Selbstbestimmungsgesetz: „Mami, kann ich später auch mal eine Frau werden?“

Der Bundestag diskutiert am Montag über das Selbstbestimmungsgesetz. Ein Interview mit den Eltern eines trans Mädchens.
- Der Entwurf der Grünen zum Selbstbestimmungsgesetz wird nächste Woche im Bundestag diskutiert.
- Die CDU hat einen umstrittenen Experten geladen.
- Die Eltern eines trans Mädchens fordern von Bundeskanzlerin Angela Merkel ein Umdenken.
Frankfurt - Am kommenden Montag ist im Bundestag eine Anhörung zum Selbstbestimmungsgesetz geplant. Die CDU hat einen Experten geladen, der allerdings sehr umstritten ist – nicht nur unter Eltern, deren Kinder trans sind, sondern auch unter Ärztinnen und Ärzten.
Die Eltern eines heute zwölfjährigen trans Mädchens haben sich daher mit einem Offenen Brief an Kanzlerin Angela Merkel (CDU) gewandt. Die Frankfurter Rundschau hat mit den Eltern, die anonym bleiben wollen, gesprochen. Ihr Kind nennen sie hier Paula, es heißt in Wirklichkeit anders. Die Corona-Pandemie hat die gesellschaftliche Diskussion über Transgeschlechtlichkeit um Jahre zurückgeworfen.
Am 2. November findet im Bundestag eine öffentliche Anhörung zum Selbstbestimmungsgesetz statt. Es soll das Transsexuellengesetz ablösen. Wieso ist das nötig?
Paulas Vater: Das Transsexuellengesetz gilt in Deutschland seit dem 1. Januar 1981. Damals war es ein modernes Gesetz, das trans Personen erstmals die Möglichkeit zu einer Änderung des Vornamens und des Geschlechtseintrags eröffnete. Inzwischen gab es gegen das Gesetz mehrere erfolgreiche Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht.
Selbstbestimmungsgesetz: Eltern eines trans Kindes appellieren an Kanzlerin Angela Merkel
Worum ging es da jeweils?
Paulas Vater: So wurde zum Beispiel der Zwang zur vorherigen Durchführung einer geschlechts-angleichenden Operation und zur Auflösung einer bestehenden Ehe aufgehoben. Weiterhin ist es aber obligatorisch, die Geschlechtszugehörigkeit durch zwei psychiatrisch-psychologische Gutachten nachzuweisen – das ist ein äußerst belastendes, langwieriges und kostenträchtiges Verfahren für die Betroffenen und entspricht schon lange nicht mehr dem Stand der Wissenschaft. Wir haben das Verfahren mit unserer Tochter durchlaufen. Sie hat sehr darunter gelitten, wie lange es gedauert hat, bis zum Beispiel ihre Schulzeugnisse endlich auf ihren richtigen Namen ausgestellt werden konnten. Es waren insgesamt 15 Monate von der Antragstellung bis zum Gerichtsbeschluss, und das Verfahren hat uns gute 1500 Euro gekostet.
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Selbstbestimmungsgesetz im Bundestag: „Wir wünschen uns ein freies Leben für unsere Tochter“
Sie haben einen Offenen Brief an Kanzlerin Merkel geschrieben. Warum?
Paulas Mutter: Wir wissen aus unserer eigenen Geschichte, dass das Thema mit vielen Vorurteilen und Stereotypen besetzt ist. Für uns war unsere Tochter der Grund, uns viel Wissen dazu anzueignen, und wir haben dabei sehr viel Neues gelernt. Das, was wir durch Paula gelernt haben, ist für uns gleichzeitig ein Auftrag, unser Wissen weiterzugeben und dafür zu sorgen, dass mehr Menschen verstehen, worum es geht. Nämlich um Menschen, die so leben wollen, wie es ihnen gemäß ist. Dabei werden ihnen Hürden in den Weg gelegt, die längst ohne Sinn und Zweck sind.
Ist Kanzlerin Merkel die richtige Ansprechpartnerin? Sie pflegt eher ein konservatives Familienbild – siehe Abstimmung bei Ehe für alle.
Paulas Mutter: Wir halten die Bundeskanzlerin dennoch für eine empathische, nach Fakten entscheidende Person, die dazu bereit ist, dazuzulernen, und zwar sowohl im wissenschaftlichen als auch im menschlichen Sinne. Wir repräsentieren mit unserer Geschichte viele andere Familien, die mit ihren Kindern Ähnliches erlebt haben; viele Eltern, die sich erst intensiv weiterbilden mussten, um in der Lage zu sein, ihre Kinder aus tiefstem Herzen zu unterstützen.
