Wie problematisch ist der Sozialstaat? – Seite 1

Der öffentliche Diskurs zum Sozialstaat hat in den vergangenen zwei Jahren einen dramatischen Wandel erfahren. Nur noch selten wird der Sozialstaat als integraler Teil einer funktionierenden Demokratie und Marktwirtschaft gesehen. Stattdessen werden Kosten und Ausgestaltung des Sozialstaats als eines der großen wirtschaftlichen und politischen Probleme unserer Zeit dargestellt. Bezieherinnen und Bezieher sozialer Leistungen – egal ob Arbeitslose oder Geflüchtete – werden als Schmarotzer dargestellt, die eine Leistung verweigern und zulasten anderer leben. Harte Einschnitte bei Sozialleistungen werden als einziger Weg präsentiert, die Investitionen in die Zukunftsfähigkeit unserer Wirtschaft zu ermöglichen.

Dieses Narrativ widerspricht fast allen Fakten. Denn trotz vieler Verbesserungsmöglichkeiten ist der deutsche Sozialstaat effektiv und in vieler Hinsicht gibt es heute weniger Bedürftige als vor 15 oder vor 30 Jahren. Der Niedriglohnsektor ist den vergangenen zehn Jahren deutlich geschrumpft, die Arbeitslosenquote ist gering. Die demografische Alterung der Gesellschaft bedeutet, dass heute fast zwei Drittel des Sozialbudgets für Alter und Gesundheit ausgegeben wird, dagegen weniger als fünf Prozent für Bürgergeld und Arbeitslosigkeit. Der Anstieg der Sozialausgaben ist somit nicht einer vermeintlichen Faulheit oder fehlenden Leistungsbereitschaft der Menschen – wie manche Politiker gerne behaupten – geschuldet, sondern primär der Alterung unserer Gesellschaft.

Der Populismus in der Debatte über den angeblich überbordenden Sozialstaat besteht darin, verletzliche Gruppen gezielt gegeneinander auszuspielen. Er polarisiert die Gesellschaft und droht das Land in US-amerikanische Verhältnisse zu führen. Dieser Populismus trägt zu einem politischen Stillstand bei, der Reformen unmöglich macht und die Demokratie aushöhlt. Davon profitiert einzig und allein die AfD.

Anzahl der Bürgergeldbeziehenden ist gesunken

Auch manche Politiker demokratischer Parteien haben in den vergangenen zwei Jahren keine Gelegenheit ausgelassen, die sozialen Sicherungssysteme zu attackieren und Kürzungen lauthals zu fordern. CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann verkündete kürzlich, das Bürgergeld gehöre abgeschafft. Politiker von Union und FDP halten die Erhöhung des Bürgergelds von 501 auf 563 Euro für ungerecht und zu teuer. Einige wollen gar einen Arbeitszwang durchsetzen. Und selbst eine SPD-geführte Bundesregierung verkündet medienwirksam, die Sanktionen gegen Verweigerer sollten deutlich verschärft werden – wohl wissend, dass dies sehr wenige Bezieherinnen betrifft und kaum Einsparungen bringt. Sie stellen somit alle Bürgergeldbeziehende unter Generalverdacht. Dabei sind systematische Kürzungen des Bürgergelds durch das Bundesverfassungsgericht auch rechtlich nicht möglich.

Fakt ist, dass die Anzahl der Bürgergeldbeziehenden in den letzten zehn Jahren um deutlich mehr als eine Million gesunken ist. Ein Drittel der 5,4 Millionen Leistungsempfänger sind Kinder und mehr als zwei Millionen Bezieher stehen aus gesundheitlichen oder familiären Gründen dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung, sodass es sich lediglich um 1,7 Millionen Menschen handelt, die prinzipiell arbeitsfähig sind. Der Blick in die Vergangenheit zeigt: Im Jahr 2005 waren mehr als fünf Millionen Menschen in Deutschland arbeitslos und entsprechend war der Empfängerkreis vergleichbarer sozialer Leistungen sehr viel größer.

