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Politik: „Wir sind doch von Freunden umzingelt“ Johannes Rau über seine Lehren aus dem 8. Mai 1945,

den rheinischen Kapitalismus und unsere Rolle in Europa

Herr Bundespräsident, Sie haben eine schwere Herzoperation hinter sich. Menschen, die ähnliches durchgemacht haben, berichten von einer existenziellen Krise nach dem Eingriff. Wie war das bei Ihnen?

Ich habe neun schwere Monate hinter mir. Gleich nach dem Wechsel im Amt wollte ich eigentlich zwei Monate ausspannen und zuerst eine Kur machen. Aber bei der vorbereitenden Untersuchung stellte sich heraus, dass ich überhaupt nicht kurfähig war, dass ich eine neue Herzklappe brauchte. Die Operation gelang hervorragend, ich erholte mich schnell – aber ich konnte weder richtig essen noch trinken. Das führte dazu, dass die Medikamente nicht angemessen wirkten. Es kam deshalb zu inneren Blutungen und ich musste mich zwei Bauchoperationen unterziehen. Jetzt ist die Phase der Genesung offensichtlich wirklich eingetreten. Aber es war eine schwere Zeit. Die erzwungene Untätigkeit hat mir sehr zu schaffen gemacht.

Sie haben nicht geahnt, dass Sie Ihr Herz überstrapaziert haben? Der Verzicht auf eine zweite Amtszeit erklärt sich nicht aus diesem Wissen?

Nein. Die Entscheidung, dass ich nur eine Amtszeit machen würde, ist nach etwa einem Jahr gefallen. Da war mir klar, dass ich mich eine Amtszeit voll einbringen würde, aber dass es damit dann auch gut sei.

Warum sind Sie nach einem Jahr zu dieser Erkenntnis gekommen?

Das war eine Mischung aus Beweggründen. Ich war 69 Jahre alt, als ich das Amt antrat. Ich habe drei Kinder und wollte auch noch eine Lebensphase nach dem Beruf haben, in der ich noch etwas sagen und bewegen könnte. Nein, zehn Jahre wären zu lang gewesen. Das habe ich sehr früh mit meiner Frau besprochen.

Sagen und bewegen – das ist ein sehr schöner Begriff. Es gibt ein aktuelles Datum, das ist der 8. Mai. Ist nicht schon alles gesagt und wenig bewegt?

Seit der Rede von Richard von Weizsäcker vom 8. Mai 1985 ist eine Wende eingetreten, was dieses Datum und seine Bedeutung angeht. Diese Wende wirkt fort. Hinzugekommen ist, dass wir uns jetzt auch mit dem Schicksal deutscher Opfer befassen. Denken Sie an Grass’ „Krebsgang“ und vieles andere. Der 8. Mai ist eine Erinnerungs- und Gedenktag, den man jetzt nicht überhöhen soll. Aber andere Völker erinnern sich an militärische Ereignisse, die mehr als 200 Jahre zurückliegen, nehmen Sie nur den Sturm auf die Bastille. Es steht uns an, an den Tag der Niederlage und der Befreiung immer wieder zu denken. Es gibt dabei eine geheimnisvolle öffentliche Wirkung. Des 50. Jahrestages ist kaum gedacht worden, des 40. ja, und jetzt des 60. Woran liegt das?

Sind wir reifer geworden?

Dann wären wir ja vor 20 Jahren reifer gewesen als vor zehn…

Trauen wir uns heute mehr?

Warum sollten wir das?

Weil die Gesellschaft gefestigter ist und wir deshalb auf den Tag der Befreiung so schauen können wie auf den der Niederlage?

Wir können jedenfalls gefestigt zurückschauen, ob gefestigter als vor zehn oder 20 Jahren, das weiß ich nicht.

Oder liegt es vielleicht daran, dass wir heute wissen, dass wir bald keine Zeitzeugen mehr befragen und hören können?

Das spielt sicherlich eine große Rolle, weil die Weitergabe des Geschehenen immer mittelbarer wird, weil nur noch wenige da sind, die erzählen können. In den ersten Jahren des Krieges gab es ja eine „Mein-Vater-schweigt-darüber“-Haltung und eine Befangenheit der Kinder, zu fragen und eine Befangenheit der Eltern, zu antworten. Das führt dann zu so merkwürdigen Dingen wie dem Vorhalt an den neuen Papst, er sei als Kind in der Hitlerjugend gewesen.

