine ausschließliche Interpretation als Sonnenobservatorium wird der einer gewissen Zeit im Innern der Anlage aufgebahrt blieben und erst da- komplexen Bedeutung dieser frühen Heiligtümer sicherlich nicht gerecht. nach in ein Erdgrab überführt wurden. Dabei kann es durch Tierverbiss Ohne der wissenschaftlichen Endauswertung vorzugreifen, kann man be- zum Verschleppen einzelner Körperglieder gekommen sein. 2 reits jetzt festhalten, dass es sich um multifunktionale Monumente handelt, die primär als Kultplatz oder Heiligtum konzipiert und verwendet Das Gosecker Funktionsmodell, neolithische Kreisgrabenanlagen als wurden. Sie dienten sicherlich nicht nur zur Festlegung kalendarisch wich- komplexe Heiligtümer mit astronomischer Ausrichtung zu deuten, wurde tiger Daten im bäuerlichen beziehungsweise kultischen Jahresablauf (Win- inzwischen durch zahlreiche Feldforschungen in Deutschland und Öster- ter- und Sommersonnenwende, Frühjahr), sondern stellten ebenso Orte reich bestätigt. Was den solaren Bezug angeht, sind allerdings regionale dar, an denen die damit verbundenen Feste begangen und die notwendigen Unterschiede meist bei der Ausrichtung der Tore festzustellen. Rituale durchgeführt wurden. Kultplätze sind in der Regel Stellen, an denen Eine beachtliche wissenschaftliche Ausweitung erfuhr das Projekt Goseck sich das ›Heilige‹ regelhaft offenbart. Sie dienen als Kommunikationssphä- durch die Integrierung in die DFG-Forschergruppe For:550 »Der Aufbruch re, als ›Tore‹ zum Jenseits. Aufgrund der gelegentlich anzutreffenden Men- zu neuen Horizonten«, die sich seit 2005 mit der umfassenden und inter- schenknochen darf man sich solche Riten im Rahmen des Totenrituals vor- disziplinären Erforschung des kulturellen Umfeldes der Himmelsscheibe stellen. So ist durchaus denkbar, dass die Verstorbenen zunächst während von Nebra innerhalb der Frühbronzezeit Mitteldeutschlands beschäftigt. Abb. 22 Die Hauptphasen von Stonehenge in England (nach Kruta 1992, S. 349, Abb. 277 verändert) Abb. 23 Mitteleuropäische Kreisgrabenanlagen der 1. Hälfte des 5. Jahrtausends v. Chr. Abb. 24 Die solare Ausrichtung der Kreisgrabenanlage von Goseck im Burgenlandkreis Abb. 25 Die frühestbronzezeitliche Kreigrabenanlage von Pömmelte in Sachsen-Anhalt, Grabungszustand nach der Kampagne 2007 2 Abb. 26 Die solaren Bezüge des Deponierungsortes der Himmelsscheibe von Nebra auf dem Ziegelrodaer Forst (nach Schlosser) Mit finanzieller Unterstützung der DFG waren wir in der Lage, sämtliche schen Kulturen vom 5. Jahrtausend bis zum Beginn des 1. Jahrtausends durch Luftbildprospektion erfassten Kreisgräben Sachsen-Anhalts zu un- v. Chr. vorkommen; die klassische Frühbronzezeit und auch die Spätbron- tersuchen, deren Grundrisse von denjenigen der neolithischen Anlagen zezeit kannten derartige Denkmäler. Was die Funktion dieser Anlagen be- abweichen, und die aufgrund struktureller Ähnlichkeiten mit frühbronze- trifft, so lassen sich in der frühbronzezeitlichen Anlage von Pömmelte- zeitlichen Anlagen in Österreich und Mähren möglicherweise in das kul- Zackmünde hinsichtlich Aufbau, Funktion und astronomischer Ausrich- turelle Umfeld der Himmelsscheibe von Nebra gehören könnten. Die wis- tung interessante Bezüge zu den zeitgleichen Anlagen der Britischen In- senschaftlichen Fragestellungen sind vielschichtig: Wie sind diese Anlagen seln herstellen (Abb. 25). Zeit eingebunden? Welche Hinweise auf Bedeutung und Funktion