Roman | Ulrich Woelk: Der Sommer meiner Mutter
In seinem neuesten Roman zeichnet der Autor Ulrich Woelk ein berührendes und rückwirkend leicht melancholisch anmutendes Zeitpanorama der 1960er Jahre. Der Sommer meiner Mutter enthüllt eine Stimmung zwischen Bigotterie und dem aufkeimenden Wunsch nach Selbstverwirklichung, zwischen technischem Fortschrittsglauben und menschlichem Unvermögen. Eine Besprechung von INGEBORG JAISER
Schon den ersten Satz könnte man für den besten Romananfang des Jahres nominieren: »Im Sommer 1969, ein paar Wochen nach der ersten bemannten Mondlandung, nahm sich meine Mutter das Leben.«
Schon hier wird klar, dass sich Privates mit Weltumspannendem vermengt, Tragödie mit Euphorie, Familien- mit Zeitgeschichte. Und Ulrich Woelk schafft es tatsächlich, uns glauben zu machen, es gäbe einen kausalen Zusammenhang zwischen beidem. Ein suggestiver Kunstgriff, der jeden Leser kapert. Und unversehens stecken wir mitten im Geschehen.
Fly me to the moon
Aus der Sicht des 11jährigen Tobias Ahrens – »ein stilles, nachdenkliches Kind«, Einzelkind dazu – stellt sich die 60er-Jahre-Idylle wie eine unverrückbare mathematische Konstante dar. Mit Vater Walter als nüchtern denkendem Ingenieur, Mutter Eva als zurückhaltender Hausfrau und einem modernen Einfamilienhaus »mit Waschbetonterrasse, Zentralheizung und Doppelgaragenanbau« in einem suburbanen Außenbezirk von Köln. Samstags werden die Autos gewaschen oder die Obstbäume mit E605 gespritzt, sonntags besucht man die katholische Messe oder Onkel Hartmut, einen ehemaligen Stuka-Kampfflieger (mit ebenbürtiger Gesinnung), und Tante Mechthild, die heimlich die Likörflaschen leert.
Dieses Leben hätte gemächlich so dahindriften können, hätten nicht das amerikanische Mondlandeprogramm und die neuen Nachbarn für gehörig Aufregung gesorgt. Im Frühjahr ziehen nebenan die Leinhards ein, die geradezu klischeebeladen mit allen Insignien einer linken Attitüde ausstaffiert sind: der Hochschuldozent Wolf Leinhard (»Philosophie. Bloch, Adorno, Frankfurter Schule, wenn Ihnen das etwas sagt«) trägt schwarze Rollkragenpullover, fährt Volvo und raucht filterlose Gitanes, die feministisch angehauchte Uschi Leinhard ist stets in weite Schlaghosen und flatterige Blümchenblusen gehüllt und die 13jährige Tochter Rosa (benannt nach Rosa Luxemburg) wirkt reichlich altklug und abgebrüht. Der ganz persönliche Sputnik-Schock für die eher konservative Familie Ahrens!
Light my fire
Überraschenderweise freundet man sich recht schnell an. Väter und Mütter untereinander und zuweilen lustig überkreuz. Man trifft sich zu Geburtstagsfeiern, Krocketspielen und Grillabenden, wobei nicht nur die Herzen, sondern auch mal eine flatterige Kunstfaserbluse Feuer fängt. Selbst Tobias, der sich bislang eher für Raufen, Weitpinkeln und die Apollo-Mission interessierte, wird von der frühreifen Rosa in unbekannte Galaxien entführt. Eine wahre Explosion der Gefühle!
Just in der Nacht der Mondlandung wird Tobias unvermutet Zeuge eines ganz anderen wagemutigen Schritts. Und der hat gewaltige Folgen: »Es dauerte ungefähr so lange wie der Aufenthalt der Astronauten auf dem Mond, bis mein Vater erfuhr, was in der vergangenen Nacht sonst noch geschehen war.« Am Ende des tragischen Dominoeffekts spielt E605 eine unheilvolle Rolle.
This is the end, my only friend
An erfolgreichen Coming-of-Age-Romanen, gerne autobiographisch grundiert, war in den letzten Jahren bestimmt kein Mangel, man denke nur an Matthias Brandts Raumpatrouille, Wolf Haas Junger Mann oder Bov Bjergs Auerhaus. Doch Ulrich Woelk, der selbst Physik studiert und in Astrophysik promoviert hat, lanciert seinen inzwischen bereits fünfzehnten Roman geschickt zum 50. Jahrestag der Mondlandung. Wer erinnert sich nicht noch an das fiebrige Warten, die aufgeputschte Hochstimmung, den magischen Ausnahmezustand?
Woelk dampft das ereignisreiche Zeitgeschehen mit all seinen Befindlichkeiten auf knapp 190 Seiten ein, dicht und doch fein nuanciert, unterlegt mit Songtexten und literarischen Zitaten. Dass manche Charaktere und Szenen dennoch wie prototypisch ausgestanzt wirken, mag der leicht verblendeten Rückschau geschuldet zu sein, bietet jedoch einen hohen Wiedererkennungswert. Ja, genau so war es! Ein ungemein unterhaltsamer Sommerroman voller Zeitkolorit, Ironie und Tragik – aber auch der beruhigenden Erkenntnis: »Vielleicht ist es gut, dass wir dem Universum gleichgültig sind.«
Titelangaben
Ulrich Woelk: Der Sommer meiner Mutter
München: Verlag C. H. Beck 2019
189 Seiten, 19,95 Euro
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