Die populistische Zuwanderungsdebatte

Politikern demokratischer Parteien und anderen Kräften ist es im öffentlichen Diskurs gelungen, die Zuwanderung als das zentrale politische und soziale Problem unserer Zeit zu positionieren. Mit beachtlichem Erfolg: Umfragen zufolge sehen in fast keinem westlichen Land so viele Menschen ein Problem in der Migration wie in Deutschland. Immer wieder sehen sich Geflüchtete mit dem Vorwurf aus der Politik konfrontiert, sich in die soziale Hängematte zu legen und sich Gesundheitsleistungen zu erschleichen, während Deutsche auf solche Leistungen warten müssen.

Langfristig ist die Kürzung von Sozialausgaben eher kontraproduktiv

Selbst der Bundeskanzler hat sich vom Populismus dieser Debatte anstecken lassen und eine Abschiebung Schutzsuchender im großen Stil gefordert. Die Leistungen für Geflüchtete werden beschränkt, der Zugang zum Bürgergeld soll erst nach 30 Monaten gewährt werden. Eine Bezahlkarte für Geflüchtete wird mit Rekordtempo eingeführt, sodass diese von den etwas mehr als 400 Euro an finanziellen Leistungen im Monat bloß keinen Euro an die Familie im Ausland überweisen können.

Dabei zeigt das Beispiel Dänemark, dass eine Kürzung sozialer Leistungen eher kontraproduktiv ist. Die Maßnahmen reduzieren die Zuwanderung nicht nennenswert, aber erschweren die Integration in Arbeitsmarkt und Gesellschaft, erhöhen die Armutskriminalität und verschlechtern die Bildungschancen geflüchteter Kinder. Langfristig schaffen solche Kürzungen also die Voraussetzungen für noch höhere Sozialausgaben.

Warum hält sich niemand an die Fakten?

Die Liste populistischer Argumente gegen den Sozialstaat lässt sich fortsetzen: Die Kindergrundsicherung zur Bekämpfung von Kinderarmut wird nicht nur von der Opposition, sondern auch von der FDP abgelehnt. Es sei zu teuer und man solle stattdessen die Eltern in Arbeit bringen. Das Trauma der Armut verwehrt den betroffenen Kindern viele Chancen und treibt auf lange Sicht mehr Menschen in die Abhängigkeit von Sozialleistungen. Schlussendlich steigen somit auch die Kosten für die Gesellschaft.

Zunehmend wird die gesetzliche Rente hinterfragt und Kürzungen gefordert. Dabei wird ignoriert, dass schon heute viele Rentnerinnen und Rentner armutsgefährdet sind. Und die Bundesregierung bricht ihr Versprechen beim Klimageld, durch das vor allem Menschen mit geringen Einkommen finanziell entlastet werden sollen.

Progressive Kräfte äußern sich populistisch

Das Erstaunliche an diesem Diskurs ist weniger, dass die Behauptungen offensichtlich falsch sind und zum größten Teil leicht widerlegt werden können. Überraschend ist viel mehr, dass progressive Kräfte in Politik und Öffentlichkeit auf den Zug des Populismus aufspringen. Die Bundesregierung macht sich zunehmend zum Instrument dieser Kräfte, sei es beim Bürgergeld, bei Geflüchteten oder der Entlastung von jungen Menschen und Menschen mit wenig Einkommen.

Wo sind die Stimmen, die den Populisten die Stirn bieten und den Populismus entlarven? Die Fakten liegen auf der Hand: Deutschland hat einen starken Sozialstaat, dessen Belastung in vielerlei Hinsicht in den vergangenen Jahren abgenommen hat. Ja, der Sozialstaat muss effizienter, zielgenauer, aktiver und präventiver werden. Aber er ist und bleibt ein wichtiges und effektives Instrument, um Menschen Teilhabe und Chancen zu ermöglichen.

Der Nobelpreisträger Angus Deaton schrieb vor Kurzem: "the deepest forms of inequality are these sort of personal inequalities where not everyone is given equal value as a human being" (die tiefsten Formen der Ungleichheit sind die Art der persönlichen Ungleichheiten, bei denen nicht jeder und jede den gleichen Wert als Mensch erhält). Anstatt ihn auszuhöhlen und den Bankrott des Systems zu erklären, sollten wir uns darauf konzentrieren, wie der Sozialstaat so gestärkt werden kann, dass er mehr Teilhabe und Chancen eröffnet, sodass die Menschenwürde jedes Einzelnen wieder mehr Respekt erhält.