der An- Um einen freien, unbebauten Platz wurden mehrere konzentrische Ringe lagen gibt es? Sind Indizien auf Kult und Religion oder auf rein profane aus Pfosten, Gruben, einem Kreisgraben und einer Palisade angeordnet. Funktions- und Praxiszusammenhänge gegeben? Lassen sich eventuell Der Durchmesser des äußeren Kranzes von gleichmäßig angeordneten auch astronomische Bezüge erkennen? Welche Abweichungen lassen sich Einzelpfosten beträgt 115 Meter. Im Innern folgt ein Ring aus länglichen gegenüber den neolithischen Anlagen feststellen? Wie sind diese Anlagen Grubensegmenten. Zwischen diesem und dem Pfostenkranz befand sich zu datieren? im Südosten ein flacher Graben. Es folgt ein markanter, annähernd kreisrunder Graben von 78 Metern Durchmesser mit zwei breiten Unter-bre- In einer ersten Projektstufe wurden insgesamt 13 Anlagen geophysikalisch chungen. Die flache Grabensohle war bereits kurz nach dem Ausheben prospektiert und durch aussagekräftige Schnitte sondiert. Das Ergebnis natürlicherweise zusedimentiert. Danach stand der teilverfüllte Graben war, dass Kreisgräben in ganz unterschiedlichen Perioden und archäologi- längere Zeit offen und wurde begangen. Die oberen Füllschichten DIE SONNE UND IHRE BEDEUTUNG strukturiert? Wie sind sie in das jeweilige Siedlungs- und Verkehrsnetz der 110 scheinen absichtlich von Menschenhand eingebracht. Wie in der nahezu Untersuchungen Schlossers einen Bezug zum 1. Mai erbracht. Als Symbol 3000 Jahre älteren Anlage von Goseck deutet die asymmetrische Verfül- des Lebens und der Wiedergeburt hat die Sonne unmittelbaren Einfluss lung des Grabens darauf hin, dass ursprünglich der Grabenaushub außen auf den alles bestimmenden Kreislauf von Geburt – Leben – Sterben – Jen- als Wall vorgelagert war. Im Innern begleitete eine blickdicht gesetzte Pali- seits/Wiedergeburt. sade den Graben, die nur schmale Unterbrechungen im Bereich der breiten Grabenöffnung aufweist. Zum Zentrum hin folgen schließlich zwei breite Ringe aus einzelnen gleichmäßig angeordneten Pfosten. Ein solches KULTPLÄTZE HORTE ALS KULTPLÄTZE Aufbauschema aus mehreren konzentrischen Ringen ist in ähnlicher Hortfunde stellen verdinglichte Überreste einer Kulthandlung dar, die mit Weise von den Henge-Monumenten der Britischen Inseln bekannt. Auch größter Wahrscheinlichkeit zuvor am Ort der späteren Niederlegung aus- wenn die Gesamtstruktur eine einheitliche Planung erkennen lässt, so geführt wurde. Deponierungsorte sind folglich Kultplätze, an welchen können wir momentan das genaue zeitliche Verhältnis der einzelnen Teile Entäußerungsrituale entweder einmalig oder aber im Fall von Hortkon- der Anlage noch nicht näher eingrenzen. zentrationen mehrfach ausgeführt wurden. Die Auswahl des Deponie- Die Befunde lassen einen rituellen Hintergrund erkennen. Im Graben- rungsplatzes erfolgte nicht zufällig, sondern gezielt, wobei wir davon aus- rund befinden sich über die Grabensohle hinaus abgegrabene Schächte, in gehen dürfen, dass es sich um Orte handelt, die als ›Tore‹ zu einer anderen denen man Gefäßsätze, zerscherbte Keramik, Steinbeile, Mahlsteine und Welt verstanden wurden. Die unterschiedlichen Kategorien von Deponie- Tierknochen niedergelegt hatte. In einer Schachtgrube war ein Kind bestat- rungsstellen – Felsspalten, Höhlen, markante und ungewöhnliche Gelän- tet, in anderen waren ganze Körperteile oder nicht im anatomischen Ver- deformationen oder Vegetationsformen, Quellen, Flüsse