Es gibt beim Gedenken an den 8. Mai eine Brücke über ein Vierteljahrhundert hinweg. Gustav Heinemann, der Ihnen persönlich besonders nahe steht, hat am 8. Mai 1970 gesagt, es ginge nun vor allem darum, die Aufgabe der Aussöhnung nach Osten zu einem guten Ende zu bringen. Roman Herzog hat 25 Jahre später, am 8. Mai 1995 gesagt, es sei jetzt die Aufgabe, die europäische Zone von Freiheit und Wohlstand immer größer werden zu lassen. Ist das auch eine Botschaft des 8. Mai?

Ganz gewiss, aber dem war vorausgegangen die Aussöhnung mit dem Westen. Heinemann war der erste Bundespräsident, der einen Staatsbesuch in den Niederlanden machen konnte. Das war weder Heuss noch Lübke möglich. Holland gehörte damals zu den Ländern, die eine ganz besondere Sensibilität hatten. Ich erinnere mich an meine ersten Ferien in den Niederlanden – in jedem Zimmer hing eine Erinnerung an den 8. Mai, an den Tag der Befreiung. Das kam mir damals merkwürdig vor, ich war 20 Jahre alt, und ich selber habe und hatte an den 8. Mai ja keine besondere Erinnerung…

…danach wollten wir Sie auch fragen…

…wir lebten ja in Wuppertal, die Amerikaner kamen am 15. April, mein Vater war noch im Februar verwundet worden und lag in einem Lazarett in Wuppertal, also für uns war am 15. April Kriegsende. Die Tage danach waren Friedenstage, wenn auch merkwürdige. Für mich war der 8. Mai am 15. April.

1985–1995–2005. Sagen und bewegen. Was möchten Sie den Deutschen sagen, das sie jetzt bewegen sollen?

Ich möchte ihnen erst einmal sagen, dass sie das Staunen nicht verlernen sollen. Wenn Sie bedenken, dass wir heute von Freunden umzingelt sind, die sich zu dieser Art von Europa bekennen wollen; und wenn wir uns daran erinnern, dass wir, die Deutschen, mal so getan haben, als wären wir die Glücklichmacher, als würden wir mit der Landgewinnung im Osten etwas Großes für Deutschland tun, dann finde ich, ist das Staunen erst einmal das Wichtigste.

Und dann?

Das zweite ist, dass wir nach meiner Überzeugung unseren europäischen Partnern gegenüber natürlich auch eine Bringschuld haben. Friede und Versöhnung sind die Basis auch für wirtschaftlichen und politischen Erfolg. Das gilt am Moment am stärksten auf dem Balkan und ist da am schwersten, denn der Konflikt dort ist längst noch nicht ausgestanden.

Sind wir undankbarer, als wir sein dürften?

Viele von uns sind verwöhnter und sehen zu wenig den steigenden Anteil derer, die sich in dieser Welt nicht zurechtfinden können und nicht das ihnen zugedachte in Empfang nehmen können. Die Armut, die Arbeitslosigkeit, das sind doch große Probleme.

Große Probleme nach dem 8. Mai – gibt es die Gefahr der Wiederkehr nationalistischer Politik?

Nicht stärker als in allen anderen Ländern Europas. Aber es gibt für uns den Zwang zu mehr Sensibilität als in den anderen Ländern, weil wir die einzigen sind, die aus eigener Erfahrung wissen, wohin es führt, wenn man nicht sensibel auf Rechts- und Linksradikalismus reagiert.

Vor dem Hintergrund der großen gesellschaftlichen Probleme, die wir jetzt haben, die man ja historisch nennen kann – wie definieren Sie heute den Satz, den Sie zu Beginn Ihrer Amtszeit gesagt haben, der den Begriff geprägt hat: Nie Nationalist, immer Patriot? Wie definieren Sie heute Patriotismus?

Ich bin nach wie vor der Meinung, dass dieser Satz richtig ist und gilt. Im Wesentlichen bedeutet er ja, einen klaren Blick und keine Scheuklappen zu haben. Der ständige Blick auf das Ranking in allen möglichen Bereichen bringt wenig, nicht das Nachahmen und Nachäffen anderer, auch kultureller Wege. Ich finde, wir sollten unseren Weg gehen, und zwar ohne auf die anderen herabzublicken.

Wie finden wir diesen, unseren Weg?