Debatte zum Selbstbestimmungsgesetz: Eltern von trans Kind fordern Umdenken von Merkel
Dieses Wissen ist noch zu schwer zugänglich. Wir wollen generell dazu beitragen, dass die Gesellschaft besser darüber informiert ist, was es damit auf sich hat, wenn Kinder, Jugendliche oder Erwachsene zum Ausdruck bringen, dass die Geschlechtszuordnung, die ihnen von außen widerfahren ist, nicht passt. Dazu gehört auch, im politischen Kontext für Aufklärung und Sichtbarkeit zu sorgen, soweit wir das mit dem Wohl unseres Kindes vereinbaren können.
Wann haben Sie gewusst, dass Paula ein trans Mädchen ist?
Paulas Vater: Rückblickend hat Paula uns das signalisiert, seit sie in der Lage war, sich zu artikulieren. Das war für uns teilweise kaum zu begreifen – schon im Krabbelalter wollte sie die rosa Schnuller und die glitzernden Schuhe der Tochter einer Freundin für sich beanspruchen. Mit etwa drei Jahren sprach sie von sich in der weiblichen Form, sagte beispielsweise zu einem anderen Kind: „Hör auf mich zu ärgern, sonst bin ich nicht mehr deine Freundin.“ Zu meiner Frau sagte Paula auch Dinge wie: „Mami, kann ich später auch mal eine Frau werden?“ – solche konkreten Nachfragen kamen bei mir weniger an, weshalb es mir auch schwerer fiel, nachzuvollziehen, was in Paula vorgeht. Als in der Vorschulzeit der Druck, sich eindeutig zu einem binären Geschlecht zuzuordnen, immer größer wurde, habe auch ich wahrgenommen, wie sehr Paula leidet. Das hat dazu geführt, dass wir unserem Kind im letzten Kitajahr freigestellt haben, als Paula zu leben, und diese Möglichkeit hat sie genutzt. Paula ist jetzt zwölf Jahre alt und lebt inzwischen schon fast die Hälfte ihres Lebens als das Mädchen, das sie von Anfang an war.
Selbstbestimmungsgesetz: CDU lädt umstrittenen Experten - Eltern eines trans Mädchens „bestürzt“
Die CDU hat den Kinderarzt Alexander Korte als Vortragenden geladen. Was ist an seiner Person so problematisch?
Paulas Mutter: Wir sind bestürzt darüber, dass die CDU/CSU-Fraktion Alexander Korte als ärztlichen Experten zur Anhörung berufen hat. Dr. Korte verfolgt einen extremen Behandlungsansatz, ist beispielsweise komplett gegen den Einsatz von pubertätsblockierenden Medikamenten und lobbyiert massiv für die Beibehaltung der Begutachtungspflicht, die längst nicht mehr dem Stand der Wissenschaft entspricht. Wir glauben, dass nicht alle Abgeordneten der CDU/CSU-Fraktion wissen, dass dies eine Extremposition ist, und Dr. Korte hier keinesfalls eine Mehrheitsmeinung der Ärzt:innenschaft repräsentiert. Das liegt spätestens seit der Anhörung im Deutschen Ethikrat im Februar 2020 auf der Hand – dort hat neben anderen Expert:innen auch Dr. Korte gesprochen. Er wurde bei dieser Veranstaltung sowohl von endokrinologischen als auch von psychiatrischen Kolleg:innen auf die Probleme in seiner Argumentationslinie angesprochen. Der Weg, den unsere Tochter nun geht, beispielsweise mit einer sehr frühen sozialen Transition, die aus unserer Sicht nur Vorteile hat, wäre ihr als Patientin von Dr. Korte verstellt geblieben. Er hätte uns dazu geraten, Paula zu ignorieren, wenn sie ein Kleidchen tragen möchte oder mit Puppen spielt, und sie dafür zu loben, wenn sie Baustelle spielt oder sich ein Fußballtrikot wünscht.
Ärzt:innen haben sich in einem Offenen Brief an den „Spiegel“ gegen Kortes Therapiemethoden ausgesprochen. Streitpunkt ist die pubertätsunterdrückende Hormonbehandlung, die Korte kritisch sieht. Wie stehen Sie zu diesem Thema?