oder Gewässer – band liegende Knochen, darunter auch Schädel verschiedener Individuen stehen für unterschiedliche sakrale Bereiche oder Gottheiten. Auch der – nach der Größe der Knochen ausschließlich Kinder oder Jugendliche – Deponierungsplatz des Hortes von Nebra ist nicht zufällig gewählt. Die deponiert. Ob diese Menschen gewaltsam getötet beziehungsweise wäh- Nachgrabung am Fundort selbst und die darauf folgenden großflächigen rend bestimmter Riten verstorben sind, oder ob die Knochen von sekun- archäologischen Untersuchungen des Ziegerlodaer Forstes auf dem Mit- där verlagerten Bestattungen stammen, blieb zunächst unklar. telberg haben gezeigt, dass die Fundstelle sich auf einem Geländesporn innerhalb eines allerdings jüngeren Kreisgrabens von circa 160 Metern Kultplätze sind Orte, an denen sich das ›Heilige‹ regelhaft offenbart. Sie Durchmesser befindet. Östlich und westlich dieser Anlage ist das Gebiet dienen als Kommunikationssphäre, als Tore zur anderen Welt. Der um- zusätzlich durch zwei Abschnittswälle abgeriegelt. Bereits im Jahr 2002 hegte, abgeschlossene Raum zeigt uns, dass seit dem Neolithikum eine konnte die Deponierungsgrube, in der die Raubgräber innerhalb einer sichtbare, architektonisch ausgeführte Abgrenzung des sakralen Bereichs Steinpackung die Himmelsscheibe und ihre Beifunde entdeckt hatten, von der profanen Umwelt notwendig war. Im kultischen Geschehen stand exakt ermittelt werden. Die weiteren Grabungen haben gezeigt, dass der das Überleben der Gruppe im Vordergrund, und so vollzog man in diesen Sporn keinen Befestigungscharakter hatte, dass er nie besiedelt, aber die Heiligtümern Riten, die die Fruchtbarkeit der Felder, der Herden, aber ganze Bronzezeit hindurch begangen worden war, um hier Deponierun- 2 auch der eigenen Sippe sichern sollten. Wir gehen davon aus, dass die mit gen vorzunehmen. der produktiven Nahrungsmittelwirtschaft einhergehenden Handlungen und das Ausbeuten natürlicher Ressourcen als Eingriffe in die natürliche Auch wenn heute der dichte Waldbestand dem Besucher den Blick vom Ordnung verstanden wurden. Diese konnte nur durch Opfer wiederherge- Fundort in die umgebende Landschaft verweigert, so spricht einiges dafür, stellt werden. Der Kult vollzog sich in der Regel unter freiem Himmel. dass man während der späten Frühbronzezeit (1. Hälfte des 2. Jahrtau- Offensichtlich war die ›Heiligkeit‹ des Ortes, seine numinose Bedeutung sends v. Chr.) am westlichen Horizont zwei markante Geländeformatio- oder seine Rolle im Rahmen astronomischer oder kosmischer Beobach- nen ausmachen konnte, den Kulpenberg im Kyffhäuser und weiter nörd- tungen von primärer Wichtigkeit. Dies zu postulieren, erlaubt die Scheibe lich den Brocken, den Hauptberg des Harzes. Schlosser hat nachgewiesen, von Nebra, weil sie eine direkte Verbindung zwischen astronomischen dass die Sonne zum 1. Mai (keltisch: Beltain, i.e.Walpurgisnacht) exakt Kenntnissen und religiösen Vorstellungen erkennen lässt. Dem zugrunde hinter dem ersten und zur Sommersonnenwende am 21. Juni hinter dem liegt wohl das ständige Bemühen, die kosmischen Kreisläufe, insbesonde- zweiten Berg untergeht (Abb. 26). Vom Deponierungsplatz der Himmels- re die zwei konkurrierenden Zyklen des tropischen und des lunaren Jahres scheibe von Nebra aus war man also in der Lage, beide Termine durch Ob- vor dem Stillstand zu bewahren beziehungsweise zu harmonisieren. Das servierung kalendarisch zu