Durch eine stärkere Teilnahme. Ich möchte da grundsätzlicher antworten. Was mich bedrückt, ist der Mangel an Wahlbeteiligung auf allen Ebenen. Ich sorge mich sehr, dass sich die Politik immer mehr aus der Regierung und dem Parlament in die Talkshows verlagert, dass sich die von Habermas so genannte „Unübersichtlichkeit“ von Tag zu Tag potenziert. Da herauszukommen, vor allem der Inflation der Worte zu widerstehen, das scheint mir besonders wichtig.

Reden Sie darüber mit denen, die im Moment diese Worte prägen?

Aber ja…

…und was bekommen Sie von denen zurück?

Nachdenklichkeit. Aber ich führe diese Gespräche ja nicht, damit ich jemand vorführe und ihm sage: Nun nimm mal Stellung. Sondern ich sage und bitte, dass man meine Gedanken mitnimmt und darüber spricht. Das gilt für alle politischen Kräfte.

Haben Sie den Eindruck, dass Ihre Empfehlungen aufgenommen werden?

Ich kann mich über mangelnde Zuhörbereitschaft und mangelndes Mitdenken nicht beklagen. Aber ich bin natürlich nicht mit allem, was geschieht, vor allem nicht mit der Hektik, zufrieden.

Wir haben ja die einmalige Situation, dass sich vier ehemalige Bundespräsidenten nach wie vor großer geistiger Spannkraft erfreuen. Treffen Sie sich regelmäßig, gibt es einen „Rat der Weisen“?

Es gibt immer wieder Begegnungen und persönliche Gespräche, aber nicht von allen Vieren.

Können Sie sich eine Situation vorstellen, wo sich vier ehemalige Staatsoberhäupter in Sorge um Deutschland, also zum Beispiel jetzt, gemeinsam zu Worte melden?

Nein, das kann ich mir nicht vorstellen.

Warum nicht?

Weil die vier zu unterschiedlich sind, auch ihr jeweiliger Weg nach der Amtszeit.

Wissen Sie selber denn schon, wie Sie es zum Beispiel mit der SPD, ihrer alten Partei, halten wollen?

Ich will jedenfalls nicht aus der Überparteilichkeit des Amtes zurück in den Parteienhader. Ich werde meine Verbundenheit natürlich bekunden, aber das kann man auch, indem man zur Arbeiterwohlfahrt oder anderen Organisationen geht und dort spricht und diskutiert.

Das heißt, Sie möchten sich auch nicht zu Heuschrecken und anderen Tieren äußern?

Nein. Es gibt immer wieder Phasen, in denen sich solche Vergleiche anbieten oder aufdrängen. Ich neige nicht dazu, das zu kultivieren.

Wie sehen Sie denn das Zusammenwirken, die Wechselwirkung zwischen Wirtschaft und Gesellschaft? Sie kamen ja selber auf das Thema Arbeitslosigkeit zu sprechen.

Mein Eindruck ist, dass die Diskussion zu sehr bestimmt wird von Verbandsfunktionären und von international wirkenden Konzernen. Und zu wenig zu Worte kommt der sich selbst ausbeutende kleine Unternehmer, der Mittelständler, der Gewinn und Arbeitsplätze schafft.

Also lasst uns differenzieren, was Wirtschaft heute ist. Wenn jetzt eine Rede zu halten wäre, worüber würden Sie reden?

(lacht) Ich habe ja extra nur eine Wahlperiode gemacht, damit ich diese Rede nicht halten muss. Ganz im Ernst – es gibt viele Menschen, die mir sagen: Ihre Stimme fehlt uns im Moment. Aber ich habe nicht die perfekte Antwort. Ich kann nicht sagen, jetzt bin ich gesund, jetzt kommt die Rede, alles wird gut. Aber ich würde Missstände geißeln, die es gibt, die es immer gegeben hat, die jetzt aber wirkungsmächtiger sind.

Sie haben ja schon in Ihrer Zeit als nordrhein-westfälischer Ministerpräsident immer auf die Notwendigkeit des sozialen Ausgleichs hingewiesen. Der rheinische Kapitalismus, mit dem Deutschland groß wurde, beachtete diesen Ausgleich. Aber er funktioniert heute nicht mehr. Warum?

Wegen der Globalisierung. Er ist zu kleinräumig geworden. Aber er müsste dringend gestärkt werden.

Das heißt, wir sollten uns von den Chancen der Konsensrepublik nicht verabschieden?