Paulas Vater: Es gibt Kinder, für die ist eine solche Behandlung schlicht und ergreifend lebensrettend. Diesen Weg kategorisch auszuschließen, das empfinde ich als unmenschlich. Wie in unserem Brief geschrieben – wir schließen uns hier voll und ganz der Position des Ethikrats an: Ein Vorenthalten von pubertätsblockierenden Medikamenten muss in jedem Einzelfall genauso fundiert begründet werden wie die Gabe dieser Mittel. Kinder zu zwingen, eine falsche Pubertät zu durchleben, empfinde ich als psychische Grausamkeit. Ich möchte mir nicht vorstellen, was es für Paula bedeuten würde, in den nächsten Jahren mit Bartwuchs, Stimmbruch und anderen praktisch irreversiblen körperlichen Veränderungen klarkommen zu müssen.
Eltern eines trans Kindes: „Es geht wohl darum, die vorliegenden Gesetzesinitiativen im Keim zu ersticken“
Was glauben Sie, warum die CDU Korte eingeladen hat?
Paulas Vater: Wir gehen davon aus, dass in der CDU/CSU-Fraktion nur ein sehr kleiner Personenkreis wirklich mit dem Thema befasst ist. Offenbar sind hier die Menschen besonders aktiv, für die ein selbstbestimmtes Leben und eine vollständige gesellschaftliche Teilhabe von trans Personen nicht im Fokus steht. Sie stehen im Austausch mit Dr. Korte und werden möglicherweise auch über ihn einseitig informiert. In jedem Fall geht es wohl darum, die vorliegenden Gesetzesinitiativen im Keim zu ersticken. Wir sind aber überzeugt, dass es auch in der CDU/CSU-Fraktion empathische und aufgeklärte Personen gibt, die in ihrer Haltung wesentlich weiter sind. Uns hat zum Beispiel die klare, unterstützende Haltung von Ilse Aigner beim Outing von Tessa Ganserer im Bayrischen Landtag in dieser Hinsicht viel Hoffnung gemacht.
Was wünschen Sie sich für Paulas Zukunft und all die anderen trans Kinder?
Paulas Mutter: Wir wünschen uns nicht nur für die Kinder, sondern für alle trans, inter und nichtbinären Personen, dass sie ein freies, selbstbestimmtes und glückliches Leben führen können. Ohne Schikanen, denn dieser Weg ist auch ohne die teilweise demütigenden Begutachtungsprozeduren im Rahmen des Transsexuellengesetz-Verfahrens steinig. Wenn wir uns aber als Gesellschaft wirklich dazu bekennen, diese Menschen zu inkludieren und zu akzeptieren, ist der größte aller Steine aus dem Weg geräumt.
Paulas Vater: Wir wünschen uns ein freies, selbstbestimmtes Leben für unsere Tochter und alle anderen trans Kinder. Sie sollen wachsen, lernen und gedeihen, und nicht nur überleben in einer Gesellschaft, in der sie sich als Außenseiter und unverstanden fühlen. (Interview: Katja Thorwarth)
Offener Brief an Kanzlerin Merkel
26. Oktober 2020
Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin Dr. Merkel,
am 2. November findet im Bundestag eine öffentliche Anhörung zum Selbstbestimmungsgesetz statt. Wir sind Eltern eines zwölfjährigen trans Mädchens, deshalb ist diese Anhörung für uns von enormer Wichtigkeit, und wir sind in Sorge. Wir sind in großer Sorge, auch wenn unsere Tochter ihre Vornamens- und Personenstandsänderung bereits gerichtlich erwirken konnte und inzwischen auch ihre Schulzeugnisse – in diesem Alter wohl die wichtigste amtliche Angelegenheit – auf ihren korrekten Namen erhält.
Unsere Tochter ist ein trans Mädchen. Das heißt, dass wir sie nach ihrer Geburt fälschlicherweise für einen Jungen hielten, während sie bereits in ihren ersten Lebensjahren konsistent und nachhaltig mitgeteilt hat, dass diese Zuordnung für sie so falsch ist, dass sie mit ihr nicht leben kann. Es hat lange gedauert und viel Auseinandersetzung gebraucht, bis wir das wirklich verstanden haben. Unserer Tochter geht es heute gut. Aber sie hat aus dieser Zeit, in der sie sich unverstanden und oft beschämt gefühlt hat, seelische Verletzungen zurückbehalten, die sie leider bis heute in manchen Dingen beeinträchtigen.
Durch unser Kind ist uns klar geworden, wie notwendig es ist, dass alle Menschen von Anfang an vollkommene Akzeptanz für ihr eigenes Geschlechtsempfinden erfahren – nicht nur diejenigen, bei denen sich das eigene Empfinden mit der Zuordnung deckt, die sie von außen erfahren haben. Diese Notwendigkeit bezieht sich nicht nur auf den engsten Familienkreis, sondern auf alle Lebensbereiche, beispielsweise auch auf pädagogische, medizinische und rechtliche Kontexte. Ein Kind, das in seinem innersten Empfinden, in seinem ureigensten Sein immer wieder in Frage gestellt wird, kann sich weniger gut entwickeln, weniger gut lernen, weniger gut wachsen, als ein Kind, das sich mit seiner ganzen Persönlichkeit angenommen fühlt.