bestimmen. Auch für weitere bedeutende Heiligtum von Goseck im Burgenlandkreis zeigt, dass bereits im Neolithi- Hortplätze konnte Schlosser derartige solare Bezüge in der Landschaft aus- kum der genauen Bestimmung von Winter- und Sommersonnenwende machen. Als Beispiel sei hier noch der Goldhut von Schifferstadt erwähnt, zur Wahrung der Ordnung große Bedeutung zukam. Gleichzeitige Anla- der in einem Feuchtgebiet an einer Stelle niedergelegt wurde, von der aus gen lassen Bezüge zur Tagundnachtgleiche oder zu dem späteren kelti- man den Sonnenuntergang zur Sommersonnenwende hinter dem 40 Ki- schen Beltain-Fest erkennen. Für Pömmelte-Zackmünde haben erste lometer entfernten Königsstuhl beobachten konnte. 3 huldigen. Personifikationen dieser göttlichen Mächte sind erst seit den frühen Hochkulturen bekannt. Der Übergang von der Sonne als Symbol der Lebenskraft zum (anthropomorphen) Sonnengott lässt sich auf archäologischem Weg schwer nachzeichnen. Außerdem kann man bei schriftlosen Kulturen nie entscheiden, ob die Darstellung einer Sonnenscheibe diese verborgene Kraft anspricht oder aber einen Sonnengott symbolisiert, wie zum Beispiel die Sonnenscheibe in der 18. ägyptischen Dynastie den Sonnengott Aton. III. SONNE – LICHT – LEBEN: DER KAMPF ZWISCHEN LICHT UND DUNKELHEIT UND DIE GENESE DES SONNENGOTTES Seit der jüngeren Altsteinzeit gibt es immer wieder kreisförmige Verzierungen, die als Darstellung der Sonne gedeutet werden können. Meist sind diese aber nicht in einen ›szenischen‹ Kontext eingebunden, so dass sich – wie bei den in die Steinplatten der Grabkammer von Newgrange, Irland, Der alltägliche Wechsel von Tag und Nacht, die Bewegungen der Gestirne eingravierten Spiralen (Abb. 27) – eine eindeutige Interpretation verbietet. – vor allem von Sonne und Mond – dürften bereits in der Ur- und Frühge- Sogar die Verzierungen der meist aus Grabzusammenhängen überliefer- schichte beim homo sapiens religiöse Empfindungen geweckt haben, die als ten »»Sonnenschalen«« der mitteldeutschen Schönfelder Kultur des 3. Zeichen der göttlichen Ordnungsmacht verstanden wurden. Die Vereh- Jahrtausends v. Chr. lassen sich, obwohl die Darstellung der Sonne im rung der allgegenwärtigen, ständig erfahrbaren Kräfte der Natur im Kult Kontext von Tod und Jenseits beziehungsweise Wiedergeburt Sinn macht, heisst, den kosmischen oder göttlichen Mächten, die sie generieren, zu nicht mit letzter Sicherheit als aufgehende Sonne interpretieren (Abb. 28). Abb. 27 Solare Motivik auf einer Steinplatte des Megalithgrabes von Newgrange, Irland (Nnach Kruta 1992, S. 118, Abb. 92) DIE SONNE UND IHRE BEDEUTUNG Abb. 28 Eine Sonnenschale der Schönfelder Kultur in Sachsen-Anhalt (Foto: J. Lipták) 112 3 In einem Kreis angebrachte Kreuz- oder Strahlenverzierungen werden g- erne als Sonnenräder oder Sonnendarstellungen interpretiert. Diese Motive krönen auch jene Standarten, die sowohl als reale Einzelgegenstände überliefert sind als auch in Verbindung mit Langbooten, Pferden und Schlangen auf nordischen Rasiermessern und Felsbildern vorkommen und als Repräsentationen der bronzezeitlichen Sonnenmythologie angesehen werden. Man hat sich solche Darstellungen in einen größeren Sinn- und Handlungskontext – die Sonnenfahrt – eingebunden vorzustellen, dem auch der so genannte »Sonnenwagen« von Trundholm im Nationalmuseum Kopenhagen mit der 25 cm großen, von einem Pferd gezogenen Bronzescheibe entstammt (Abb. 29). Die Scheibe weist eine