Keinesfalls. Keinesfalls.

Aber großräumiger denken? Partner suchen für einen europäischen Konsens?

Auch einen über-europäischen. Wir können doch gar nicht ohne die Amerikaner. Aber wir dürfen nicht zulassen, dass die amerikanischen Modelle einfach übertragen werden auf die deutsche und europäische Wirklichkeit.

Das heißt, Arbeit hat nicht Vorfahrt vor allem anderen?

Kampf gegen Arbeitslosigkeit hat Vorfahrt. Der andere Satz ist mir noch nicht differenziert genug.

Was müsste sich am rheinischen Kapitalismus auch im Hinblick auf berechtigte Interessen des Kapitals ändern?

Wir müssten mehr Unternehmerpersönlichkeiten entwickeln und fördern, die selber haften, keine angestellten Manager. Die innere Stärkung der mittelständischen Unternehmen, die scheint mir das wichtigste. Da stimme ich auch mit der Opposition überein.

Kann man sagen, die mittelständische Industrie ist das Rückgrat unserer Demokratie?

Wenn schon die Mittelständische Wirtschaft, nicht nur die Industrie. Aber soweit würde ich nicht gehen, aber ich würde schon sagen: Unsere Demokratie hat sich auch deshalb bewährt, weil es steigenden Wohlstand gab. Und wenn jetzt eine Phase der Umverteilung gekommen ist und des geringer werdenden Wohlstands für alle, mit durchaus differenzierten Abschlägen, dann verliert Umfragen zufolge die Demokratie an Zustimmungsfähigkeit. Das halte ich für gefährlich.

Wir reden ja, ohne dass wir diesen Begriff explizit verwendet hätten, die ganze Zeit auch über Werte. Welche Werte kommen im Moment zu kurz?

Barmherzigkeit – das ist ein Wert, der im Moment zu kurz kommt.

Wenn Sie einen Wunsch frei hätten für Deutschland zum 8. Mai – was wäre das?

Was ich am Anfang gesagt habe: Das Staunen nicht zu verlernen, den Kopf nicht hängen zu lassen, die Bereitschaft, bei allem anzupacken. Es ist viel zu tun, viel Gestrüpp zu entfernen.

Und sich selbst zu bescheiden?

Ja, auch sich selbst zu bescheiden – aber nicht in dem Sinne, dass immer der eine zum anderen sagt: Du musst dich selbst bescheiden.

Mit Johannes Rau sprachen Ingrid Müller, Gerd Appenzeller und Stephan-Andreas Casdorff.

Das Foto machte Kai-Uwe Heinrich.

VERSÖHNER

Es gibt lebenslange Grundkonstanten in der politischen Arbeit von Johannes Rau. Der Dialog der Religionen, die Aussöhnung mit Israel, die deutsche Einheit gehören dazu. „Versöhnen statt spalten“ war auch das Motto seiner (gescheiterten) Kanzlerkandidatur 1987.

BILDUNGSPOLITIKER

Johannes Rau kommt aus einfachen Verhältnissen, er lernte den Beruf eines Verlagsbuchhändlers. Seit er 1967 Vorsitzender der SPD-Fraktion im nordrhein-westfälischen Landtag wurde, gehört die Bildungspolitik zu seinen Lebensaufgaben. Seit er 1970 Wissenschaftsminister wurde, kümmerte er sich besonders um Hochschulgründungen in NRW.Er initiierte die fünf Gesamthochschulen des Landes. Von 1978 bis 1998 war er Ministerpräsident von NRW.

PARTEITAKTIKER

Johannes Rau ist ein Mensch mit klaren Wertevorstellungen. Dazu gehört auch seine Verwurzelung in der SPD. Ab 1968 gehörte er dem Parteivorstand an, ab 1978 dem Präsidium. 1987 war er Kanzlerkandidat der Sozialdemokratischen Partei.

CHRIST

Schon als Gymnasiast engagierte er sich in der Bekennenden Kirche und in Bibelkreisen. Ab 1954 war er Geschäftsführer eines theologischen Verlages. Seit 1965 war Rau berufenes Mitglied der Synode und gehörte der Leitung der evangelischen Kirche des Rheinlandes an. Als Lebensmotto wählte er „Ich halte stand, weil ich gehalten werde“.

STAATSOBERHAUPT

Nach Gustav Heinemann war Johannes Rau der zweite sozialdemokratische Bundespräsident, von 1999 bis 2004.

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