Aus diesem Grund sind wir sehr besorgt darüber, dass die CDU/CSU Fraktion Herrn Dr. Alexander Korte von der LMU München als Experten in diese öffentliche Anhörung berufen hat. Dr. Korte verfolgt im Hinblick auf Kinder wie unseres einen Behandlungsansatz, der von unserer zwölfjährigen Tochter, die seit ihrem siebten Lebensjahr überall in ihrem Umfeld als Mädchen akzeptiert ist, verlangen würde, in den nächsten Jahren eine Pubertät unter Einfluss von Testosteron zu durchleben. Das würde für sie irreversible körperliche Veränderungen mit sich bringen wie Stimmbruch, Bartwuchs, breite Schultern. Später, nach Abschluss der Pubertät könnte sie versuchen, diese Spuren mit ungewissem Erfolg und unter vielen Schmerzen und Kosten zu tilgen. Bis dahin müsste sie sie ertragen.
Wir plädieren keinesfalls dafür, leichtfertig Entscheidungen über pubertätsblockierende oder geschlechtsangleichende Maßnahmen zu treffen. Aber wir schließen uns klar der Einschätzung des Deutschen Ethikrats in seiner Ad-Hoc-Stellungnahme vom 21. Februar diesen Jahres an:
Nutzen und Schaden der medizinisch-therapeutischen Maßnahmen, die im Einzelnen umstritten sind, müssen in jedem individuellen Fall sorgfältig abgewogen werden. Wie die Risiken, (Neben-)Wirkungen und langfristigen Folgen (einschließlich möglicher Infertilität), die dem/der Minderjährigen durch aktives medizinisch-therapeutisches Eingreifen entstünden, müssen auch solche berücksichtigt werden, die durch das Unterlassen von Maßnahmen drohen. Gerade angesichts der Streitigkeit einzelner Handlungsoptionen haben Betroffene und ihre Eltern einen Anspruch auf eine ausgewogene Beratung und Aufklärung.
Diese Stellungnahme ist das Ergebnis einer öffentlichen Veranstaltung des Deutschen Ethikrates in der Reihe „Forum Bioethik“ am 19. Februar 2020 in Berlin. Auch bei dieser Veranstaltung war Herr Dr. Korte als Experte geladen und hatte Gelegenheit, seine Argumente und Erkenntnisse vorzubringen. Es wurde allerdings im Laufe der Veranstaltung deutlich, dass er mit seinen Einschätzungen sowohl von anderen ärztlichen Kolleg_innen aus den Fachrichtungen Psychiatrie und Endokrinologie als auch von betroffenen Eltern und ehemaligen trans Kindern erheblichen Widerspruch erzeugte. All das lässt sich in der Dokumentation der Veranstaltung des Ethikrats sehr gut nachvollziehen. Herr Dr. Korte nimmt also in seinem Fachgebiet eine ausgesprochene Extremposition ein.
Dass die CDU/CSU sich diese Extremposition zu eigen macht und Herrn Dr. Korte im Bundestag die Gelegenheit gibt, seine Argumente ausführlich darzulegen, erschüttert uns. Die rechtliche Situation von trans, inter und nicht-binären Personen muss in Deutschland unbedingt verbessert werden. Hierzu waren wir im Übrigen auch schon mit einigen Ihrer Parteikolleg_innen in Kontakt, und wir wissen, dass auch in der CDU/CSU Menschen zu finden sind, die dem Schutzbedarf von Menschen wie unserer Tochter gerecht werden wollen.
Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin Dr. Merkel, wir bitten Sie von Herzen, Ihren Einfluss innerhalb der Partei und der CDU/CSU-Fraktion geltend zu machen, um für trans, inter und nicht-binäre Personen ein gesundes, glückliches Aufwachsen, vollständige Chancengleichheit und eine gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe wahr werden zu lassen.
Wenn Sie sich selbst ein genaueres Bild über die Situation von trans Kindern verschaffen wollen – lernen Sie unsere Tochter und uns kennen. Wir berichten Ihnen gerne von unseren persönlichen Erfahrungen und von den vielen Familien, die wir auf unserem Weg getroffen haben, und mit denen wir den Wunsch teilen, unsere Kinder glücklich und selbstbewusst aufwachsen zu sehen.
Mit freundlichen Grüßen
Mutter und Vater von Paula, 12 Jahre alt