mit Gold- blech verkleidete Tages- sowie eine unverkleidete Nachtseite auf. Eine ausgebrochene Öse am Scheibenrand und am Hals der Tieres weisen auf eine nicht überlieferte Zugleine hin. Die Räder unter Scheibe und Pferd dienen allein der Fortbewegung des gesamten Gegenstandes während der Kulthandlungen, so dass die Bezeichnung »Sonnenwagen« eigentlich falsch ist. Abb. 29 Der Hortfund von Eberswalde, Kreis Barnim – mit Sonnenrädern verzierte Goldgefäße (nach Hänsel 1997) 3 3 Solche in einen komplexen Symbol- oder Handlungszusammenhang eingebundene Sonnendarstellungen sind seit der Jungsteinzeit überliefert. Besonders beeindruckend ist die kupferzeitliche Kultszene aus Ovčarovo in Bulgarien (Abb. 30). Auf drei giebelförmigen ›Paravents‹ ist jeweils zentral eine aus konzentrischen Kreisen bestehende Sonnenscheibe mit gebündeltem seitlichen Strahlenkranz dargestellt. Zu dem aus Ton gefertigten Ensemble gehören weiter vier stark schematisierte menschengestaltige Figuren im Adorantengestus, mehrere Sitzmöbel, Tischchen mit kleinen Opfergaben, Miniaturgefäße sowie drei Trommeln. Auch wenn der genaue Handlungsablauf nicht nachvollziehbar ist, so gewinnt man doch den Eindruck, dass mit diesen Gegenständen modellhaft ein Ritual vollzogen werden sollte, innerhalb dessen der Sonnenverehrung eine zentrale Rolle zugedacht war. Unklar bleibt allerdings, ob die Sonnendarstellungen aus der bulgarischen Jungsteinzeit, der nordischen Bronzezeit sowie der Himmelsscheibe von Nebra als Attribut oder Symbol eines personifizierten Sonnengot- DIE SONNE UND IHRE BEDEUTUNG Abb. 30 Die kupferzeitliche Kultszene von Ovcarovo, Bulgarien (nach Kruta 1992, S. 61, Abb. 33) 114 tes zu interpretieren sind, oder ob sie nicht eher die mit der Sonne verbun- v. Chr. auf dem Altar Sonnenscheiben als Kultbilder für die Verehrung des denen Bereiche Licht und Wärme, Leben und Fruchtbarkeit, Sonnenlauf Sonnengottes aufgestellt. So verwundert es nicht, dass in Europa bis zum 3 und Jahreszeiten zum Ausdruck bringen sollten. Die ersten Personifikatio- Beginn der Eisenzeit Sonnenstandarten auf Barken abgebildet wurden. nen sind mit dem Beginn der Hochkulturen im östlichen Mittelmeerraum Neben solchen Bootsdarstellungen sind es vor allem die von Wasservö- und somit lange vor der Entstehung der Himmelsscheibe von Nebra sicher geln gezogenen Wagenmodelle, die Anklänge an die griechische Mytholo- nachweisbar. Wir kennen sie als Ra (Re), dessen Ideogramm eine Sonnen- gie erkennen lassen, nach der Apoll auf einem von Schwänen gezogenen standarte bildet, oder Horus in Ägypten, als Utu bei den Sumerern und Wagen jedes Jahr zur Überwinterung in das Land der Hyperboräer auf- ?ama? bei den Babyloniern, dessen Symbol interessanterweise das vier- bricht. Als eine freie Interpretation dieses Motivs kann man das tönerne speichige Sonnenrad ist. Gemeinsam ist den mit der Sonne in Verbindung Kultwagenmodell von Duplaja, Serbien, ansehen, das chronologisch in gebrachten Göttern ein besonderer Rang beziehungsweise eine herausgehobene Position im Götterpantheon, aus der sich zahlreiche Übereinstimmungen ergeben, wie Erika Simon am Beispiel von ?ama? und dem frühen griechischen Apoll überzeugend dargelegt hat. Was das schriftlose Europa betrifft, so ist es hier wesentlich schwieriger, den Zeitpunkt des Übergangs zur Personifikation des Sonnengottes nachzuvollziehen. Der Berliner Prähistoriker Bernhard Hänsel ist der Auffassung, die Vorstellung eines Sonnengottes in Menschengestalt habe es in Europa erst seit der späten Bronzezeit gegeben, da sich erst zu diesem Zeitpunkt entsprechende Repräsentationen nachweisen lassenießen, und er verbindet die Anthropomorphisierung der Götter und die Differenzierung der Glaubenswelt mit der Differenzierung der Gesellschaft: »Hier wird auf dem Festland in der so genannten spätmykenischen Zeit, mit ihren großen Palästen und deren komplizierten Wirtschaftsverwaltungen, zum ersten Mal geschrieben, und seit dem 14./13. Jahrhundert v. Chr. zum ersten Mal auch über Götter berichtet, die als Personen bzw. in Menschengestalt gedacht werden. Diese haben ›Zuständigkeiten’, sie widmen sich bestimmten Lebensbereichen der Menschen. Mit der Differenzierung der Gesellschaft geht die Differenzierung der Glaubenswelt einher.« Dem möchten wir die Tatsache entgegenhalten, dass es bereits mit dem Auftreten einer geregelten Metallurgie – also wesentlich früher – zu einer gesellschaftlichen Differenzierung gekommen ist. Die Absenz anthropomorpher Darstellungen besagt noch lange nicht, dass es in der Vorstellungswelt der Menschen keine Personifikationen der Götter gegeben hat, denn es ist durchaus möglich, dass die Götter nur in Form von Attributen oder Symbolen, nicht aber in corpore dargestellt werden durften. Unbestritten bleibt indes die Vorstellung, dass die Sonne bereits lange bevor es zu einer Konkretisierung oder Personifizierung des Sonnengottes gekommen ist, als göttliche Macht verehrt worden ist. Bereits der ursprünglichen Form der Himmelsscheibe von Nebra kann man göttliche Präsenzen in Form des Attributs beziehungsweise Symbols entlocken. Betrachtet man die einzelnen Motive des Bildprogramms genauer, so lassen sie sich auf die drei Einheiten Sterne, Mond und Sonne reduzieren. Gerade diese Dreiheit war im Zweistromland ein Thema, das auf zahlreichen Rollsiegeln des 2. und 1. Jahrtausends v. Chr. festgehalten wurde und die Trias der Himmelsgötter zum Ausdruck bringt (Abb. 31). Außerdem wurden im Samas-Tempel von Sippur noch im 1. Jahrtausend 31 Vorderorientalische Siegelabrollungen des 2. Jahrtausends v. Chr. aus Tell Fecherije (oben), Nuzi (Mitte) und Tell Açana (unten) (nach Meller 2002) die spätmykenische Zeit gehört (Abb. 32). Die in einen langen verzierten der Sonnenbarke mit Wasservogelprotomen auch mit dem menschenge- Glockenrock gekleidete zentrale Figur steht auf einem dreirädrigen, von staltigen Sonnengott und nicht nur mit dessen Attribut der Sonnenschei- drei Wasservögeln, vielleicht auch Schwänen gezogenen Wagen. Ein Bezug be verbunden haben. Erst während der Eisenzeit kommt es zu einer radi- zum Sonnengott ist durch ein auf der Unterseite des Wagenkastens einge- kalen Veränderung in der Symbolsprache. Ein neues Totenritual und ins- ritztes Sonnensymbol erkennbar. Und es ließen sich auch noch andere Be- besondere neue Heiligtumskonzeptionen legen einen tiefgreifenden spiele dafür finden, dass die Menschen in der Spätbronzezeit das Motiv Wandel des religiösen und mythologischen Hintergrunds nahe. DIE SONNE UND IHRE BEDEUTUNG Abb. 32 Der spätbronzezeitliche Sonnengott von Duplaja, Serbien (nach Kruta 1992, S. 139, Abb. 104) 116 Literatur AUSGEWÄHLTE LITERATUR Bell, Catherine: Ritual Theory, Ritual Practice, Oxford/New York 1992 Bertemes, François: Heiligtum und Kultplatz in der thrakischen Ebene im 3. Jahrtausend v. 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